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1
â– 3^
ZEITSCHBJFT
FÃœK
ETHNOtOaiE
Organ der Berliner Gesellschaft »
für
Anthropologie, ^ Ethnologie and Urgeschichte.
RedactioDs - Commission: *
A. Bastian, R. Hartmann, R. Virchow, A. Voss.
A
Zwanzigster Band.
1888.
Mit tO Tafeln.
BERUH.
f
Verlag von A. Asher & Co.
1888.
• •
Inhalt.
Seite
Seier, T>r. E., Der Charakter der aztekischen und der Maya-Haadschriften. (Mit 876
linkographischen AbbildungeD) . . . . ^ 1, 41
Qaedenfeldt, M., Eintheilang und Yerbreitnog der BerberbovölkemDg in Marokko.
(Mit Tafel I und VI) .-> 98, 146, 184
Heierli, J, Ursprung der Stadt Zürich. (Mit Tafelll— V) 138
Bartels, Dr. Max, Culturelle und Rassenunterschiede in Bezug auf die Wund-
krankheiten 169
Friedrichs, Karl, Zur Matriarchatsfrage 211
Schwartz, Dr. W., Die rossgestaltigen Himmels&rzte bei Indem und Griechen . . 221
Boas, Dr. F., Die Tsimschian 281
Besprechungen:
W. Osborne, Das Beil und seine typischen Formen in vorhistorischer Zeit, S. 39. —
Alb. Herrn Post, Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz. Afrika-
nische Jurisprudenz, S. 40. — Internationales Archiv für Ethnographie, redigirt von
Schmeltz, S. 181. — Oscar Baumann, Fernando Poo und die Bube, S. 132. —
Joachim Graf Pfeil, Vorschläge zur praktischen Kolonisation in Ost -Afrika, S. 133. —
Emil Schmidt, Die ältesten Spuren des Menschen in Nordamerika, S. 134. — Rasmus
B. Anderson, Die erste Entdeckung von Amerika, übersetzt von M.Mann, S. 134.
— Jakob Heierli, Pfahlbauten, Neunter Bericht, S. 135. — Baron Wilh. v. Landau,
Travels in Asia, Australia und America, S. 136. — Edw. M. Curr, The Australian
Bace, S. 161. — Pitt Rivers, Excavations in Cranbome Chase, Vol. L, S. 162. —
A.Lis8auer, Die prähistorischen Denkmäler der Provinz Westpreussen und der an-
grenienden Gebiete, S. 163. — J. G. Fräser, Totemism, S. 164. — G. Neumayer,
Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen, S. 165. — Otto Keller,
Thiere des klassischen Alterthums in culturgeschichtlicher Beziehung, S. 165. —
Ernest Chantre, Recherches anthropologiques dans le Caucase, S. 166. — Grimm,
Die Pharaonen in Ostafrika, 8.217. — Henry O'Shea, La maison basque, S 218.
~ Axel 0. Heikel, Ethnographische Forschungen auf dem Gebiete der finnischen
Völkerschaften, 8. 218. — China, Imperial maritime customs, 32 and 33 Issue, S. 220.
— Hugo Kleist und Alb. Frhr. v. Schrenck v. Notzing, Tunis und seine Um-
gebung, 8.220. — Friedr. Ratzel, Völkerkunde, Bd. III. Kulturvölker der Alten
und Neuen Welt, S. 248. — Moritz Aisberg, Anthropologie mit Berücksichtigung
der Urgeschichte des Menschen allgemein fasslich dargestellt, S. 249. — J. W. Po well,
Third annnal report of tiie Bureau of Ethnology 1881 - 1882, Fourth report 1882 — 1883,
8. 2&0. - Grempler, Der IL und III. Fund von Sackrau, S. 252. — Falb, Die
Aades- Sprachen in ihrem Zusammenhange mit dem semitischen Sprachst amme, 8.2.^8^
289380
IV
— Naborre Campanini, Storia documcntalc del Museo di Lazzaro Spallanzani,
8.255. — L. Pi^orini e P. I^trobel, Gaetano Ohierici e la Paletnologia italiaDa.
Memoria prcceduta dalla vita narrata da N. Campanini, S. 255. — Gustav Brühl,
Die Cnlturvölker Alt-Amerika's, S. 255.
Druckfehler -Verzeichniss zu: E. Seier, Der Charakter der aztekischen und der Maya-
Handschriften (Zeitschrift S. 1—66), S. 256.
Verhandlungen der Berliner Qtsellschaft für Xnthropologi«, Ethnologie und Urgeschichte
mit besonderer Paginirung.
Ein chronologisches Inhalts -VerzAchniss der Sitzungen, sowie ein alphabetisches Namens-
und Sach-Regi^er befindet sich am Schlüsse der Verhandlungen.
Verzeichniss der Taieln,
-# -
Tafel I. Karte zur Eintheilung und Verbreitung der BerBi^r- Bevölkerung in Marocco
(Zdtschr. f. Ethnol. XX. S. 98).
1, II — y. Karte der prähistorischen Funde und Abbildungen der betreifenden Alter-
tb&mer in der Stadt Zürich (Ebendas. S. 188).
n VI. Ethnographische Gegenstände aus Marocco (Ebendas. 8. 184).
VII. Fig. 1. Bemaltes Wassergefäss aus Thon vom oberen Surinam (Verhandl.
der anthrop. Ges. S. 405). — Fig. 2—6. Bronzeschwert aus einem Hügel-
grabe im FHttreTier Havemark bei Genthin und Grundrisse mehrerer
Gräber daselbst (Ebend. S. 431\
„ VIII. Prähistorische und ethnographisch« Gegenstände aus Venezuela (Ebend.
8. 467).
„ IX — X. Grabfunde ans einer altslaTischen Nekropole bei Sobrusan, Nordböhmen
(Edend. 8. 490).
Verzeichniss der Zinkographien und Holzschnitte
im Text.
(H. = Holzschnitt)
Zeitschrift für Ethnologie, 1888.
ßeite 2—95. 876 Abbildungen nach aztekischen und Maya- Handschriften.
^ 121. Waffen and Doppelhorn der Kif- Berber in Marocco.
Yeihandlimgeii der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologe
und Urgeschichte, 1888.
Seite 18. Jadeit -Idol Ton S.Felipe, an der Grenze Ton Honduras und Guatemala.
^ 49. Fnnde vom Umenfelde auf dem Galgenberge bei Friedrichsane, Aschersleben,
namentlich Deckelornen.
« 52— 54. La Tene-Fund ypn Schmetzdorf, Kr. Jerichow 11, Prov. Brandenburg.
^ 54. Eiienfmid Ton Rampitz, Kr. West-Stemberg.
IV
Seite 55. Kartenskizze des Gräberfeldes von Gleinau, Schlesien.
„ 57. Urnen und Knopfnadel aus Bronze von ebendaher.
„ 63. Spiralfingerring aus Bronze von da.
„ 65. Bronzenadeln und Ring von da.
„ 66. Thongeräthe von da.
„ 67. H. Bronzering von Giessmannsdorf (Kiederlausitz).
„ 95. Situationsskizzen der Ruinen von Xochicalco, Mexico.
„ %. Grundriss der ersten Terrasse von da.
„ 96 — 106. Skulpturen von da.
„ 106. Skulpturstück von t^atzin bei Xochicalco.
„ 107. Steinbild von der Loma de la Malinche bei Xochicalco.
„ 108—109. Hieroglyphisch^ Figuren von Mexico.
„ 111. Gesichtsbecher aus Thon von dem Mirador von Miacatlan und Embleme der
Orte Miacatlan und Cuatetelco.
„ 119. Steingeräthe aus einem Depotfunde bei Bagemühl, Kr. Prenzlau.
„ 128. Eiserner Gürt«lhaken von Giessmannsdorf, Niederlausitz.
„ 141. H. Bronzefibel mit farbigen Einlagen von Schwabsburg, Rheinhessen.
„ 151—153. Urnen und Brochen von Gleinau, Kr. Wohlan.
f, 158. Thongefässe von Kl.-Ausker bei Wohlau.
„ 158 — 154. Stücke eines Bronze fundes in einem Bronzeeimer von Kreuz au der
Ostbahn. *
„ 154. Steinaxt von Ober-Sannitz, Kr. Goldberg- Uaynau, Schlesien.
„ 157. Moderne Gesichtsumen aus dem Bayerischen National -Museum.
^ 158—159. Bronze- und Steingeräthe, namentlich Pfeilspitzen aw der Umgebung
von Oranienburg, Prov. Brandenburg.
„ 172. Kerbholz aus Siebenbürgen.
„ 178. Situationsplan des Burgwalls von Schiwialken, Kr. Pr.-Stargardt^ Westpr.
„ 180. Pferdegebiss aus Hirschhorn und Knochen aus dem Pfahlbau von Corcelettes,
Neuenburger See.
„ 181. Eiserner Schlüssel aus einem äjptischen Grabe der Zeit Ramses II.
„ 187. H. Schweineschädel.
„ 199. U. Doppelknöpfe aus Eberzähnen von Mellentin, Neumark.
„ 206 — 207. Megalithische Gräber von Gretesch und Hekese im Osnabrückschen.
„ 210. Gemuschelte Feuersteingeräthe aus einem ägyptischen Grabe von Gebelen, dem
alten Krokodilopolis.
„ 211. Augen einer ägyptischen Holzmaske, mit schwarzer Schminke verziert.
„ 212. Auge des Kolosses von Ramses II. bei Mitrahinne, Memphis, und Schminkbüchsc
nebst Pistill von Theben.
„ 215—216. Wetzmarken an der Tempelwand von Kamak.
„ 217. Ankeraxt aus Diorit von der Serra do Herval, Brasilien.
„ 222 — 228. Schädel des Bos primigenius.
„ 225. Bearbeiteter Metatarsalknochen desselben Thieres.
„ 244. Grundriss eines japanischen Hauses.
,. 247. Gekrümmte Bronzenadeln von der Kulpa, Krain.
„ 248. Gemmen vom Alsent3rpas von Holwerd, Friesland, und Spannum im Westergoo.
^ 254 — 255. Grabfunde von Droskau, Kr. Sorau, Niederlausitz.
^ 257. Kartenskizzen des Zomkowisko bei Gostomie, Kr. Carthaus, Westpr.
„ 262-268. Kartenskizzen des Schlossberges von Spengawsken am Zduny-See, Westpr.
„ 264. Urnen aus Steinkistengräbem von Blumberg an der Randow.
„ 265. Urnen und Bronzen aus einem Steinkistengrabe von Boeck bei Nassenheido,
Vorpommern.
„ 267. Schwirrholx von Neu -Guinea mit Thierzeichnongen.
„ 274. H. Knopf aus Eberzahn von Mellenthin, Neumark.
M 279 — ^282. Geräthe zum Diebesorakal in Java.
„ 284. Speerspitze aus Feuerstein von Qr.- Gastrose, kr. Guben, nebst GefUssrest
vn
S«it« 2H5. Lanzanspitzen aus Feaerstein von Rückersdorf, Kr. Lnckau, und von Neuzolle,
Kr. Guben, sowie bronzener Flachcelt von Gr. - Gasfrose.
., 286. Eisenfnnde in Hügelgräbern von Homo, Kr. Guben, und mittelalterliches Gefäss
von Magdeburg.
• 291. Kartenskizzen der Schwedenschanze bei Stocksniühle, Kr. Marienwerder.
• 292. Baoemhaus aus dem Kr. Deutsch - Krone.
M 296. Pferdekopf und Storchschnabel als Giebelverzierung in Westprcussen.
^ 901. Altes Haus von Lüschcrz (Locras) am Bieler See mit Speicher.
., 802—804. Grundrisse von älteren Häusern in Hom, Lippe -Detmold.
. 807. H. Alsengemme aus Enger, Reg.-Bez. Minden.
., 811. Grabfeben am Extemsteine, Westfalen.
« 814. Thürbalken mit der Jahreszahl 184G von Marpach, Gem. Heimenschwand, C'anton
Bern.
^ 817. Importirte Feuersteinknollen aus schweizerischen Pfahlbaustationen.
., 819. Verzierte Knochenscheiben aus alte«^ Gräbern von Caldera, Chile.
., 822. Gesichtsume von Strzepcz, Kr. Neustadt, Westpr., nebst Einzeichnung (In-
schrift?).
« 328. Spitxmützen-Ume von ebenda.
., 824. Kartenskizzen des Schlossberges von Neustadt, Westpr.
• 826. Slavische ümenscherben Von da.
., 827. Geschiebestein mit Einschnitten aus der Nähe des Schlossberges.
^ 827—828. Kartenskizzen des Burgwalls von Neustadt.
p 829. Skizzen des Gisdepka- Burgberges bei Kl.-Schlatau, Kr. Neustadt, und des
scheinbaren Burgwalls von Pelzan.
., 881. H. Stein mit eingemeisselten Zeichen in der Nähe des Schlossberges bei
Neustadt.
• 382. H. Yorchristliche rechtwinklige Kreuzzeichen.
• 884. Hufeisen und Hammer im Moor von Marienbad, Böhmen.
y, 839. Metallmörser aus dem Moor von Lnbtow bei Pyritz, Pommern.
n 342. Bearbeiteter Homkem des Bos primigenius aus dem Moor von Barnow, Hinter-
pommem.
„ 848. Knochenharpune von ebendaher.
., 8^ Eselshnfe (Dufr el homär) aus dem Wadi Ssaniir, Aegypten.
^ 355. Fenerstein- Artefakte von Helwan bei Cairo.
, 856. DesgL aus dem Wadi Tarfeh, Arabische Wüste.
« 867. DesgL ans dem Fayum, jenseits des Birket-el-Qurnn.
„ 859—861. DesgL vom Gebel Assas, W. von Luqsor.
« 862. Aegyptischer Behaustein (Schlagstein) aus Homstein.
^ 863—364. Aegyptische Reibsteine.
9 865. Aegyptischer Klopfstein.
^ 868—869. Aegyptische Morpholithen.
^ 878. Freiwillig gesprungene Feuersteine aus Aegypten.
. 384—885. Thonscherben von Bohon gegenüber von Wadi Haifa, Nubien.
. 386. Thonscherben mit Wellenlinien von El Kab.
., 388—890. Funde von Thon und Glas von Medinet-madi (Dionysias?) im Fayum.
^ 891. Moderner Hirtenstab (Scepter) von Epidanros, Peloponnes.
, 408. Deformirter Schädel vom Baksan, Nordkaukasus.
, 420. Silberne Büchse zu Augensalbe von Madras.
., 486. Fände der römischen Zeit von Liebesitz, Kr. Guben.
, 487. Fände von Starzeddel, Kr. Guben.
., 440 441. Perlen ans Eberzahn.
. 446. Bmstachmuck ans Eberzahn aus einem Steinzeitgrabe von Plan, Meklenburg.
• 455—458. Alterthfimer der Huaxteca, Mexico.
« 470— 47S. Schädel eines Ponka, eines Peruaners (Pachacamac) , eines Skelets von
Bhmiberg und einer Mumie von Hawara.
vm
Seite 473. Alter Wetterzeij^er ans Oberbayern.
- 474. Almenschlösser aus Oberbayem und Kbrnstanipfen aus der Priej^iitz.
^ 479—480. Bronzebeigaben aus einem Grabe bei Scbönau, Böhmen.
., 494—495. Kartenskizzen dos Burgwalls von St. Johann, Kr. Pr. Stargardt, Westpr.
., 499. Burgwall von Owidz-Gut, in demselben Kreise.
« 503—504. Westpreussische Bnrgwälle im Kr. Putzig u. s w.
« 558. Pfeilspitzen aus Feuerstein vom Höhbeck a. Elbe.
- 558. Portal des Doms von Havelberg.
., 560. Gemme von Havelberg. *
- 563. Goldene und bronzene Armringe von Bagemühl, Kr. Prenzlau.
.. 565. Syenithammer und Thonscherben von Adersleben, Kr. Oschersleben.
n 566. Bronzespiralring von Zauchel, Kr. Sorau, Niederlausitz.
^ 567. Hirschhomhammer von Salzkotten, Kr. Friedeberg, Neumark.
„ 568. Mittelalterliche Thonscherben von Biberteich, Kr. West-St^rnberg, und von
Guben. *
„ 583. Bronzen aus Gräbern von Radewege, Brandenburg a. Havel.
^ 584. Thongefässe aus Gräbern von Kadewege und Butzow.
., 589—590. Bronzeschale nebst Depot aus dem Moor von Murchin bei Anclam.
„ 591. Bronzemesser aus demselben Moor.
., 592. Grabfund von Südende -Lankwitz bei Berlin.
^ 594. Kappe und Hui der Kru- Neger.
., 597. Situationsskizze des Gräberfeldes von Dassendorf im Sachsenwalde.
- 597 — 600. Grabumen von da.
I.
Der Charakter der aztekischen und der Maya-
Handschriften.
Vorgetragen in der Sitzung vom 16. Juli 1887 der Berliner Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte
von
Dr. E. SELER
in Berlin. »
Die Art und Weise, wie in mexikanischen Handschriften einem Gedanken
Ausdruck gegeben wird, hat man in neuerer Zeit fticht unpassend einem
Rebus verglichen. In der That, die Bilder, mit welchen im Codex Men-
doza die Namen von Personen und Orten wiedergegeben werden, sind
Rebus im eigentlichen Sinne, Wortrebus oder Silbenrebus. Für die
einzelnen Worte oder Silben, aus denen der Name des Orts oder der Person
besteht, treten die Bilder von Gegenständen gleicher Benennung oder gleichen
Klanges ein, unter Nichtberücksichtigung, bezw. absichtlicher Hin tenansetzung
der Vorstellung, welche das betreflPende Wort oder die betreflPende Silbe
repräsentirt. Ich führe als Beispiele die Ortsnamen Quauhtikan, Quauh-
nahnac, Tollantzinco, Xilotepec, Tepeyacac und Texcoco (Figur
1 — 6) an. Die beiden ersten Namen bedeuten „am Walde" und sind
zusammengesetzt aus den Silben quauh (Wurzel des Wortes quahuitl,
^Baum", „Wald") und aus den Postpositionen tlan und nahuac, die beide
„in, an«, bei" bedeuten. Dem entsprechend zeigen die Bilder uns auch einen
Baum. Aber die Silbe tlan ist ausgedrückt durch zwei Zahnreihen, denn
tlan-tli heisst der „Zahn". Und die Silbe nahuac ist ausgedrückt durch
eine Mundöilhung mit dem Züngelchen davor, das allgemein als Zeichen
der Rede fungirt; denn nahuatl heisst „die deutliche Rede". Tollan-
tzinco bedeutet „Klein -Tollan", und Tollan selbst bedeutet „Ort, wo
Binsen wachsen". Demgemäss zeigt uns das Bild (Fig. 3) ein Bündel
Binsen, aber die Endung tzinco, „klein", ist durch den Hintern eines
Menschen ausgedrückt, denn tzintli heisst „der Hintere". Xilotepec
heisst „Ort des jungen Maiskolbens" und ist entsprechend ausgedrückt
durch eine (mit grüner Farbe gemalte) Figur, die überall als Zeichen des
Berges (tepetl) fungirt, und durch zwei junge Maiskolben (xilotl) mit den
grossen heraushängenden Narbenbüscheln. Tepeyacac heisst „an dem
Bergvorspnmg" oder „an der Bergspitze", zusammengesetzt aus dem Worte
Zctodirift Ar Bthaolofi«. Jahrf. ltU)8. 1
2 E. Sei.EB;
tepetl „Berg" und yacatli „Naa«", mi<i ist ilem unUprechciKl darKestellt
durch das Zuichen des Berges (griln gemalt) mit einer (bniiiii gemHile»)
Nase daran. Texcoco heisst: „wo die Felseiiblumi« (toxiotl) wtiflist".
Das Bild zeigt uiia eiiieu in drei Spitzen getlieilteii und mit der doppelten
Farbe des Steine gemalten Berg und darauf zwei Blanien. Die Silbe c.
CO, welche „in, an" bedeutet, ist in <ler ganzen Reihe nicht ausgedrückt.
Sie versteht sich von selbst, da der Leser der Handschrift aus dem ganzen
Bilde ersieht, dass es sich um Ortsnamen handelt.
Unter den Begriff des Rebus fällt in gewisser Weise auch die Art,
wie die alten Mexikaner ihre (iötter mit Symbolen und Attributen aus-
etafBrten und umgaben. Ks lieisst das religiöse Denken und Fühlen dieser
alten Öötzeiianbeter doch zu gering anschlagen, wenn die spanischen
Eroberer und die mönchischen Ajiostel annahmen, dass die göttliche Macht,
die unter diesem oder jenem Namen verehrt wurde, auch in der scheutts-
lichen oder bizarren Form gedacht wurde, in welcher der Gott in Stein gehauen
oder in den Handschriften dargestellt wurde. Im Oegentheil: (iesiclits-
bildung. Bemalung, Schmuck, Waffen, Geräthe, die dem tiott gegeben oder
die neben ihm angebracht wurden, — sind alles nur Mittel, um den Gott
zu Charakter isi reu, um in der unbehülflichen Weise einer symbolischen
Schrift die Eigenschaften und die besondere Natur des Gottes zum Aus-
druck zu bringen. Ks ist dlis. wie gesagt, in gewisser Weise auch ein
Rebus, aber kein Wortrebus mehr, sondern ein Gedankenrebus.
Was nun die ganzen Handschriften und die Darstellungen der Monu-
mente angebt, so muss ich, im Gegensatz zu einer jüngst ausgesjirochenen
Ansicht, entschieden behaupten, dass die S]>rache derselben, wenigstens in
ihrer Ãœberwiegenden Mehrheit, entschieden unter den letzteren BegrilT.
den des Gedankenrebus, fällt. Wenn wir auf den ersten Blättern des
Cod. Mendoza eine Anzahl von Jahren mit ihren Zeichen angegeben finden,
daneben das Bild eines Königs mit seiner Namensbieroglyphe. und ihm
Der Charakter der asstekischen und der Maya-HandschrifWu. 3
«^oj^iMiilhor dl« Hieroglyphen einer Anzahl von 8ta<lten und Ortschaften, und
vor jeder da« Bild des brennend<'n Tempels, das Symbol der Unterwerfung
od«»r Zi»rstörunj»:, so lasst sich dies kaum mehr in einen sprachlichen Satz
zusammenbringen. Ks ist Sprache in Bihlern und Symbolen, ein (leihinken-
rebus, bc<leutcnd, dass der König di«»8<»s Namens so und so lange regierte
und die und die Städte unterwarf. Noch deutlicher tragen den Charakter
di»s (ledankenrebus die hinteren Blatter des Codex Mendoza, wo wir neben
«leii IIierogly])hen der Städte die» Zahl und den Charakter der von ihnen
zu leistenden Tribute in deutlichen Bild«»rn oder verständlichen Symbolen
angegi'ben finden. Und ebenso die anderen. Die einzelnen Hieroglyphen (Orts-
und Personennamen) repräscMitiren eine Art von Silbenschrift in Bildern, —
vielleicht, in manchen Handschriften (Codex Viennensis und die verwandten),
auch ilie einzelnen Symbole, — aber der Gesammtinhalt erhebt sich nicht
über den Charakter einer bildlichen und symbolischen Darstellung; zu-
sammenhängende Sätze shid in der oben erläuterten Weise nicht geschrieben
worden.
Hinsichtlich der Maya- Handschriften hat ValBNTINI schon im Jahre
1880 die Ansicht ausgesproidien, dass das hieroglyphische Alphabet, welches
in dem Geschichtswerk des Bischofs LaNDA überliefert ist, spanisches Mach-
werk sei. Thatsache ist, dass die Versuche, mit Hülfe dieses Alphabets
die Maya -Handschriften zu entziflTern, vollständig missglückt sind. Einen
audeni Weg hat Professor CYRUS THOMAS und in neuerer Zeit Dr. SCHELLHAS
eingeschlagen, nehmlich den <ie8 unabhängigen Studiums der Handschriften
selbst, und der Letztere hat als seine Ansicht ausgesprocluMi, flass die
Maya-Schrift imPrincip ideographisch sei und sich nur zur Vervollständigung
der ideographischen Hierogly])henbilder vielleicht einer Anzahl feststehender
phonetischer Zeichen bediene. Auch ich habe «lie Ueberzeugung gewonnen
und sie in einem früheren Vortrage ausgesprochen, dass die Maya-Hiero-
glyjdien wesentlich ideographischer Natur sind. Wie wir indes eben an
«len aztekischen Handschriften gesehcm haben, V(»rträgt sich eine im All-
gemeinen ideographische Schreibweise sehr wohl mit phonetischer Con-
stitution der einzelnen Hieroglyphen, und es wäre zuvör<lerst noch erst zu
prüfen, was man in dieser Beziehung von den Maya -Hieroglyphen zu
urtheilen hat.
Hier möchte ich nun. ohne im I^rincip zu negiren. dass phonetisch
constituirto Hieroglyphen möglich sind und auch vorkommen. - ich würde
solche zu allererst auf den Steininschriften suchen, wo v(»rmuthlich Namen
von Personen und Ortschaften eine gewissi» RoUe spielen werden. — doch
als meine Ansicht ausspn'chen, dass in den üblichen Hieroglyphen der
Handschriften phonetische Elemente fehlen und nur sporadisch vertreten sind.
Es liegt das gewissermaassen in der Natur der Sache. Da in der
Maya-Sprache die meisten Dingwörter Monosyllaba sind oder durch eine
beschrankt«» kleine Zahl von Suffixen von Monosyllabis sich ableiten, so
1*
4 E. Seleb:
boten för die schriftliche Unterscheidung die in einem Worte enthaltenen
Vorstellungselemente entschieden mehr passende und leichter zu verwerthende
Mittel, als sie der Klang der Worte darbieten konnte.
Wir kennen eine Anzahl von Hieroglyphen, deren Lautwerth mit Sicher-
heit festgestellt gelten darf, und bei denen wir auch über die Bedeutung der
Worte im Allgemeinen nicht im Unklaren sind. Das sind die von LANDA uns
überlieferten Hieroglyphen der Monatsnamen. Hier zeigt sich nun, dass
einsilbige Worte durch, aus mehreren Elementen bestehende Hieroglyphen,
mehrsilbige durch einheitliche Zeichen wiedergegeben sind. Die drei
Monate yax, zac, ceh werden durch die Hieroglyphen Fig. 7, 8, 9 aus-
gedrückt. Der untere Theil der Hieroglyphe ist in allen drei derselbe und iden-
tisch mit dem Tageszeichen cauac. Der obere Theil der ersten Hiero-
glyphe kommt auch in der Hieroglyphe des Monatsnamens yaxkin
(Fig. 10, 11) vor, und da der untere Theil dieser Hieroglyphe, wie es
scheint, kin, „den Tag" oder „die Sonne", bezeichnet, so möchte man
schliessen, dass das Element Fig. 12 in der That mit yax übersetzt werden
mu8s, ein Wort, welches „grün" oder „blau", aber auch „das erste, ursprüng-
liche" bedeutet. Die oberen Theile der beiden anderen Hieroglyphen
kehren in einer Reihe von vier Elementen (Fig. V6 — 16) wieder, welche
(wie schon SCHELLHAS erkannte) mit den vier Himmelsrichtungen, die durch
die Hieroglyphen Fig. 18 — 21 bezeichnet werden, in der Weise zusammen-
geordnet sind, dass sie den wechselnden Bestandtheil sonst gleichartiger
Hieroglyphen bilden, welche in der Begleitung der genannten Hieroglyphen
der vier Himmelsrichtungen auftreten, während das Element, welches ich
eben als vermuthlich den Lautwerth yax habend bezeichnet habe, in ganz
gleicher Weise einer fünften Himmelsrichtung entspricht, die auf den
einander ergänzenden Tafeln des Cod. Tro 36 und des Cod. Cortez 22 in der
Reihe der Hieroglyphen der Himmelsrichtungen zu sehen ist und die
Oestalt der Figur 17 hat. Da diejenigen Gegenstände, welche mit einer
der vier Haupthimmelsrichtungen in Verbindung gebracht wurden, von den
Maya durch eine bestimmte Farbe ausgezeichnet wurden, — und zwar der-
gestalt, dass den, durch die Tageszeichen ix, muluc, kan, cauac bezeich-
neten Himmelsrichtungen, die allgemein mit den Himmelsrichtungen chikin
Westen, xaman Norden, lakin Osten, nohol Süden identificirt werden,
die Farben zac „weiss", chac „roth", kan „gelb", ek „schwarz" ent-
sprechen — , so liegt die Vermuthung nahe, dass die Elemente Fig. 13 — 16
eben diese vier Farben bezeichnen. Da weiter von diesen vier Elementen
die Fig. 14 in der Hieroglyphe des Monatsnamens zac „weiss", die Fig. 13
in der des Monatsnamens ceh „Hirsch", d. i. des rothen Thieres, ausser-
dem Fig. 13 als auszeichnendes Merkmal in der Hieroglyphe einer Göttin
vorkommt (Fig. 28), einer Begleiterin des Chac, die im Codex Dresden
67 a und 74 mit roth er Farbe und mit Tigertatzen dargestellt wird,
so liegt die weitere Vermuthung nahe, dass eben das Element Fig. 14 den
D«i Chtnktor der utekisclieii nnd der Uaya-Hutdachrifteti. 5
Lautwerth xac „weiss", das Element Fig. 13 den Laatwerth chac „roth"
und dem entsprechend die Figg. 16 und 15 bezw. du» Laatwerth kan „gelb"
und ek „schwarz" haben. Dann wflrde aber weiter folgen, daas die Hiero-
ttlyphen Fig. 18 — 21, von denen man, nach der gaozon Art ihres Vor-
kommeus, mit Bestimmtheit annehmen kann, dasa sie die Tier Haupt-
himmelsrichtungen bezeichnen, über deren Identificirung im Einzelnen aber
man noch immer im Unklaren ist, — DE ROSNV (Vocab. hierat.) liest
18-21 Osten, Norden, Westen, Sflden; CYKÃœS THOMAS (Shedy Manuacr.
Troano) und nach ihm FÃœBSTEMANN und SCHELLHAS, bezw. Westen,
«/^ «ß27) 'ii^ '',
Norden, Osten.Sflden; C^TtÃœS THOMAS(Thinl Ann.ReportBureau of Ethnology
p. 61): Westen, Süden, Osten, Norden — in Wirklichkeit ganz anders, nehmlich
Fig. 18 mit xaman „Norden". Fig. 19 mit chikin „Westen", Fig. 20 mit
nohol „8Qden" und Fig. 21 mit lakin „Osten" gleichgesetzt werden
müssen. Die fünfte Himmelsrichtung Fig. 17, von der im Cod. Cortcz 22
die Varianten Fig. 22, 23 vorkommen, bezeichnet dann ohne Zweifel die
Senkrechte, die Bewegung von oben nach unten oder von unten nach oben.
Ihr ist, wie au» Codes Tro 30— 31d und 14bc hervorgeht, entsprecliend
da« Element Fig. 12 coordinirt. welchem wir den Lautwerth yax. d. \\.
die Farbe „grün" oder „blau" zuschreiben. — die Farbe des Himmel!« unil
de» Himmolsbaumes, des yaxche oder der Ceiha (Bombax Ceiba).
6 E. Selkr:
In den besprochenen Fällen haben wir also, wie es scheint hioro-
glyphische Elemente mit bestimmtem Lautwerth, und in der Figur 10, 11
sogar eine phonetisch constituirte Hieroglyphe vor uns. Daraus folgt aber
keineswegs, dass die genannten Elemente nur in dieser phonetischen Be-
deutung gebraucht werden können, noch weniger, dass, wo hiemach durch
den Wortlaut eine phonetische Constitution indicirt erschiene, eine solche
auch nothwendig eintreten muss. Im Allgemeinen stehen in der Schrift
die Vorstellungselemente durchaus an erster Stelle. Und selbst, wo pho-
netische Constitution nahe zu liegen scheint, sehen wir dieselbe in der
Regel vermieden. So folgt in der Reihe der Monatsnamen hinter dem
yaxkin (der grünen oder ersten Sonne) sechs Monat später der kau k in
(die gelbe oder reife Sonne). In der Hieroglyphe dieses Namens ist aber
weder das Element kan ^gelb"*, noch das Element kin „Sonne" enthalten,
sondern zwei andere (Fig. 24, 25), von denen das eine, das Hauptelement,
bloss noch in der Hieroglyphe des Hundes (Cod. Dresden 7a, 13c, 21b)
vorkommt.
Das Gleiche ergiebt sich aus der Betrachtung der Hierogly|)hen, mit
welchen in den Handschriften die dargestellten göttlichen oder mythischen
Personen bezeichnet sind. In der weitaus überwiegenden Mehrzahl der
Fälle zeigen diesidben den Kopf der betreffenden Figur, nur in der Regel
versehen mit einem oder dem anderen auszeichnenden Merkmal, das a])er
an keiner Stelle eine Beziehung auf eine bestimmte Namensform vermuthen
lässt. So zeigt die Hierogly))h(» des Tigers (Fig. 26) den Kopf des Tigers
und davor das Element chak „roth", — vernmthlich, weil der Tiger als
der rothe gedacht ist als welcher er auch im Cod. Dresden 47 rec^hts unten
abgebildet ist. Die Hieroglyphe des Vogels im Cod. Dresden 8 a (3) (Fig. 27)
zeigt denselben kahlen Vogelkopf der Figur, mit einer Art Schleife auf
dem Schnabelfirst, die aiu»h der Kopf der Figur zeigt. Die oben erwähnte,
in der Gesellschaft des Regengottes erscheinende, Wasser aus einem Kruge
ausgiessende, rothgemalte und mit Tigerkrallen versehene alte Göttin ist
hieroglyphisch (vergl. Fig. 28) durch den Kopf einer alten Frau ausg(»drückt,
mit dem mehrfach erwähnten auszeichnenden Merkmal Fig 13, wcdchem
wir oben den Lautwerth chak „roth" beilegten. Die Hieroglyphen (Muer
anderen, im Codex Tro ebenfalls als Greisin, in der Dn»sd(»ner Handschrift,
wie es scheint. jug(Midlicher dargestellten Göttin (Fig. 2U) zeigt einen
ähnlichen Frauenkopf mul davor als auszeichnendes Merkmal das Element
Fig. 14, dem wir oben den Ijautwerth zak ^ weiss" beilegten. Ein schwarzer
Gott, dem meiner Ansicht nach der Name Ekchuah beizulegen ist, weil
er im Codex Tro mit einem Skorpionschwanz gezeichnet ist und (»kchuh
im Maya der grosse schwarze Skorpion heisst, — ist hieroglyphisch durch
denselben prägnanten Ko]>f des Gottes mit dem Zeichen imix davor
(Fig. 30) bezeichnet. Ekchuah ist der Gott der Cacaopflanzer, der Kauf-
leute und Reisenden un<l, nach dem Priester ITERN.\NI)RZ, der IhMÜgc»
I>er Charakter der aztekischen und der Maya-Hand8chrift«ii. 7
(leint, «lor die Enlo mit dem anfilllte, was sie uöthig hatte, -^ d. h. der
(lott des Wac'hsthums, iles Gedeihens, des Heichthums; und im ix ist, wie
ieh unten erweis(Mi werde, ghdch seinem mexikanischen Aequiyalente
cipaetli, das Symbol der Fruchtbarkeit. Den (Jott mit dem kan-Zeiehen,
«1er als Assistent des Liclit- und Ilimmelsguttes Itzamnä erseheint und
dessen Hi«»r«)j;Iy|)he (Fig. 31) das juji:en<lIiohe üesicht dieses Gottes und
daver das Symbol «h's Wassers zeigt, un<l den Gott mit dem Brandstreifen
über dem (i«»sicht, dessen Hieroglyphe (Fig. 32) vor dem Kopf des Gottes
anseheinend die Zahl 11 zeigt, habe ich schon in meinem früheren Vor-
trage erwähnt. Icli kann diesen auch den eigenthümlichen Gott anreihen,
d(»ssen Gesichtszüge wie von d(»n Windungen einer Schlange gebildet er-
scheinen, und der in gewisser Weise dvw Assistenten des Regengottes Chac
bildet. Auch ilie Hieroglyphe dieses Gottes (Fig. 33) zeigt den Kopf des
Gottes und davor als auszeichnendes Merkmal eine Figur, wie ein aus-
gerissenes Auge. — Es ist, soweit ich augenblicklich die Sache zu über-
sehen im Stande bin, durchaus nicht immer mOglich, festzustellen, worin
denn die Natur «lieses auszeichnenden Merkmals besteht, welches in der
Hieroglyphe dem Kopf des Gottes beigegeben i*it. Dass es aber im
Wesentlichen auf Vorstellungselemente, auf Eigenschaften und Beziehungen
des Gottes zurückgeht, das unterliegt, meine ich, nach dem Angeführten
keinem Zweifel.
Für die wesentlich ideographische Natur der Maya-Hieroglyphen spricht
fenier die Ven*'endung gewisser gleichartiger Hieroglyphen zum Ausdruck
sehr verschiedener Verhältnisse. So giebt es eine Hieroglyphe, auf die wir
später noch zu sprechen kommen werden (Fig. 34 — 3ö), deren constituirende
Elemente von einer Matte und dem, aus der Figur einer stützenden Hand
hervorgegangenen Bilde eines Trägers gebildet werden, die aber einerseits
(Cod. Tro 20*, 19*c) das in einer Rückentrage Tragen, bezw. Getragen-
werden, andererseits (Cod. Tro 22*, 21* d) das Sitzen auf einer Matte,
endlich noch (Cod. Tro l(>*a, 5*b) einen Tempel mit seinem, aus einer
Matte oder aus Rohrgeflecht bestehendem Dach zur Anschauung bringt.
Auf den Blättern 65 — 69 b der Dresdener Handschrift wird eine
Reihe von Hieroglyphen, welche Namen und Attribute des Regengottes
Chac geben, jedesmal eingeleitet durch die Hieroglyphe Fig. 37. Und
ebenso wenlen auf dem unteren Drittel der Blätter 29 — 41 derselben
Handschrift die verwandten Hieroglyphengruppen, welche dort die Reihe der
Chac-Darstellungen begleiten, jedesmal (»ingeleitet durch eine Hieroglyphe,
die, in den secundären Elementen variirend, die Gestalt der Figuren 38 — 43
zeigt Endlich wird im Codex Perez 2 — 3 und 6—7 eine der eben er-
wähnten ähnliche Reihe von Darstellungen, — in welchen nur statt des
Chac der auch sonst als Seitenspiel des letzteren auftretende Gott mit
dem, aus den Windmigen einer Schlange gebildeten Gesicht (vgl. die Hiero-
glyphe Fig. 33) eine Rolle spielt, — jedesmal eingeleitet durch die Hiero-
8
E. Seler:
glyphe Fig. 44. Das Hauptelement dieser Hierogljrpheii stellt ohne Zweifel
eine geschlossene Faust dar. Auf die secundären Elemente werde ich
gleich noch zu sprechen kommen. Es sind theils Synonyme des Mannes,
theils solche des Vogels. Durch die Faust könnte das Packen, Greifen
zur Anschauung gebracht sein, und die ganze Hieroglyphe demgemäss
den Fänger, Krieger, Jäger bedeuten. Das scheint auch aus den Anfangs-
darstellungen des sogenannten Jagdkalenders des Codex Tro (18 — 19a)
r 1^^
hervorzugehn, wo die Darstellungen des Jägers, der mit Spiess und Wurf-
brett zur Jagd auszieht oder das Wild gebunden auf dem Rücken heim-
bringt, von Hieroglyphengruppen begleitet sind, die am Kopf die Hiero-
glyphe Fig. 45 zeigen, — eine den vorigen (z. B. der Figur 39) vollkommen
homolog constituirte Hieroglyphe. Aber gleiche, homolog constituirte
Hieroglyphen (Fig. 48 — 50) sehen wir auch im Cod. Tro 26 — 29* c verv^'endet,
wo, wie 08 scheint, Eroberung imd Krieg dargestellt ist durch die Figur
des Todesgottes und seines Assistenten, des Gottes mit dem Brandstreifen,
die mit dem Speer und der brennenden Fackel dem (durch Steinunterlage,
Der Charakter der astekischen and der Maja- Handschriften. 9
Sftulo oder Wand mit Verbindungsstück und Mattendach bezeichneten)
Tempel nahen. Endlich sehen wir im Cod. Tro 17 c die ganz gleiche Hiero-
glyphe Fig. 47 verwendet, um die Kasteiung mittels Durchziehens Yon
Rohr durch die durchlöcherte blutende Zunge zu bezeichnen, — ein Vor-
gang, der an einer weit entfernten Stelle, Codex Tro 17*b, durch die das-
selbe Haupteleraent aber allerdings ein anderes secundäres Element ent-
haltende Hieroglyphe Figur 46 gekonnzeichnet ist. — Solche Vorkommnisse
lassen sich yereinigen, wenn man annimmt, wie ich es aussprach, dass die
Maya-Hierogl3rphen zu Lettern abbreviirte Bilder sind. In einem Bilde
haben verschiedene Vorstellungen Kaum. Das Wort, das fertige Wort
wenigstens, hat seine eng begrenzte Sphäre.
Noch eindringlicher spricht für das Vorherrschen des ideographischen
Elements die ungemeine Fülle von Varianten. Es kommt direkte Ersetzung
einer Hieroglyphe durch eine andere, ganz anders geartete vor. Ein
schönes Beispiel dafür liefern die Bezeichnungen des Monats Moan auf
den Blättern 46 — 50 der Dresdener Handschrift. Hier finden wir einmal
die Figuren 51, 52, welche den Kopf dieses mythischen Vogels zeigen, so
wie er z. B. an der vollen Figur im Cod. Dresden 10 a (Fig. 53) zu sehen ist,
— nur verbunden mit einem Element, welches wir schon in der Hieroglyphe
der Himmelsrichtung von oben nach unten oder von unten nach oben
vorfanden (^ig. 17, 22, 23). Das andere Mal finden wir dafür die Hiero-
glyphe Fig. 54, deren Elemente — jedes einzelne, wie es scheint — nichts
anderes bedeuten, als den Vogel oder den sich Bewegenden, Fliegenden.
Noch häufiger ist die Variation secundärer Elemente in homologen Reihen
sonst gleichartiger Hieroglyphen. Ich habe schon in meinem vorigen Vor-
trage hervorgehoben, dass ganz allgemein die Elemente Fig. 55, Fig. 56,
und Fig. 57 — 51) synonym auftreten. Es erklärte sich uns das sehr ein-
fach dadurch, dass Fig. 55 — eine Abbreviatur der Fig. 60 — und Fig. 56
Symbole des Mannes sind, und dass auch die beiden Augen (Fig. 57 — 59) als
Symbole des Mannes gebraucht werden. Ich wies dort nach, dass die
beiden Elemente, Fig. 60 und die Figur 57, 58, für die Zahl 20 gebraucht
werden, weil 20 die Zahl der Finger und Zehen des Menschen ist. Ich
machte dort aber schon darauf aufmerksam, dass auch die Figuren 62 — 64
den vorigen (insbesondere der Figur 55 und 57) synonym gebraucht werden,
und ich kann diesen noch die Elemente Fig. 61, 65 und 65a hinzufügen.
Die Zeichnung, wie sie die Elemente Fig. 61, 62, 63, 65a darbieten, er-
scheint ganz gewöhnlich an dem Halse von Töpfen und Krügen, die
Gegend der Mündung markirend. Die Figur 64 scheint sich naturgemäss
als eine Zalmreihe zu geben. Die ganze Reihe dieser homologen und den
Ausdrücken für „Mann, Mensch** synonym gebrauchten Element«» scheint
denmach ursprünglich Mund, Schlund, Rachen zu bedeuten. Dafür spricht
auch, dass die Hieroglyphe einer Gottheit, der, wie ich meine, der Name
Uac mitun ahau zukommt, einmal (Codex Dresden 28) durch einen Kopf
10 E. Srler:
mit offenem Rachen dargestellt ist, das andere Mal (Codex Dresden 5 b)
durch einen Kopf, der statt des Mundes das Ehmient Figur 61 enthält.
Dafür spricht ferner, dass das Element Fig. 61 d(»m Element Fig. 23
synonym auftritt. Vergleiche z. B. di(^ in derselben Reihe (Codex Dresden
19 — 20b) homolog gebrauchten Hieroglyphen Fig. 77, 78. Das Element
Fig. 73 habe ich schon früher als Symbol des Messers erkannt, mid ich
habe damals schon auf die mexikanischen Darstellungen des Messers Ter-
wiesen, welche die Schärfe oder Schneide desselben dm*ch (»ine an seiner
Kante angebrachte Zalmreihe zum Ausdruck bringen. Den obigen Reihen
ist aber nun noch, wie z. B. der Vergleich der in derselben Reihe liomolog
gebrauchten Hieroglyphen Fig. 38 — 43 zeigt, eine weitere Reihe vonElementen,
welclie dem Ausdruck für „Mann, Mensch" gelegentlich synonym gebraucht
werden, beizugesellen, nehmlich die Reihe Fig. 66 — 72 und Fig. 74. Hier zeigt
die Figur 66 eine Zeichnung, die in ganz gleicher Weise auf dem Schnabel
eines merkwürdigen, im Cod. Dresden 6 — 7 b und mit menschlichem Lt»ibe im
Cod.Cortez20 — 21d abgebildeten Vogels wiederkehrt. Fig. 74 biklet denHaupt-
theil der Hieroglyphe, durch welche im Cod. Dresden 16 — 17 c, 17 — 18b und
Codex Tro 19 — 20 c die auf den Frauengestalten hockenden Vögel be-
zeichnet werden. Das Element tritt in den Attributen des Todesgottes
und verwandter Gestalten vollständig äquivalent dem Eulenkopf auf;
wir haben es eben in der Hieroglyi)he Fig. 54, einem Synonym des
mythischen Vogels moan, angetroffen. Auch die anderen Figuren der
Reihe dürften sich wohl am richtigsten als Kopf nnd Flügel oder Flügel-
paar eines Vogels deuten lassen. Wie wäre aber ein solches Vorstellungs-
element in Zusammenhang mit den Begriffen Mann und Mensch zu bringen?
Ich glaube, der Zusammenhang liegt in der Verbindung der Begriffe Vogel
und Gesicht, iles Sonnenvogels und des Sonnengesichts. Man vergleiche
die Figur über der Göttergt^stalt auf der Cedernholz})latte von Tikal. —
Wie dem auch sei, die Synonymität dieser verschiedenartigen Elemente
lässt sich nur durch ehie ideographische Constitution der Maya-
Hieroglyphen begreifen und ist meines Erachtens der stärkste und aus-
schlaggebende Beweis für die oben aufgestellte Theorie.
Aehnlich geartete Vorkommnisse lassen sich, bei einem sorgfiiltigen
Durchmustern der Handschriften, zu Dutzenden ausfindig machen. Sie
zeigen mis den Weg, auf welchem man versuchen muss, zu einem Ver-
ständniss der Maya-Handschriften vorzudringen.
Die Tageszeicheu der aztekischen und der Maya-Handschriften
und ihre Gottheiten.
„Wie in Europa**, sagt P. SAHAGüN in der Einleitung zu dem vierten
Buch seiner Historia de las cosas de la Nueva Espana, „di(» Astrologen
dem neugeborenen Kinde das Horoskop stellen, so gab es auch unter
den Eingeborenen Neuspaniens Leute, tonalpouhque genannt, welche
I)or Charakter dor aztokischen und der Mava-Handsrhrift4»n.
11
über Loben uii<l Tod und die Lebt»ns8ohicksalo der neugeborenen Kinder
AufsehluKH gaben". I)ies«»Iben grilndeten aber ihre WisHenschaft nicht auf
die Beobachtung der (Jestinie, sonih^rn «ie bedienten «ich zu ihren Vorher-
Hiigungen tdner Anzahl von 20 Zeichen, deren Krfindung Quetzah'oatl
zugt»Hchrieben wilrd«». Ihre Vorhersagungakunst war«» dah<*r keine ernst-
hafte Wissenschaft, sondern Lug und Trug und abt^rgh'lubisches Wesen,
gegi»n weh*he8 «lie Diener der Kirche <lie Pflicht hätten, mit aHen ihnen
zu (lebote stehenden Mittehi zu Fehh» zu ziehen.
Der Name tonalpouh<iue b«Mleutet ,,Sonnenzjlhh»r'', und die 20
Zeichten, die SaHACiUN nennt. sin<l die bi»kannten 20 Tageszeichen,
weh'he die Grundlage des aztekiachcMi Kalenders bilden. Der Ursprung
dieser Zeichen ist unbekannt, ihre Erfimhnig abt»r jedenfalls uralt, da sich
die Namen <lersen)en genau in der gh»ichen Weise, nur dialektisch variirt,
bei den, weit entfernt von der Hauptmasse dor Nation an dem grossen
Sflsswassersee von Nicaragua wohnenden, aztekisch redenden Nicaragua im
Gebrauch fanden, die ohne Zweifel schon lange Zeit von iliren Brüdern
getrennt lebten. Der tiebrauch dieser Zeichen war aber auch keine
Besonderheit der Nahua-Stamme. sondern in gleicher Weise auch den
Maya-8tämmen von (luatemala. Chiapas und Vucatan. den Mixteca und
Zapoteca, den Torasca von Michoacan, also den hauptsächlichshni Kultur-
nationen von CentralamtTika, bekannt.
Die üblichen mexikanischen Aufzählungen der 20 Zeichen beginnen
mit dem Zeichen cipactli. Dagegen zeigt die Liste der 20 Zeichen,
welche die Bewohner d(»s Dorfes Teoca in Nicaragua dem katechisirenden
FkANCIöCO de BOBADILLA als die Namen der (wottheiten nannten, die sie
an «len Anfangstagen ihrer Wochen verehrten, an erster Stelle das Zeichen
acatl. das in <ier üblichen Aufzählung den dreizehnten Platz einnimmt.
Ebenso beginnt die Liste der Tageszeichen, welche in der alten Relation
über die Landschaft Meztitlan — <»in kleiner, von aztekisch redenden
Leuten bewohnter Gebirgsdistrict an <len GnMizen der Iluaxtc^ca — gegeb<»n
ist, mit dem Zeichen acatl. Ich führe in dem Folgenden alle drei Listen
in der üblichen Reihenfolge auf.
(Mexico):
Nicaragua:
Meztitlan:
L
cipactli
cipat
tetechi hucauls
2.
ehecati
acat
ecatl
3.
calli
cali
calli
4.
cuetzpalin
quespal
ailotl
5.
coatl
coat
coatl
6.
miquiztli
misiste
tzontecomatl
7.
ma^-atl
macat
mazatl
8.
tochtli
tosti»
tochtli
9.
atl
at
atl
10.
itzcuintli
izquindi
izcnin
12
E. Seler:
(Mexico):
11. oQomatli
12. malinalli
13. acatl
14. ocelotl
1 5. quauhtli
16. cozcaquauhtli
17. oUiii
18. tec patl
19. quiahuitl
20. xochitl
Meztitlan:
o(;oma
itlan
acatl
ozelotl
cuixtli
teotl i tonal
nahüs oUi
tec patl
quisa hütl
ome xoch i tonal
Nicaragua:
oQomate
malinal
agat
oQelot
Gate
coscagoate
olin
tapecat
quiaüit
sochit
1. cipactli wird verschieden erklärt, bald als Schwertfisch (SaHAGÜN),
bald als Schlangenkopf (DURAN — „cabeza de sierpe, pues la pintan asf
y la etimologia del vocablo lo declara"). Der Codex Fuenleal nennt ihn
„un pexe grande, que es como Cayman". Fig. 80 (Codex Land), 81 (Cod.
Vat. A.) und 82 (Cod. Borgia 30) zeigt einige der hauptsächlichsten Formen.
Die Farbe ist grün oder schwarz, z. Th. mit anders gefärbten kreisrunden
Flecken. Auffallig ist das Fehlen des Unterkiefers. Mitunter sieht man
das Ungeheuer in den Handschriften auch in ganzer Figur dargestellt.
Dann zeigt es einen langgestreckten Reptilkörper, den Rückenfirst mit
Stacheln besetzt, vier Füsse mit Erallen und Eidechsenschwanz, dazu
mitunter Ohren. Vom Kopf ist auch hier gewöhnlich nur der Oberkiefer
gezeichnet. In andern Darstellungen sieht man ein Thier in Fischgestalt,
mit haifischartigem heterocerkem Schwanz.
Nach dem Codex Fuenleal wäre aus dem cipactli die Erde erschaffen.
Dem Zeichen präsidirt im Cod. Borgia i^O und im Cod. Vatican. B. 10 u. 76
der Gott Tonacatecutli, „der Herr unsers Fleisches", der mit dem
Ometecutli, „dem Herrn der Zeugung" identisch ist, und dessen Gattin
Tonacacihuatl, „die Herrin unsers Fleisches", in Tracht und Attributen
mit der Xosbiquetzal, der Göttin der blumigen Erde, übereinstinmit
Ohne Zweifel ist das Zeichen Symbol der Erde als des Sitzes der Frucht-
barkeit. Auch den Astrologen galt das Zeichen als glückyerheissendes
Symbol der Fruchtbarkeit. Die nach ihm benannten Tage sind glückliche
ersten Ranges, sie bringen Kindersegen und mehren Reichthum, Glück
und Macht.
Der Patron dieses Zeichens, Tonacatecutli, ist im Cod. Vatic. A
und Telleriano Remensis in rosiger Farbe (als Himmelsgott), reich ge-
kleidet, auf einem Bett von Maiskolben zu sehen. Und über ihm ist ein
copilli, eine Königskrone, zu sehen, mit Maiskolben gefüllt. Nach den
Interpreten trugen nur die drei Götter Tonacatecutli, Xiuhtecutli, der
Feuergott, und Mictlantecutli, der König der Unterwelt, eine Krone —
als Ausdruck des Wortes tecutli „Herr", oder als die Herrscher in den
drei Reichen Himmel, Erde und Hölle. In den anderen Handschriften ist ein
V., Chmkt„ te ..,*.,1„. „,„l ,w M.,..ll»a..l,ri(....
14 E. Seler:
in lichten (gelben) Farben gemalttT (lott zu sehen, zum Theil mit Attri-
buten Quetzalcoatrs versehen, der im Cod. Borgia unter der Oberlippe eine
Art von Ring zu hängen hat, welcher, wie es scheint^ eine missverstandene
Bildung darstellt, nehmlich den eingekniftenen Mundwinkel, wodurch in
anderen Handschriften dieser Gott als der uralte, ursprüngliche, der Vater
von Göttern und Menschen bezeichnet wird. Im Codex Telleriano-Re-
mensis und Vaticanus A ist ihm gegenüber seine Gemahlin Tonacacihuati
od<»r Xosbiquetzal gezeichnet, die in den anderen Handschriften fehlt.
In allen Handschriften aber ist über, bezw. neben ihm ein Menscheupaar
zu sehen, unter einer gemeinschaftlichen Decke einander gegenüber sitzend
oder sich verstrickend, oder sich an den Händen haltend und das aus dem
Munde strömende Leben vereinigend, — ohne Zweifel alles Symbole
geschlechtlicher Vc^reinigung.
Unklar ist der Name, der für das Zeichen in der Liste von Meztitlau
angegeben wird. Das Wort ist offenbar verderbt, ich vermag auch durch
Conjectur keinen Sinn hineinzubringen.
2. ehecatl bedeutet „Wind". Sein Patron ist der Windgott „Quetzal-
coatl". Dargestellt wird das Zeichen durch den Kopf dieses Gottes,
— verschieden, je nach der verschiedenen Darstellungsweise des Gottes
selbst. Meist sieht man die rothe Vogcdschnabelmaske des Idols von
Cholula. Vgl. Fig. 83.
Den Astrologen galt das Zeichen als Symbol der Unbeständigkeit und
Veränderlichkeit. Die unter ihm geborenen sind leichtsinnig, imbeständig,
veränderlich, ruhelos (DURAN). Nach anderer Auffassung ist ehecatl das
Zeichen der Ruhelosen, der Umlierirrenden. der verschiedene Gestalten An-
nehmenden, der Wehrwülfe, der ZaubtTer (SaHAGUN).
Patron dieses Zeichens ist (Juetzalcoatl, der Windgott. Der Name
wird verschieden erklärt. Quetzalli ist die grüne Schwanzfeder des
Vogels Pharomacrus mocinno, das Wort wird aber auch allgemeiner im
Sinne von „Schatz, Kostbarkeit** gebraucht, coatl oder cohuatl ist die
„Schlange", bedeutet aber auch „Zwilling". MenDIETA (11.19) sagt: —
en SU lengua llamaban cocoua „culebras", porque dicen que la prima
mujer que pariö dos, se llamaba coatl, y de aqui es (jue nombraban
culebras a los mellizos, y decian que habran de comer ä su padre y madre,
si no matasen al uno de los dos. Der Nanu» Quetzalcoatl wird demnach
theils als „grüne Federschlange", theils als „el admirabh; mellizo", „der
wunderbare Zwilling", erklärt.
Quetzalcoatl war der (rott von Cholula, des Ilauptsitzes ])riesterlicher
Weisheit und priesterlicluT Kultur, darum wird der Gott stets mit priester-
lichen Attributen ausgestattet: dem spitzen Knochen, der zu ßlutent-
zi(dmngeu diente, den abgeschnittenen Sjdtzen der stachligen Agave-
Blätter, auf denen man das Injrausströmende Blut sammelte, und dem
Kopalbeutel. Ihm gegenüber ist im Codex Telleriano-Remensis und
Der ("harakter der axt^ekischeii und der Maya- Handschriften. 15
V>iti(*anurt oin junior PrioHtor zu «ohon. dor Ruthen o<l(»r Kolin» <lurch «lio
«lun*lilörh<Tt«» liluh^ndo Zuufj^o zioht: (/0<1. Bor»;iai 53 und Vatican. B 47 <la-
;C«'j;«*u ein Ti»ni]M»l und ein l)ot4'nd(»r MruKcli. Im Uebriji:(»n ist dor (lott
thidls mit der rothon Vo^^idschnabcdnuiHkc» dt»s Idol« von Cholula (v»i;l. Fij^. 83),
theil« mit menschlicdion Zflf::i»n darji:o8tellt. Bosondero Attribute» von ihm
sind ein eigentliAndicdi j^eformtos Ohr^(»hanj;(^ und eine» als Bnistplattc»
•;etni;f<»ne MuHchel. Das ist, wie aus der Zeichnung in dem SAHAGUK-Manu-
MTipt der Biblioteea Laurentiana zu Florenz deutlich hervorgeht, das „yoel
del viento**, das ^tieschmeidc» des Windgottes", und nicht, wie BriNTON
(Ilero Myths p. 121) annimmt, ein Windrad (yahualli ehecatl) in Gestalt
eines Pentagramms. Im Cod. Borgia30 imd an den entsprechenden Stellen Avis
Vaticanus B. ist über dem Gott noch (»ine, vom Pfeil durchbohrte, Rauch aus
den Nüstern schnaubende Feuerschlange zu sehen (Ideogramm des Wortes
quetzaleoatl?).
8. ealli „Haus" Fig. 84. Sein Patron ist der Gott Tepeyollotl, das
„Herz der Berge", dargestellt als Tiger, über der Berghöhle sitzend. Ihm
gegenüber ist im Codex Telleriano Rcmensis und Vatic. A. der Gott
Quetzal coatl dargestellt, einen Gefangenen am Scho])f haltend. Im Cod.
Borgia 52 und Cod. Vat. B. 46 dagegen steht ihm die (iföttin Tla(?olteotl
gegenüber, ebenfalls einen Gefangenen am Schopf haltend. Und im Cod.
Borgia 20 und Cod. Vatic. B. 10 und 77 ist neben ihm dieselbe Gottin, die
bekanntlich auch den Namen Tlaolquani, <lie „Kothfresserin", führt, <lurch
einen Excremente fressenden Menschen und das Symbol <ler Nacht (des
Mondes) dargestellt.
Den Astrologen ist das Zeichen ein Symbol der Ruhe. So werden
auch die unter diesem Zeichen Geborenen ruhige, häusliche Leute (DURAN).
Kaufleute betrachten di(»ses Zt»ichen als be8ond(»rs günstig zur Heimkehr.
— Das Haus ist aber Jiueh das Zeichen des Westens, der Gegend, wo die
Sonne zu den Todti»n hinabgeht, des Ab(»nd8. Daher ist es die Z(»it, wo
die Dämmerungsgestalten, die Gespenster, die Cihuateteö zur Erdt» hinab-
steigen, den Kindeni Krankheiten bringend, dit» Männer zur Sünde und
zum Verbrechen reizend. Darum ist das Zeicht»n (»in unheimliches, V(»r-
brechen, Kriegsgefangenschaft und Tod auf dem Opferaltar verbfirg(»nd.
4. euetz paltn Fig. 85 (Cod. Vat. A.) und 86 (Cod. Borgia, Cod. Land).
mit blauer Farbe (Fig. 85) oder die vordere Hälfte blau, die hintere roth
gemalt. Wird allgmein mit „lagartija". „Kid(»chse", übersetzt.
Den Astrologen gilt das Zc»ichen als Symbol des Ueberflusses und des
sorglosen Genusses. Denn (wie DURAN angiebt) die Eid(»chse klebt an <ler
Wand und es fehlen ihr nie die Fliegen und kleinen Mücken, die ihr gerade
in den Mund fliegen. Der lnter])ret «les ('od. Vatic. A. sagt geradezu, die
Eidechse» ^significa Tabbondanza delT acqua". Das wird man verstehen,
wenn man sich erinnert, dass dem Mexikaner Ueberfluss un«! Ged(»ihen und
reichlich Wasser sich deckende Begriffe sind. Die genannte symbolische
16 E. Seler:
Bedeutung des Thieres spricht sich auch in dem, von dem Worte cuetz
palin gebildeten Zeitworte cuetz palti, onicuetz paltic aus, für welches
in dem Wörterbuche MOLINA's die Bedeutung „glotonedr^j d. i. ^prassen,
schlemmen" angegeben ist.
Die Liste von Meztitlan nennt das vierte Zeichen anders, nehmlich
ailotl, soll heissen xilotl, d. i. der junge, noch weiche Maiskolben, —
ebenfalls ein bekanntes Symbol des Ueberflusses.
Der Patron dieses Zeichens ist der Gott Huehuecoyotl, d. h. „der
alte Coyote", — im Cod. Borgia und Vaticanus B. in Gestalt eines Coyote
oder mit Coyotekopf abgebildet, im Cod. Telleriano Remensis und Vaticanus
A. mit rother Farbe gemalt und in weissen Coyotepelz gehüllt. Die
Interpreten identificiren ihn mit Tatacoada, dem Gott der Otomf. Man
ist versucht, an den Coyotlinahuatl, den „Coyote-Geist" zu denken, der
nach SAHAGUN von den Amanteca, den Federarbeitem des Quartiers Amantlan,
verehrt ward. Die Amantec« wollen die ersten chichimekischen Ein-
wanderer in Mexico gewesen sein und aus ihrer ursprünglichen Heimath
die Verehrung Coyotlinahuatrs mitgebracht haben.
Vor dem Gotte wird ein Mensch in liegender Stellung und ihm gegen-
über eine weinende Frau in knieender, halb zurückgewandter Stellung dar-
gestellt. Die Interpreten nennen die letztere Ixnextli (Asche in den
Augen"?).
5. coatl „Schlange" Fig. 87 (Cod. Telleriano Remensis) und 88 (Cod.
Borgia). Die Färbung ist grün oder braun (gelb). Die Schlange der
Tageszeichen-Liste unterscheidet sich dadurch bestimmt von der in den Ab-
bildungen vielfach und auch auf den Monumenten vorkommenden Schlange,
der gewöhnlich die Färbung der rothen Corallenotter gegeben wird.
Die Schlange lebt nackt, ohne eigenes Haus, heute sich hier in einem
Loche bergend, morgen in einem andern. Darum hat auch der nach der
Schlange benannte Tag Nacktheit, Armuth, Heimathlosigkeit im Gefolge.
Es ist das Zeichen der Reisenden und der Krieger und ward von den-
jenigen erwählt, die ihr Haus verlassen und zu Handel oder Krieg in die
Feme ziehen wollten.
Die Patronin dieses Zeichens ist die Göttin Chalchihuitlicue, die
Göttin der Quellen und Bäche, des fliessenden, bewegten Wassers, — da-
her Symbol der Unruhe und des Wandems, die in dem Wasserstrom,
welcher von ihren Schultern fliesst, Männer, Weiber und die mit Reich-
thümem gefüllten Kisten fortschwemmt.
6. mtqutztlt „Tod" oder tzonteeomatl „Schädel" Fig. 89 und 90. Die
Farbe des Knochens ist vielfach durch gelbe, roth punktirte Flecke imitirt;
der Unterkiefer mitunter durch besondere Farbe markirt. In herkömmlicher
Weise sind an der Basis der Zähne das Zahnfleisch durch rothe Farbe und
über den Augenhöhlen die die Augenbrauen tragenden Wülste mit blauer
Farbe bezeichnet. Ziemlich regelmässig ist auf der Wölbung oder an der
Der ('liarakt^r der iiztpkiachen um) itcr Miiyn-llaniWIiriftfD.
83
«ifht iiiHii iIciiHulbeii Ti>|il'. in w(jk-)ieiii iiiBiwelilicIit'. Glit^lmaauieii kochoD.
Im Ciiil. Itorgia 50 ist ciii zähiH-flt-tsclieiuh-ü l'iijiehouer gezoiclinct, mit
Tinori>niiikfn, «las mit Attrilnitt-ii (Jm-tztilcoatrs iiuBgpatattpt ist um) i-iiien
KtrrltroobKiipn Knochen in der Ilanil hält. Arhiilich in iIit (>nt«prechpii<len
Stfllc di'» Cod. Vat. D. 33 und ähnlidi audi im Cod. Tellcriano Kvmeiuis und
Vnticanus A. Aber im Cod. Borgia 5U und im Yaticanuit B. 33 sind dem Un-
^^hcntr gegt^nflber eine in StQcke gprisHunc* Schlange, ein mit Blutstreifen
T<>r»M"h<'nc«t GefSKx, OpfeiynlH-n nnrf das Sonnrazeichen nahui oIHn „viw
34 £• Seler:
ollin" über vierfachen Parbenstreifen (grün, gelb, blau, roth) zu sehen.
Im Cod. Telleriano-Remensiö und Yaticanus A. dagegen ist der Figur
gegenüber ein anderes Ungeheuer gezeichnet (Fig. 1 59), genau entsprechend
den Ungeheuern, die auf der Unterseite der kleinen Steinnäpfe zu sehen
sind, von denen JESUS SANCLAZ im Band III der Anales del Museo Nacional
de Mexico melirere abgebildet hat, (ein ganz gleiches (iefass befindet
sich auch im Königl. Museum für Völkerkunde zu Berlin) und die auf der
Innenseite das Zeichen der Sonne (oll in) zeigen. Das Ungeheuer auf der
Unterseite der Steinnäpfe (Fig. 160) verschluckt ein Feuersteinmesser oder
speit ein Feuerstoinmesser aus. Das an den entsprechenden Stellen des
Cod. Telleriano-Remensis und Vaticanus A. gezeichnete entlässt dagegen
aus seinem Rachen eine Figur, welche die Attribute Tläloc's und Quetzal-
coatl's vereinigt, ähnlich, wie der Nahuiehecatl des Cod. Telleriano-
Remensis II. 12 und Vaticaims A. 28, — welche aber auf ihrem Rücken
eine helle Sonnenscheibe trägt, von der, wie es scheint, eine Feuerschlange
ausgeht.
Die Interpreten nennen die Hauptfigur Xolotl und erklären ihn als
Herrn der Zwillinge. Das dieser Hauptfigur im Cod. Telleriano-
Remensis gegenüberstehende, eben beschriebene Ungeheuer (Fig. 159) mit
der seinem Rachen entsteigenden Figur nennen sie Tlalchi tonatiuh und
erklären es als die Wärme, die von der Erde der Sonne mitgetheilt wird,
oder auch als die Sonne, die hinabsteigt, um den Todten zu leuchten.
In dieser sehr eigenthflmlichen Figur verknüpfen sich verschiedene
Darstellungen. Der Name Xolotl bedeutet „Zwilling**: nach SahaguN
im engeren Sinne: eine Zwillingsbildung der Maispflanze; me xolotl eine
doppelte Agavepflanze, axolotl die im Wasser lebende Larve des Ambly-
stoma mexicanum. Die Azteken betrachteten eine Zwillingsgeburt als ein
Portentum, als etwas Widernatürliches, Unheimliches, Unglückbringendes.
Sie hatten den Glauben, «lass, w<»nn beide Zwillinge am Leben blieben,
der eine davon unfehlbar seine Elteni tödten und verzehren würde. Darum
tödteten die Eltern gleich bei der Geburt den einen von den Zwillingen.
Der Zwilling ist also der, der getödtet werden muss. Und darum
wird Xolotl zum Repräsentanten des Menschenopfers. Als solcher
erscheint er in den Mythen. Als die eben geschaflFenen Lichtgt^stime,
Sonne und Mond, am Himmel nicht weiter gehen wollten, beschlossen die
Götter, sich zu oj>fem, um durch ihren Opfertod den Gestirnen Leben und
Bewegung zu verleihen. Nach SAHAGUN ist Quetzalcoatl derjenige, der
das Opfer vollzieht, und Xolotl der, welcher sich weigert, sich tödten zu
lassen, so weint, dass seine Augen aus den Höhlen treten, und flieht,
schliesslich aber doch erwischt und getödtet wird. Nach MeNDIETA ist
Xolotl derjenige, der das Opfer an seinen Brüdern vollzieht und darnach
sich selber opfert. Y asi aplacado el sol hizo su curso.
Nach einem andeni Mythus ist Xolotl derjenige, der zu den Todten
Der Charakter der aztekischen uud der Maya- Handschriften. 35
hinabsteigt und von dort den Todteiikiiocheii holt, aus dessen Stücken
die Menschen entstehen.
Die hier vorliegenden, oben ])e8chriel>enen A])bilduiigen zeigen den
Bezug auf das Menschenopfer in klarster Weise: der Toi>f, in welchem die
Monschengebeine sieden, — mit dem Menschenopfer verband sich Menschen-
fresserei, — die aus den Höhlen tretenden Augen, da« Gefäss mit den
Blutstreifen, die in Htücke gerissene Feuerschlange, endlich die Beziehung
zur Sonne und zum Zeichen der Sonne, — denn der Sonne wurden die
ausgerissenen Herzen dargebracht. Auch dass der Gott mit Attributen
Quetzalcoatrs ausgestattet wird, — Quetzalcoatl, der Gott von Cholula, ist
<ler Gott der Priester, der Priester xar iSoxijv- Endlich der sogenannte
Tlalchitonatiuh, die zu den Todten hinabgehende, von dem Ungeheuer
verschluckte Sonne. Auch die oben beschriebenen, übrigens höchst
sorgfältig gearbeiteten Steinnäpfe, die auf der Unterseite dasselbe Un-
geheuer zeigen, sind von jeher als Kultusgegenstände, als Behälter für das
Blut der Opfer, gedeutet worden.
18. tecpatl „Feuerstein^. Es ist dies der Stein, aus welchem die
Opfermesser gefertigt wurden, wie MOTOLINIA (c. 6 p. 40) ausdrücklich
hervorhebt — und nicht Obsidian (itztli), wie man häufig angegeben findet
und wie sogar im SaHAGUN zu lesen ist. Die Abbildungen zeigen auch stets
einen hellen Stein, in Form einer Lanzenspitze, die eine Hälfte (Fig. J33)
oder auch beide Enden blutroth gefärbt. Mitunter ist die zackige Kante
des Steines und der muschelige Bruch der Schlagfläche deutlich markirt
(Fig. 134): die schneidenden Eigenschaften sind durch eine Zahureihe am
Rande markirt (Fig. 135, Cod. Vaticanus A.). Oder es ist das ganze Stein-
messer metamorphosirt in ein Gesicht mit langen Schneidezähnen (Fig. 136
Cod. Vat. B.) oder in einen Todtenschädel mit klaffendem Gebiss (Fig. 137
Cod. Borgia). Im Cod. Bologna ist statt des einfachen SteinmesscTs häufig
eine schwarze menschliche Figur, die einen tecpatl als Kopf trägt, ge-
zeichnet
Der Stein ist das Zeichen der Dürre und Unfruclitbarkeit, darum
bleiben, nach DUBAN, die unter seinem Zeichen Geborent^n, seien es
Männer oder Weiber, unfruchtbar, ohne Nachkonmienschaft. Der Stein ist
aber auch der schneidige, er liefert das Material für Waff(»n jeder Art. Da-
rum sind, nach SaHAüUN, die unter seinem Zeiclien geborenen Männer
schneidig und tapfer, ansehnlich und reich, die Weiber männlichen Charakters,
klug und reich. Nach dem Inter|)reten des Cod. Vaticanus A. werden die
unter diesem Zeichen Geborenen gute Jäger und Edelleute.
Als Patron dieses Zeichens ist in allen Handschriften die bahl mehr,
bald minder deutlich erkennbare, d. h. bald mehr, bahl minder realistisch
gezeichnete Figur des Truthahns angegeben. Die Liter])reten nenncm ihn
Chalchinhtotolin, ^das Smaragdhuhn^, oder vielleicht einfach das „blaue
Huhn**, — die Farben grün und blau werden in centralamerikanischen
8*
36 1^* Sbler:
Sprachen confundirt, — und identiticiren ihn mit Tezcatli]>oca. In der
That trägt der Vogel im Cod. Telleriano-Remensis und Vaticanus A. an
der Schhlfe den rauchenden Spiegel, das Attribut Tezcatlipoca's. Und im Cod.
Borgia 29 ist über dem Vogel der Spiegel und daneben ein Wasserstroni
zu sehen, — entweder ebenfalls Symbol des rauchenden Spiegels oder
Hieroglyphe von Chaico Atenco, der Stadt Tezcatlipooa's. Dem Vogel
gegenüber ist im Cod. Telleriano-Remensis und Vaticanus A. ein Jüngling
gezeichnet, mit Kopal un<l Kopalbeutel (Xi(iuipilli) in der Hand, der
mittelst eines spitzen Vogelschnabels (oder eines vogelschnabelartigen In-
strumentes) sich Blut aus dem Ohre entzieht. Im Cod. Borgia 21) und ent-
sprechend im Cod. Vat. B. 4 und 77 ist eine ahnliche Kasteiung, — das Opfer
des eigenen Blutes, die Selbstopferung, — ausgedrückt durch einen Jüngling,
der mit einem spitzen Knochen sich das Auge ausbohrt (das Auge aus
seiner Höhlung treibt, vgl. Xolotl!). Ringsum ein Kranz von blutbe-
sprengtem Grase. Endlich im Cod. Borgia 51 und entsprechend im Cod. Vati-
canus B. 32 ist dem Gotte gegenüber die blutbefleckte, dornige Spitze eines
Agave -Blattes, in einem Bündel blutbefleckten Grases steckend, zu sehen.
Bekanntlich wurde das Blut das man sich durch Einschnitte in die Zunge,
die Ohren oder andere Köri)ertheile entzog, auf den SpitziMi von Agave-
Blättern (sogenannten Maguey- Domen) gesammelt, diese dann in Grasballen
gesteckt und diese Ballen, als Beweis der vollzogenen Kasteiung, dem Gotte
dargebracht, bezw. in Haufen auf den Mauern der Mönchsklöster und der
Erziehungshftuser aufgestellt.
Tezcatlipoca ist der Patron der telpochcalli, der Junggesellenhäuser,
einör Art von Klubhäusern, in welchen die unverheiratheten jungen Leute
die Nacht zubrachten und die jüngeren Ijcute von den älteren Kriegern im
WaflTenhandwerk unterrichtet wurden. Diese Häuser hatten den genannten
socialen Zweck und gleichzeitig eine eminente militärische Bedeutung.
Denn bei plötzlichem Allarm war hier gleich eine Schaar waff*enfahiger
Männer beisammen. Die jungen Leute wurden hier unter strenger Zucht
gehalten, denn <»s war eine religiöse Institution, und insbesondere waren
Kasteiungen und Blutentziehungen in der genannten Art, als Stählungen
der Mannheit und Uebungen in der Selbstüben^indung, durchaus im
Schwünge.
So wird denn auch das Zeichen tecpatl den andern Kriegs- und Jagd-
göttem, Huitzilopochtli, dem aztekischen, und Camaxtli, «lem tlaxkal-
tekischen Kriegsgott) zugeschrieben. — Und weil man bei dem Zeichen an
Kasteiungen und Bhitentziehungen dachte, «lamm brachten (nach SaHAGÜN
4, 21) die Puhiuefabrikanten den ersten Pulque von diesem Tage, der
huitztli, „Dorn'', (d. i. der beissende, prickelnde?) genannt wurde, dem
Gotte Huitzilopochtli als Opfer dar.
19. qHiahultl ^ Regen" wird im Cod. Mendoza mehrfach durch fallende
Wassertropfen ausgedrückt. Vergl. Cod. Mendoza 42, 21 «. v. Quiyauh-
Her ("haraktor der aztokiHrhen und der Muya- Handschriften. 37
teopaii. Als KaltMidtTzeiehfii ersclu^int stets <ler Kopf Tlaloc's, des
Rogengottcis. ausgeführt oder in abbn^viirter P'orin. Vergl. dio Figuren 138
(Cod. Telleriano-Kemensis), 139 (Cod. Lau«!) un<l 140 (Cod. Korgia).
Das Zeichen ist, wie das vcTwandte 9. Zeich<Mi, ein unglückliches.
Blindheit Lahmheit, (Joutractur, Aussatz, Kratzt», Mondsucht und Narrlieit,
— das sind die Gaben, weh'he (nach V. DUKAN) «lieses Zeichen den unter
ihm Geborenen verheisst. Denn (b*r von d(»n Bergen stromende Regen,
wie das fli(»ssende Wasser, sind nach mexikaniscliem (jlauben die Krankheits-
orzeuger. Natdi SAHAGUN w(»rden die unter di(»sem Zeichen Geborenen
(Ähnlicli, wie die unter dem zweiten Zeichen, d<»m d(»s Windes, Geborenc^n)
Zauberer, Wehrwölfe, übelwirk(»nde H(»xenmeister. l)w Kaufleute bli<»ben
an diesem Tage zu Hause, deim Unheil und Krankheit lauert an ihm aui
allen Wegen.
Patron dit^ses Zeichens ist nach den Interpreten Chantico oder
Quaxolotl (der „doppelköpfige"*), die (iottheit des chile oder der rothen
Capsicum-Pfefferschote. Der Capsicum- Pfeffer war das beliebteste und
alltäglichste iiewürz in alter Z(»it, wie heute noch, in Mexico. Er gehörte
so zur täglichen Nahrung, dass di(» Enthaltung von ihm densel))en Werth
hatte, wie in der christlichen Welt die Enthaltung von Butter- und Fleisch-
speisen. Mit anderen Worten, die ohne Pfeffersauce genossenen Tortillas
sind Fastenspeise. Die Gottheit des Capsicum-Pfeffers ward deshall) zum
Sinnbild des Fastenbruchs. Nach dem Interpret<Mi ist Chantico der erste
Fastenbrecher, der, weil er vor dem Opfer. — in di(»s(T Zeit war das
Fasten allgemeine Vorschrift, — einen gebratenen Fisch ass, von den
Göttern zur Strafe in «»inen Hund verwandelt ward.
Dass 4*8 sich bei <ler Patronage dieses Zeichens um Fasten handelt,
ist aus den Abbihlungen deutlich zu sehen. Nicht überall indess ist der
Fastenbrecher, die Gottheit <les Capsicum, dargestellt. Im Cod. Borgia 30
und entsprechend im Cod. Vat. B. 3 u. 73 ist ein (Jott gemalt, der nicht anders,
als der Sonnengott, Tonati uh, gedeutet werden kann. Die besonderen
Kennzeichen, die anderwärts di<»sen (iott bezeichnen, sind hier absolut
nicht zu verkennen. Darüber, bezw. davor sitzt im Kranz von blut-
besprengtem (rrase ein Jüngling, der einen Krug auf der Schulter hält und
in die Muscheltrompete bläst. Unter den Fasten, die allgemein und von
allen zu halten siml, zählt SAHAGUN in erster Linie das netonatiuh-
^abualo oder netonatiuhvahualiztli, das „Fasten zu Ehren des Sonnen-
gottes^, auf. Dasselbe fand, wie wir aus SAHAGUN wissen, alle 203 Tage,
— d. h. wohl am 203. Tage tler tonalamatl, d. h. am Tage nahui oll in,
„vier Kugeh, dem der Sonm» geweihten Tage, — statt. Der König zog
sich zu diesem Zwecke in ein besonderes Gebäude, (juaxicalco genannt,
zurück, wo er sich strengen Bussübungen hingab. Man tödtete an diesem
Tage vier Gefangene, die man chachaume naunte, zwei weitere, die Sonne
UDd Mond repräsentirten, und darnach noch viele andere.
38 E. Selbb: Aztekische und Maja-Uandschrifteo.
Im Cod. Telleriano-Kemensis und Yaticanus Ä. ist eine gelb gefärbte
Gottheit gezeichnet, die lange, fletschende Zähne hat und im Ausdrucke an
die Götterfigur erinnert, welche im Cod. Viennensis mit der Bezeichnung
nahui ollin (dem der Sonne geweihten Tage) angetro£Fen wird, welche aber,
wie die Interpreten angeben, eben jenen Chantico oder Quaxolotl dar-
stellen soll. Und ihm gegenüber ist, als Gegenstück, wie die Interpreten
sagen, mit Kopalbeutel und Zweigbüschel in der Hand, in einer Einfassung,
welche an die des fastenden Jünglings in der eben besprochenen Darstellung
erinnert, Quetzalcoatl-Ce acatl gezeichnet, der fromme, die Gebräuche
haltende Priester.
Im Cod. Borgia 52 endlich und entsprechend im Cod. Yaticanus B. 31
sehen wir eine Frau, in kostbarem Gewände, das Haupt mit rother Kapuze
bedeckt, und ihr gegenüber einen Mann, in einer Kiste eingeschlossen,
mit Agavedomen und Zweigbüscheln in der Hand. Nach SAHAGÜN 2. Anhang
ist Quaxolotl Chantico eine Göttin, der am Tage ce xochitl in ihrem
Tempel Tetlauman Sklaven geopfert wurden.
20. xochitl^ „Blume^, erscheint als Kalenderzeichen stets in ziemlich
stylisirter Form. Vergl. Fig. 141 — 145. Häufig, wie man sieht, mit Wurzeln
am untern Ende gezeichnet. Mitunter (z. B. im Cod. Borgia 30) trifft man
auch, statt der einzelnen Blüthe, einen ganzen, Blüthen tragenden Baum.
Die Blume ist das Symbol des Kunst- und Geschmackvollen und das
Zeichen der Göttin Xochiquetzal, der Patronin weiblicher Hand- und
gewerblicher Kunstfertigkeit. Darum werden, wie DüRAN und SAHAGÜN
übereinstimmend angeben, die unter diesem Zeichen Geborenen geschickte
Handwerker, Maler, Silberschmiede, Stoffweber und Bildschnitzer, die
Weiber geschickte Wäscherinnen, Weberinnen und Stickerinnen.
Die Tutelargottheit dieses Zeichens ist in allen Handschriften ziemlich
übereinstimmend und unverkennbar dargestellt, — im Cod. Telleriano-
Remensis und Yaticanus A. mit dem tzotzopaztli, dem Holz, das zum
Festschlagen der Gewebefäden dient, in der Hand. Im Cod. Borgia 30 und
entsprechend im Yaticanus B. 3 u. 76 ist über der Göttin die Göttin Tona-
cacihuatl, — ihre andere Modification, — als alte Frau mit eingekniffenem
Mundwinkel gezeichnet. Im Cod. Telleriano-Remensis und Yaticanus A
sieht man ihr gegenüber eine nächtliche Gottheit, die in die Maske eines
fabelhaften, schwarz- und blaugefleckten Thieres gekleidet ist und den
rauchenden Spiegel Tezcatlipoca's an der Schläfe trägt. Auch im Cod. Borgia53
und entsprechend im Yaticanus B. 30 ist ihr gegenüber eine gespenstische
Gottheit, — schwarz, mit rundem Eulenauge, — gezeichnet. Beides, wie
es scheint, Gottheiten des nächtlichen Dunkels, die sich der Xochiquetzal,
als der Gottheit der Erde, naturgemäss associiren.
(Fortsetzung folgt.)
Bespreehongen. 39
Besprechungen.
W. OSBORNE. Das Beil und Beine typischen Formen in vorhistorischer
Zeit Dresden 1887, Warnatz & Lehmann. 67 8. u. 19 lithograph.
Tafeln.
Der Verf. hat rieh die Aafgabe gestallt, die Geschichte des Beils in seiner all-
mihhchen Entwickeluiig während der Torhistorischen Zeit zu yerfolgen, — eine grosse,
gewiss sehr dankenswerthe Untersuchung, da rie in mehreren Beziehungen gewisser-
maatsen den Leitfaden zu der Geschichte der vorhistorischen Cultur überhaupt bietet
Manche Tortreffliche Vorarbeiten dazu lagen vor. Der Verf. hat dieselben nicht in der
Ausdehnung benutzt^ als es erforderlich gewesen w&re: sowohl die schwedische, als die
italienische Literatur hat er, letztere fast ganz, bei Seite liegen gelassen. Andererseits
fjMst er den Begriff der vorhistorischen Zeit sehr eng; er spricht fast nur von Europa.
Die gerade fBr dieses Ger&th so ergiebigen Funde Amerikas, auch die prftcolumbischeo,
werden ebenso wenig berührt, als die weiten und so überaus wichtigen Arbeitsgebiete
Oceaniens, Ariens und Afrikas. Um so weiter fasst er den Begriff des Beiles selbst
Man mag sich darin fugen, dass er die Celte und Aexte der Metallzeit s&mmtlich Beile
nennt, aber es erscheint nicht mehr zul&srig, jeden geschlagenen Stein der palftollthischen
Zeit ebenso zu bezeichnen. Nichts von dem, was auf TaL I dargestellt ist, würde wohl ein
gewöhnlicher Sterblicher als Beil anerkennen; bei dem, was die Taf. n bringt, h&ngt Alles
davon ab, wie man die Gregenstände betrachtet. Wenn man ein steinernes Lanzenblatt
oder eine primitive Pfeilspitze umdreht und die Spitze hinten, die breite Rundung vom
hinsetzt, so kann man glauben, ein Urbeil vor sich zu haben. So aber ist das Verfahren
des Vert Dafür fehlen die „H&mmer", die man doch in eine n&here Beziehung zu den
Beilen (und KeOen) setzen muss, gänzlich. Es kann zugestanden werden, dass die Grenzen
zwischen den verschiedenen Ger&then, namentlich der Vorzeit, sehr schwankende sind und
dass hinfig das eine Ger&th in das andere übergeht Aber daraus folgt doch nicht, dass
man in einer Arbeit welche genau genommen eine (jeschichte der Technik sein soll,
klbifltliche und willkürliche Abschnitte bilden darf. Die Technik der Vorzeit hat rieh,
gerade wie in der Neuzeit, nirgends an einem einzigen Ger&th für sich entwickelt. Die
Knast des Schleifens, des Bohrens, des Giessens ist für Kugeln genau ebenso aus-
gebildet worden, wie für Beile, und was die Formen anbetrifft, so Iftsst rieh der Hohlcelt
von der Lanzen- und Pfeilspitze mit Dülle nicht trennen, so wem'g als die Ornamente
des Cell« oder der Axt ohne Kenntniss der auch sonst üblichen Ornamente verst&ndlich
werden. Mit anderen Worten, die einzelne Form muss im Zusammenhange der Zeit be-
trachtet werden. Der Verf. giebt häufig chronologische Hinweise, aber er führt dieselben
sieht ans. Mindestens hätte man erwarten dürfen, dass er in positiver Weise den Nach-
weis führen würde, welche Formen älter und welche jünger rind. Er versucht dies
gelegentlich, z. B. für den Flachcelt, aber in den meisten Fällen begnügt er rieh damit,
die eine Form aus der andern in speculativer Weise abzuleiten. Der gesunde Menschen-
verstand ist viel werth, aber er äussert rieh sehr verschieden bei Prometheus und bei Epi-
metheus. Darum rieht die heutige Alterthumswissenschaft den Nachweis von der wirklichen
Aufeinanderfolge der Dinge allen Vermuthungen über die Entwicklung derselben vor; rie
hat rieh darin der Methode der Naturwissenschaften angeschlossen. Die mühsame und
durch die Beigabe zahlreicher Tafeln sehr anschauliche Arbeit des Verf. könnte eine recht
braaehbare Unterlage für eine weitergehende Untersuchung in dem bezeichneten Sinne
bilden. Vielleicht liefert er uns in einer zweiten Arbeit die geschichtlichen Beweise
für die Richtigkeit sriner Argumentationen. Dabei wäre es jedoch erwünscht die Namen
nnd Citate richtiger wiedergegeben zu sehen. So schreibt der Verf. constant Thomson
(pt Thomsen), Chartaillac (st Cartailhac), Pulsky (st Pulszky). Auch die Orts-
namen sind mehrfach falsch wiedergegeben z. B. C^hiusci, Sülger. Auf S. 51 lässt der
Verl Hohlcelte mit doppelten .Henkeln*' im Kaukasus vorkommen, obglrich Ref. in
Mtoer ihm wohlbekannten Monographie über Koban (8. 1S9) das Vorkommen von Gelten
im Kaakaras in Abrede gestellt hatte; vergleicht man nun das beigefügte Citat (Evans,
40 Besprechungen.
Bronze Implements p. 143), so ergiebt sich, dass ein Celt von Kcrtsch (ibid. Fig, 179)
gemeint ist. Aber Eertsch liegt doch nicht im Kaukasus !
Was die von dem Verfasser bevorzugte Eintheilung betrifft, so ist sie eine weitere
Ausführung der Classiücation des Um. G. de Mortillet. Er unterscheidet unter den
Steinbeilen ungeglättete (gesplitterte und geschlagene) und geglättete, welche letztere er
in gelochte und ungelochte trennt; bei den Metall])eilen trennt er: A. den Celt mit
5 Unterabtheilungen (Flachcelt, Kragencel,t, Leistencelt, Lappencelt und Hohlcelt), B. die
Axt mit 4 Unterabtlieilungen (gerade und geschwungene Schmal-, bezw. Breitait). Ob
diese Eintheihmg sich allgemeine Geltung verschaffen wird, muss die Zeit lehren. Es ist
Äusserst schwer, für jede Form ganz zutreffende Namen zu finden. So dürfte der Name
Leistencelt kaum als ein durchweg zutreffender anzuerkennen sein. Immerhin ist es gut,
dass auch in Deutschland ein neuer Versuch der Eintheilung der Celte gemacht worden
ist. Für die Steinbeile hat der Verf. sich einer so weitgehenden Aufgabe der Formen-
Diagnose nicht unterzogen.
Die beigegebenen zahlreichen Abbildungen sind sehr lehrreich, obwohl einzelne leicht
zu Missverständnissen Anlass bieten können. So sind auf Taf. XVI Fig. 2 und Taf XVII
Fig. 10 zwei Bronzeäxte von Koban nach den Tafeln des Ref. wiedergegeben, an denen
die Fäden, mit denen die Objekte für die photographische Wiedergabe befestigt waren, in
der Art wiederholt worden sind, dass es den Eindruck machen muss, als seien sie Bestand-
theile der Aexte selbst Rüd. Virchow.
Alb. HERM. Post. Einleitung in das Studium der ethnologischen Juris-
prudenz. Oldenburg, Sehulze'sche Hof - Buchhandlung. 8. 53 S. —
Afrikanische Jurisprudenz. Etlmologisch-juristische Beiträge zur Kennt-
niss der einheimischen Rechte Afrikas. 2 Theile in 1 Bande. Olden-
burg u. Leipzig 1887. Schulze'sche Hof-Buchhandlung. 8. 480 und
192 S.
Der Verfasser, Richter am Landgerichte zu Bremen, hat im vorliegenden Werke den
ersten Versuch einer allgemeinen Codification des afrikanischen Rechts gemacht, dessen
Bedeutung um so mehr anerkannt werden muss, als ein äusserst umfassendes und genaues
Quellenstudium der Arbeit zum Grunde liegt. Das Buch wird sowohl für Reisende imd
Colonialbeamte, als auch für wissenschaftliche Forscher einen grossen Werth erlangen, und
wir begrüssen es als einen grossen Schritt zur Begründung der ..ethnologischen Jurisprudeni*,
wie der Verf selbst die neue Disciplin bezeichnet. Zu bedauern ist, dass er das ali-
ägyptische Recht von seiner Untersuchung ausschliesst und adch die Araber nur gelegentlich
erwähnt, obwohl doch in beiden Beziehungen starke Einflüsse nachzuweisen sind. Auch
die Stellung der priesterlichen Elemente in der Organisation der afrikanischen Gesellschaft
hätte eine grössere Berücksichtigung verdient. Immerhin wird es, wie wir hoffen, von
nachhaltigen Folgen sein, dass hier zum ersten Male das Gesammte der Rechtsanschaunngen
eines so grossen Gebietes vom Standpunkte der Fachwissenschaft aus einer übersichtlichen
Ordnung unterzogen worden ist.
In der besonders erschienenen .Einleitung in das Studium der ethnologischen Juris-
prudenz*" zeigt der Verf. die Breite der Studien, auf welchen er seine Darstellung aufbaut,
und die streng philosophische Methode, nach welcher er seine Untersuchungen angestellt
hat. Er beweist darin, dass die Rechtswissenschaft des Studiums der unkultivirten Völker
nicht entbehren kann, dass vielmehr die ethnologische Jurisprudenz auf das Studium
der Rechte der geschichtslosen Völker das erheblichste Gewicht legen muss, ^da nur in
den Rechten dieser Völker die Keimbildungen des Rechtslebens aufgefunden werden
können, und diese für eine allgemeine Entwickelungsgeschichte des Rechtslebens von der
höchsten Bedeutung sind**. Aber er warnt vor einer einseitigen Vertiefung in die Rechts-
verhältnisse eines einzelnen Stammes, da erst in der Erkenntniss allgemein gültiger Gesetze
ein Maassstab für die comparative Betrachtung gefunden werden könne. So lehrt er, dass
die Geschlechterverfassung eine über die ganze Erde verbreitete und bei den Natur-
völkern ausschliesslich vertretene Organisationsfonn ist, welcher charakteristiscbe Rechts*
anschauungen entspringen, die sich an vielen Orten wiederholen. RuD. Vikohow.
Der Charakter der aztekischon nnd der May a- Handschriften. 17
S<»ite (le8 Schädels ein krei8run(l(»8 Loch ausgeschnitten. Der Anblick der
Sc*hftdel war den Mexikanern gehlufig vom tzampautli, dem Schädelgerüst,
wo auf quer <lurch die Schläfe gestosscMien St^uigen die Köpfe der den Göttern
geopferten Sclaven und Kriegsgefangenen aufgereiht waren. Mitunter sind,
statt des kn^isrunden Loches an <l(»r Seite, verschieden gefärbte, concentrische
King(» auf dem Wirbel des Schädels zu sehen, die vielleicht auf eine Prä-
paration des Schädels deuten. Statt eines einfachen Schädels wird auch der
Kopf Mictlante(*utli*s, des Todesgottes, gezeichnet, der zu dem Todten-
s<*hädel noch eine schwarze, zerzauste Pernick*», Ohren mit weissem, bmid-
ortigimi Pflock und ein Feuer8teinme8s*»r vor der Nase trägt (Fig. 90).
Der Tod ist ein Unglück und erweckt traurige (jedanken. So sind
auch die, unter diesem Zeichen Geborenen unglücklich und tram'ig, schwäch-
lich, krank und feige.
Als Patron dieses Zeichens ist im Cod. Borgia 28 eine Frau gezeichnet
mit der Lippenseheibe Tonacatecutli's (Ometecutli's), die vom über der
Stirn eine Meerschnecke trägt und deren ganze Gestalt von nächtlichem
Dunkel sich abhebt. In den entsprechenden Stellen des Codex Vat. B.
(Blatt 9 u. 78) ist ein Gott gezeichnet, ebenfalls mit der Lippenscheibe
(eingekniffenem Mundwinkel) Tonatecutli's, aber mit dunklem (blauem)
Leibe. Auch im Cod. Borgia 49 und im Cod. Vat. B. 43 sehen wir einen Gott
mit der Lippenscheibe (dem eingekniffenen Mundwinkel) Tonacatecutli's,
aber hier als steifrückigen, alten Mann mit dem Stabe in der Hand. Und
ihm gegenüber steht der Sonnengott. Ebenso haben Cod. Telleriano Re-
mensis und Vaticanus A. zwei Figuren : einen Gott, der als auszeichnendes
Merkmal dieselbe Meerschnecke trägt, wie die Frau im Cod. Borgia 28, und
ihm gegenüber wieder den Sonnengott.
Dem Zeichen, welches „Tod" bedeutet, sind hier, gleichsam zur Com-
pensation. die Gottheiten der Geburt als Patrone gesetzt. Die Frau
auf Blatt 28 des Cod. Borgia ist Tonacacihuatl, als Göttin der Geburt
gedacht. Das beweist die Meerschnecke. Denn die Schnecke ist das Symbol
des Mutterleibes. Wie die Schnecke aus dem Gcdiäuse, so kommt der
Mensch aus dem Leibe seiner Mutter hervor. Die männlichen Gottheiten
bezeichnen den Mond (Metztli). Der Mond hat Beziehung zu den Weibern
und verursacht, nach den Interpreten, die (Jeburt der Menschen. Darum
ist die Meerschnecke (tecciztli) auch sein Symbol und Tecciztecatl,
^der mit der Meerschnecke", der hauptsächlichste der Namen, unter denen
der Gott bekannt ist.
7. macatl „Hirsch**. Der langgestreckte Kojif dieses Thieres wird
gezeichnet ohne Geweih (Fig. 91) oder mit Geweih (Fig. 92), das letztere
dann blau gemalt, wie andere Ilorn- und Hauttheile (Nägel, Nasenschleim-
haut u. a.). Statt des Kopfes finden wir im Cod. Fejervtiry (Fig. 93) den
Fuss des Thieres mit dem gespaltenen Huf.
Der Hirsch ist ein Thier des Waldes und des Feldes. Für die, an
Ztflwckrift fb EtliaolOfU. Jahrg. 1888. 2
18 E. Seler:
diesem Tage Geborenen resultirt (iaraus ein Hang, in die Ferne zu schweifen
und sich dem Waldleben zu ergeben. Insofern trifft das Zeichen in seiner
Bedeutung mit dem Zeichen coatl zusammen und gilt, wie dieses, auch
als Zeichen der Krieger.
Der Patron dieses Zeichens ist Tläloc, der Gott des Regens, der
Gewitterschauer, der mit dem Blitze tödtende Gott, — vielleicht, weil er
gleichzeitig der Gott der Berge ist. Oder sollte vielleicht, ähnlich wie bei
dem vorigen Zeichen, eine Compensation durch die absolute Gegensätzlich-
keit bezweckt worden sein? Der Hirsch ist, nach den Interpreten, Symbol
der Dürre. — Im Cod. Telleriano-Remensis und Vaticanus A. ist dem Gott
eine Figur gegenübergestellt, welche Attribute Tläloc's (des Regengottes)
und QuetzalcoatFs (des Windgottes) vereinigt und die von den Interpreten
als Nahuiehecatl („vier Wind") bezeichnet wird.
Tläloc ist den Mexikanern insbesondere der mit dem Blitz tödtende,
in der Fluth ertränkende, in Tlälocan über die Seinen herrschende Gott.
Die unter dem Zeichen „Hirsch" Geborenen und so dem Gotte Tläloc
Verfallenen fürchteten daher, bei jedem Gewitter vom Blitz erschlagen, bei
jedem Bade ertränkt, von dem Herrscher Tläloc als sein Eigenthum reclamirt
zu werden.
8. tochtU „Kaninchen". Ein Kopf, ähnlich dem des vorigen Zeichens,
aber durch das runde Auge, die längeren, mehr hängenden Ohren und die
beiden Schneidezähne unterschieden (Fig. 94 u. 95).
Das Zeichen ist ein glückliches. Das Kaninchen, sagt man, nährt
sich ohne Arbeit und Mühe von dem Grase des Feldes. Darum werden
die unter seinem Zeichen Geborenen mühelos reich.
Im Mexikanischen ist tochtli der Ausdruck für „Rausch, Berauscht-
heit". Sie bilden das Zeitwort tochtilia, oninotochtili, für welches
MOLINA die Bedeutung giebt: „hazerse concyo, o hazerse bestia, o tomarse
bruto el hombre". Nach P. SAHAGUN wurde der Wein centzontotochtin,
d.h. „400 («-20X20) Kaninchen" genannt, weil er die Ursache unzähliger
Arten von Betrunkenheit wäre. — So sehen wir denn auch als Patronin
des Zeichens tochtli die Personification der Magueypflanze, der Agave
americana, aus welcher der b(»rauschende Pulque bereitet wird. Als Gott-
heit führt sie den Namen Mayahuel. Sie ist (als Pflanze) als Göttin
gedacht und war nach SAHAGUN diejenige, welche zuerst den Saft der
Magueypflanze extrahiren lehrte, — in uralter Zeit, als noch die Olmeca
und Huixtotin im Lande waren, — und ist nach dem Inteqireten des Codex
Telleriano Remensis die Gemahlin PantecatFs, des Pnliiut^-Ciottes, den wir
unten noch zu erwähnen haben werden. — Die Darstellung der Göttin ist
in allen Quellen, die wir hier angezog(»n haben, ziemlich uniform. Wir
sehen die Göttin vor den 8tachlig(»n Blättern der Agave sitzen oder daraus
hervorwachsen. Daneben der bekränzte und geschmückte Topf, aus welchem
das Getränk herausschäumt. Eine Figur, in vergnügter Haltung (iie Fahne
Der Charakt/T dor uKti*kischen und der Maya-IIaiid8chrift^n. 19
8chwiii[;on<l, mit ernstor Mioiir aus dor Pulqiioschale trinkoiul odor nii;
der Puh|UOrtchttli> in der Hand zur trunkenen IUmIo anlu»b(»nd, — »cheint
den Kauseh zur Darstellung bringen zu sollen.
9. atl ^Wasser". Das Wasser erseheint als Tag(»8zeielien stdten in
der Weise, wie nuin es als hieroglypliisches Element im Cod. Mendoza und
sonst vielfach verw(»n<let fiinlet, nehmlieh als blauer, verzweigter Strom,
mit einem Wellensaum oder mit weissen, runden oder länglichen Tropfen
am Ende d(»r Verzweigungen. Immerhin haben wir eine dem ähnliche
Zeichnung in der Fig. 96 des Co<l. Vatic. B. 47 u. 48. In der Regel ist,
statt des einfachen Wasserstromes, ein (Jefass mit Was8(»r g(»zeichnet, ent-
wiMler ein einfaches WasstTgefass (KürbisgefSiss), wie in Fig. 97 des Cod.
Telleriano Remensis, oder aber, und dies ist der häufigere Fall, das aus
dem (lefäss herausfliessendo Wasser ist der wallenden Federhaube eines
Vogels verglichen. So wird <lem, das W^asser bergenden Gefass die Gestalt
eines Vogelschnabels gegeben, mit Eck- und Backzähnen an der Aussen-
seite des Gefiisses, und in das Wasser hin(Mn wird das Auge eines Vogels
gezeichnet (Figg. 100, 101). Eine Combination beider Darstellungsweisen
zeigt die eigenthümlich oniamentale Fig. 98 (Cod. Land.).
Das W'asser, oder genauer gesagt, die Zeit, in der das W^asser
lH»rrscht, die Regenzeit, und die Oertlichkeiten, wo W^asser im Ueberfluss
vorhanden ist, verursachen Krankheiten, Rheumatismen, Fieber, Ausschlag.
Darum ist das Zeichen ein unglückliches, hfit Krankheit und Tod für die
<lavon Betroffenen, bezw\ unter ihm Gehörnen im Gefolge.
Als Patron diesc^s Zeichens ist wieder das entgegengesetzte Princip,
der Herr des Feuers, IxcoQauhqui, „der Gelbgesichtige*', Xiuhtecutli,
„der Herr d(»s Jahres" (oder der Herr des Smaragds), oder Xiuhatlatl,
„das blam» Wurfbrett", genannt, — mit gelber Farbe im Cod. Telleriano-
Remensis un<l Vaticanus A., mit rother im Cod. Borgia und Vaticanus B.
gemalt, der untere Theil des Gc^sichts und ein Querstreifeii über das Auge
schwarz. Das gegensätzliche Element, das Wasser, ist als breiter Strom
auch hier neben dem Gott zu sehen, — an die eigenthümliche Stelle im
SaHAüüN (»rinnenid, wo der Feuergott d(»r „Vater aller (iötter" genannt
wird, <ler in der Wasserherberge residirt un<l zwischen den Blumen, nehmlich
den zinnengekrönten Mauern, eingehüllt in „Wolken von Wasser", — offenbar
das Ft?uer als Blitzfeuer gedacht, ganz wie der indische Agni „der aus dem
Wasser (i(»borne" genannt winl.
In <len Passagen, wo diese Götter als Patrone der W^ochen angeführt
sind, ist gegenüber <lem Feuergott ein weissgefärbter Gott zu sehen, neben
dem im Cod. Tell(»riano- Remensis und Vaticanus A. <las Zeichen ce acatl
„eins Rohr" — der Tag des Verschwindens (<les Todes) QuetzalcoatFs,
an welchem dies(»r (lott sich in den Morgenstern verwandelt haben soll.
Die Interjireten erklären daher diese Figur als das Bild Tlahuizcal-
pantecutli*s, des Morgensterns. Ce acatl ist aber auch der Tag, au
2^
20 ^- Seler:
welchem der Tradition nach der Himmel geschaffen wurde (Cod. Tell.-
Rem. IL 32), der Tag des Weltanfangs, des Anfangs der Zeitrechnung
(„il primo gionio quando cominciö il tempo", sagt der Interpret des Cod.
Vaticanus A.). Wenn der Jahresanfang auf den Tag ce acatl fiel, fasteten
alle eine ganze Woche von 13 Tagen lang. Denn an diesem Tage war die
vorige Weltperiode zu Grunde gegangen und hatte die neue Weltperiode
begonnen, und an diesem Tage erwartete man auch die Zerstörung der
gegenwärtigen Welti)eriode. Dies hatte, nach der allgemeinen Anschauung,
durch Feuer zu geschehen. Die Idee des Weltuntergangs, wie sie sieh
an das Bild des Feuergottes knüpft, ist, meiner Ansicht nach, durch die,
dem Feuergotte an den genannten Stellen gegenüberstehende Figur und
die Legende ce acatl ausgedrückt.
10. itzcnlntli „Hmid". Der Kopf des Thieres wird gezeichnet schwarz
und weiss gefleckt, wie er auch im Cod. Mendoza, wo das Bild des Hundes
als hieroglyphisches Element viel verwendet wird, regelmässig erscheint.
Mitunter erscheint aber das Bild des Hundes auch roth gemalt (Fig. 103).
Der Himd wurde bei den alten Mexikanern als Schlachtthier gemästet.
Nebenbei aber spielte er eine wichtige Rolle bei den Leichenfeierlieh-
keiten. Um nach dem Todtenreiche zu gelangen, musste die Seele des
Abgeschiedenen den Chiconahuapan, den „neunfachen Strom", über-
schreiten, und dies konnte nur mit Hilfe eines rothen Hundes geschehen.
Darum versäumte man nie, dem Todten einen solchen Hund in das Grab
mitzugeben. Eben deshalb ist aber auch die rothe Farbe auszeichnendes
Merkmal für den Hund geworden. Die Fig. 103 zeigt gleichzeitig den
Hund mit abgeschnittenen Ohrspitzen. Das ist durch den lappigen obem
Rand des Ohres und die gelbe Farbe des Randes — in den Bilderschriften
allgemein für todte Körpertheile oder Wundränder verwendet — angedeutet.
Es scheint, dass den Himden, elie man sie dem Todten ins Grab nach-
warf, die Ohrspitze abgeschnitten ward. Denn dasselbe rotlie Ohr mit
der abgeschnittenen Spitze (dem gelben, lappigen, obem Rande) finden wir
für sich allein als Bezeichnimg des Tageszeichens itzcuintli verwendet
(Fig. 104).
Der Hund ist das Zeichen der grossen Herren, der Herrscher und
Richter auf der Erde. An diesem Tage wurden die Todesurtheile aus-
gesprochen und die unschuldig Eingekerkerten freigelassen. Könige, die
an diesem Tage erwählt wurden, hatten besondere Chancen. Und die
Menschen, die an diesem Tage geboren wurden, wurden grosse Herren,
reich und mächtig, freigebig, lassen sich gern bitten und ertheilen gern
Gnadengeschenke.
Der Patron dieses Zeichens ist, bezeichnend genug, Mictlentecutli,
der Todesgott, als solcher, theils in männlicher, theils in weibliclier Gestalt,
im Cod. Borgia 26 und an den entsprechenden Stellen des Cod. Vaticanus B.
7 und 80 gezeichnet. Neben ihm der aufgesperrte cipacter, (Erd-) Rachen,
Der Charakter der aitekischen und der Maya- Handschriften. 21
Tragbahre und ein an Diarrhoe und Hamergus« leidender Mensch (Affe).
In den andern Stellen des Cod. Borgia 45, Vat. B. 39 und im Cod. ToUeriano
Keniensis und Vaticanus A. ist auch hier wieder die Gegensätzlichkeit
zum Aus<lruck gebracht: <lem Todewgotte, dem Herrscher in der Unterwelt,
dem Ke)>rAHentanten der Nacht wird der Sonnengott, Tonatiuh, der Herr
des Tages, gc^genübergestellt.
11. O^^omatli „Affe**. Der Affe ist eine mythologische Gestalt. Darum
finden wir ihn kaum einfach realistisch <largestellt. Zum wenigsten trägt er,
nach Art der Fürsten und (rötter, Schmuck in dem Ohr (Fig. 106), und zwar
in «ler Kegel den, wie es scheint, etwas barbarischen Ohrschmuck des
Gottes TepeyoUotl und seiner Begleiter. Statt des sich nach vom sträubenden
Kopfhaares sieht man häufig einen Busch grünen Malinalligrases (vgl. das
nächste Zeichen). Gelegentlich auch (Cod. Borgia 16) ist die ganze Figur
in Malinalli-Gras gekleidet (Fig. 107). Und im Cod. Telleriano Kemensis
und Vaticanus A. trägt der Kopf des Affen regelmässig die Kopfbinde des
Windgottes Quetzalcoatl (Fig. 105). — Der Affe hat Beziehungen zum
Windgott. Er ist eben der schnelle, der flüchtige. Auch den arischen
Inilern ist der Affe Hänumau der vätaja, der „Sohn des Windes". In
mexicanischen Codices findet sich widerholt eine merkw^ürdige Darstellung,
wo wir *ien Todesgott und den Windgott Quetzalcoatl Rücken an Rücken
gelehnt dasitzen sehen. Im Cod. Land 1 1 findet sich eine ganz gleiche Dar-
stellung, wo wir aber statt des Windgottes die unverkennbare Figur des Affen
mit dem Rücken gegen den Todesgott gelehnt finden; erstorer hält das
Opfennesser, letzterer das ausgerissene Herz in der Hand. Dass wir also
den Affen mit den Attributen des Wiudgottes bekleidet finden, kann nicht
weiter Wunder nehmen. In dem Ausputz mit Malinalli-Gras scheint sich
eine Beziehung zum Tode zu offenbaren. Das Gesicht des Affen imitirt
den Todtenschädel. Und ganz an unsere Fig. 107 erinnernd, sehen wir im
Cod. Borgia 44 das Skelet, welches dem Sonnengott den abgerissenen Kopf
einer Wachtel darbringt, in Malinalli-Gras gekleidet.
Der Affe ist lustig und spasshaft und weiss seine Gliedmaassen geschickt
zu benutzen. Darum werden auch die, unter seinem Zeichen Geborenen
in allerluuxl — aber, wie es scheint, hauptsächlich brotlosen — Künsten
geschickte und erfahrene Leute, Künstler, Sänger, Tänzer, Clowns und
Spassmacher, — den Frauen ähnlich, fröhlichen Gemüths, doch nicht sehr
ehrbar.
Als Patron dieses Zeichens ist im Cod. Borgia 26, un<l entsprechend im
Cod. Vatic. B. 80 ein (lott gezeichnet, dessen nähere Beziehung durch einen,
n(»ben ihm im Wasser mit dem Netz fischenden Menschen zum Ausdruck
gebracht ist. Da an dieser Stelle in der Aufzählung der Gottheiten, gegen-
über dem Cod. Vatic. A. und Telleriano Remensis, eine Differenz auftritt,
indem diese — und die ihnen entsprechenden Stellen des Cod. Borgia und
Vaticanus B. — den Gott hier auslassen und dafür am Schlüsse» <ler Reihe
Di-r i'hxrakter An utfkiMhfD and der Uaya-UandKluift^iL 23
den FoutTgott liiazufageii, hd bin ic}i nicht im Stanile. ffir diosen Qott
fint-ii bfHtimmti'ii Nanioii anzn^tOjpii. [cli glaube ilni im Cod. Borgia 24 (wo
(>r in Parallele zu XocliiiiiiPlzJil sti-licn würdo) und an veracliiedenen Sudlou
dfs Cüdi'x Vienm-nsiK unter dt-ni Namen eliii-oinci xocliitl „sieboii ßlmiie"
wiederzni-rkeniivii, und wilrdi* deitlinlb ^oneigt »ein. in ihm ein niAnnlicliea
Annlogon der Xo{'liii)ui'tziil anzunehmen, «Um zu der obon gezeigten lk>-
deutung deti Zeicliena TortrefTlitli |>atiseu wQrde.
12. malllialll winl von den alten Autoren als „rierta yorra", „ein
*"'" g"ogräfieo8 de
gcwigseti
r>ExiüiEL
Mt'xico) ixt e«: — planta de los (iramineos.' conoeido per „ziicnte del
(.'arbonero". dura. aA|iom. Hbroim. (|ue fresca sin'e piirn formar las ancati del
carbon y para ooi^iui que la« aKegurnn. <l. h. uIko .Strohoeil" oder „Oros,
an» dem man Stroliseile fertigt". Damit seheint die Etymologie de»
Wortes zu ntimnien. Wir tiinlen im MOLINA: malius, onitlamatin.
.toreer »onlel encima del muflo-; malinqui-ninliunlli „cosa torcida".
Im Cod. Mendoza 13. 14. finden wir de» Ort Malinaltepee durch
einen lier;; dargestellt, der auf «einem (iipfel eine krautartige Pflanze mit
^•dben Itliithenköpfen (Fig. 108) trügt. I» dems<dben Codex 41. 11 dagegen
ist deroelbe Ort dureli einen Berg dargeittellt. der auf seinem (iipfel die
Fig. 109 tragt, d. li. einen Todtenaclu^del. detuen Wölbung gleichsam er-
24 £)• Seler:
setzt ist durch den grünen, mit gelben Blütlienköpfen besetzten Busch
dieses Krauts. Letztere Combination ist auch die übliche Darstellung des
Tageszeichens malinalli. Vgl. die Fig. 110 (Cod. Telleriano Remensis).
Doch findet sich daneben auch z. B. im Cod. Borgia 26 die Fig. 111, welche
den ganzen Busch der Pflanze mit den gelben Blüthenähren und zwei
aufgesteckten Fähnchen zeigt. — Anderwärts ist das Tageszeichen darge-
stellt durch einen blutigen Kiefer mit einer Zahnreihe (Fig. 114 Cod.
Fejerväry), denen noch bisweilen ein herausgerissenes Auge (Fig. 113 Cod.
Land) oder ein herausgerissenes Auge und ein grüner Busch (Federn?)
hinzugefügt ist (Fig. 112 Codex Laud). Wie das eine Darstellimg des
Wortes malinalli sein soll, ist schwer erfindlich. Ich glaube, dass der
andere Name itlan, der in der Liste von Meztitlan für dieses Zeichen
gebraucht wird und der mit „sein Zahn" übersetzt werden kann, hier
herangezogen worden rauss.
Das Zeichen hat einen bösen Ruf. Die alten Autoritäten SaHAGUN
und DüRAN erklären es — ich weiss allerdings nicht, ob vollständig un-
beeinflusst durch biblische Traditionen — als Sinnbild der Vergänglich-
keit, das Gras des Feldes, das schnell dahinwelkt. DüRAN hebt dabei
die Vergänglichkeit des Uebels hervor. Wie das Gras des Feldes jedes
Jahr welkt und im nächsten wicMh^r frisch ergrünt, so verfielen auch die
unter diesem Zeichen Geborenen jedes Jahr in eine schwere Krankheit,
erholten sich aber wieder von derselben. SAHAGUN dagegen hebt die
Vergänglichkeit <les Glückes für die unter diesem Zeichen Geborenen
hervor. Anfangs vom Glück begünstigt, wür<len sie plötzlich wieder ins
Elend zurückgeschleudert. Sie würden viele Kinder bekommen, diese
ihnen aber der Reihe nach wegsterben. Darum, giebt er an, vergliche man
dieses Zeichen einem reissenden Thier.
Patron dieses Zeichens ist ein Gott, der von den Interpreten Pantecatl,
der Gott des Weines, genannt wird. Als Götter des Weines (d. h. des
Pulque, des aus der Agave americana bereiteten berauschenden Getränkes)
wird im SAHAGUN eine ganze Reihe von Götter angegeben: Tezcatzoncatl,
Yiauhtecatl, Izquitecatl, Acolhua, Tlilhua, Pantecatl, Toltecatl,
Papaztac, Tlaltecayohua, Ometochtli, Tepuztecatl, Chimalpane-
catl, Colhuatzincatl. Wie man sieht, haben die meisten dieser Namen
patronymische Form. Man möchte vermuthen, dass durch diese ver-
schi(Mh»nen Namen die beson<leren Marken «les Getränke« bezeichnet worden
seien. Der Name Pantecatl üiuM sich auch darunter, und ihm wohnt
eine besondere Bedeutung inne, <\o\u\ Pantecatl heisst: der von Panotlan
(Pantlan, Panuco) d. i. der lluaxteki». Nach der Tradition aber ward der
Pulque unter den Olmeca Iluixtotin (d. i. den Bewohnern der atlantischen
Golf küste, südlich von Vera Cruz) erfunden, und bei dem (Jelage, welches
zu Ehren der Erfindung gegeben ward, zeichnete sich Cuextecatl
^iJuaxtecatl), der Häuptling der Cuexteca oder lluaxteca, durch seine
Unmässigkeit aus.
Der OharakteT der attekiBchen und d«r Mftjft-HandjchrifteD.
i&
Pantcoatl wird (üenialil tlcr Mayahiicl, <lcr riRftin iler Agavppflaiizp,
gonaunt, und iliiii wird das bosondcn- V4>rilii'ii)it zugoscliriebcii, dio nar-
kotisehvn Wurzeln i-iiMi'ckt zu haben, dio man dem l'uiquu zuHetzto, um
doKtioD borauHt-liondi* Wirkung; zu steigern.
Der (iott wird ii) barbarisclipr Tratdit ilargt-Btellt (Fig. I4C), mit einem
NaHcnriiig, wi« ihn dio (liittiii Tfteoinnnn oder Tlavolteotl trügt, und
auch in der Tracht an die letztere (lottin erinnernd. Da« i»t «in bvzoich-
nender Xug. Denn, wie wir unten zu urwälinen liaben worden, aeheint
auch die genannte (iijttin linaxtekinehon Urnprung» zu sein. Der <iott int
mit kriegeriKcIien Knibh>nn>n ansgestattet: ilnii gegenüber oder vor üini
herschreitend ist ein Tiger gezeichnet, oder in Adler- und Tigertraclit ge-
kleidete Krieger, — Sinnbilder der Tapferkeit (quauhtli ocelotl „Adler-
Tiger" int Ilezeichnung der hervorragendsten nnd tapferMten Krieger).
Denn der Itauueh macht tajifer; auch durften, wie ch «cheint. an den
Pulqupgt'liigen mir alte Männer und Soldaten Theil nehmen.
Der KnltuH. der mit dem l'nlquegott. bezw. mit dem Pulque «ellwt
Ketriehen wunle, bat noch «eitle besondere Hedeiitung. Ohne Zweifel
wurde unter dem llilile des Weins, des kräftig und stark ninehenden, der
Hegen verstnudeii. der der Krde Kraft und Starke giel)t. Der Regengott
selbst heisst bekmiiitlicb TliiUtc d.h. „Wein der Krde". In der llelacion
von Meztitlan sind als Hau|>tgütter genannt: Ometocbtli. Tezcatiipuca.
llueitonantzlii .1. h. der Weiiigott (Hegengott), der (iott der Dürre und
des Winters nn<l die (iottin der Krde. Von dein tiott des Weines (Ome-
tnchtli) wird hier erzählt, dass ihn Tezcatlipuca erschlägt, dass aber
der Tod desselben nur wie der Schlaf eiiu-s Trnukeneii sei, dass nachher
fler (Iott gesund und frisch wieder auferstehe, — ein durchsichtiger Mythns,
26 S* Seleb:
I der uns den Wechsel von Dürre und Regen, von Kälte und Wärme, von
Winter und Sommer veranschaulicht. Aus dieser mythischen Bedeutung
I des Weines (Pulque's) leiteten sich ohne Zweifel die strengen Strafen ab,
! die auf den unberechtigten Genuss desselben gesetzt waren, und die die
! Spanier so in Erstaunen setzten und von ihnen als (Tij)fel pädagogischer
Weisheit gepriesen wurden. Der Genuss des Pulque, ausser in den durch
den Kultus streng vorgeschriebenen Fällen, war einfach ein Sakrileg und
ward als solches gebührenderweise mit dem Tode bestraft.
13. ocatl „Rohr". Als hieroglyphisches Element im Codex Mendoza
häufig durch die, aus den steugelumfassenden breiten Blätteni sich auf-
bauende Maisstaude ausgedrückt. Als Tageszeichen durch den Pfeil-
schaft, mit (Fig. 118. lU)) oder ohne (Fig. 115 — 117) Feuersteinspitze, aber
regelmässig mit, unterhalb des Scliaftendes angebrachten Federn bezeichnet.
Wie das Rohr inwendig hohl und marklos ist, so sollten auch die
unter diesem Zeichen Geborenen hohle Köj)fe ohne Herz und ohne Ver-
stand sein, Leckermäuler, Müssiggänger.
Als Patron dieses Zeichens ist im Cod. Borgia 27 ein Tezcatlipoca mit
verbundenen Augen gezeichnet. Dem entspricht im Cod. Borgia 46 eine
Gruppe, bestehend aus der Figur Tezcatlipoca 's (Fig. 148) und eines
Gottes mit ganz verbundenem Gesicht, dessen Kopf von einer homartig
gekrümmtem Mütze bedeckt ist, von der ein Pfeilschaft ausgeht (Fig. 149).
Ganz die gleichen charakteristischen Attribute trägt die ents])rechende
Figur des Codex Vaticanus A. und des Codex Telleriano-Remensis, die
von den Inteq>reten als Itztlacoliuhqui, Gott der Kälte und weiter der
Verhärtung, der Verblendung, der Sünde erklärt wird und dem, wie sie
angeben, auch ein Sternbild am südlichen Himmel entsprechen soll. Als
Nebenfiguren sieht man im Cod. Borgia 27 einen Excremente fressenden Men-
schen, im Cod. Borgia 46 einen Pulquetopf und einen am Boden liegenden
Menschen, endlich im Cod. Vaticanus A. und Telleriano-Remensis das
Bildniss der gesteinigten Ehebrecherin.
Der Name Itztlacoliuhqui bedeutet „das Scharfe, Gekrümmte" oder
„das krumme Obsidianmesser". Als Gott der Kälte wird Itztlacoliuhqui
auch von SaHAGüN bezeichnet. Der Zusamnu»nhang mit Tezcatlipoca,
der in den (erwähnten Darstellungen vorliegt, spricht sich übenlies im
Namen — Itztli, „der Obsidian", ist einer der Namen Tezcatlipoca's —
und in der Bedeutung des Gottes aus. Denn Tezcatlipoca, „der rauchende
Spiegel", ist ohne Zweifel der Gott der Dürre und der Kälte, des Winters
und der Dunkelheit, der Moloch <ler mexikanischen Mytliologie. Und
ebenso ist er der die Sünde strafende Gott.
Zu den Festlichkeiten des Besenfestes (ochpaniztli), <lie zu Ehren
der Erdgr>ttin Teteo iunau o^ler Toci gefeiert wurden, gehört «las Auf-
treten Cinteotl Itztlacoliuhqui's. Zu <lem Zwecke wurde von dem
zu Ehren der Göttin geköpften Opfer (»in Stück «ler Schenkelhaut ent-
Der Charakter der aztekischen und der Maja -Handschriften. 27
nommen und daraus die Maske itztlacoliuhqui gearbeitet. Die Maske
bestand aus einer Kapuze aus Federarbeit, welche sich nach hinten ver-
längerte und mit einer hahnenkanimartigen Krone en<lete, — die Beschreibung
entspricht genau der Art, wie die hornartig gekrümmte Mütze Itztlacoliuhqui's
im Cod. Telleriano-ltemensis und Vaticanus A. dargestellt ist. Mit dieser
Maske ward dann Cinteotl, der Sohn der Teteoinnan, bekleidet, der in
dieser Verkleidung bei den weiteren Festlichkeiten eine bedeutende Rolle
zu spielen hatte.
Es hat zunächst etwas Befremdendes, den Namen der Maisgottheit
(Cinteotl) mit dem des Gottes der Kälte (Itztlacoliuhqui) verbunden
zu sehen. Nach der Auffassung der Mexikaner gingen sowohl die günstigen,
wie <lie schädlichen, in einer Sphäre sich geltend machenden Einflüsse von
derscdben, in dieser Sphäre herrschenden Gottheit aus. Nach dem Cod.
FiKMileal sendet Tlaloc sowohl das gute Wasser, welches die Saaten wachsen
lässt, wie das böse, welches die Saaten ersäuft, das kalte, welches die
Felder vereist, und den Schnee, der die aufkeimenden Saaten unter seiner
Decke begräbt. Der Interpret des Cod. Telleriano-Remensis erklärt die
Fruchtbarkeit und Nahrung spendende Erdgöttin Tonacacihuatl als „la que
causava las hambres", die, welqhe die Hungersnöthe verursacht. Und nach
DURAN erhält die Göttin der Maisfrucht den Namen Chicome coatl
„Sieben Schlange** wegen des Unheils, das sie in den unfruchtbaren Jahren
anstiftet, wenn das Korn erfriert und Hungersnoth eintritt
14. ocelotl^) „Tiger** oder richtiger „Jaguar (Felis onca)". Es wird
entweder das ganze Thier gezeichnet, durch das gelbe oder braune, gefleckte
Fell und die mit langen, gekrümmten Klauen versehenen Pranken leicht
kenntlich. Seine reissenden Eig(»nschaften sind häufig noch durch, in der
Peripherie des Thieres angebrachte Feuersteinmesser besonders gekenn-
zeichnet. Oder es ist nur der Kopf gezeichnet (Fig. 120, 121), durch die
Rundung und die Flecken ebenfalls leicht kenntlich. Endlich wird, wie
beim Hunde, nur das Ohr gezeichnet (Fig. 122, Cod. Fejervary), dessen
Besonderheit in der Breite und Rundung und in der schwarz gefärbten
Spitze liegt.
Die kriegerischen Eigenschaften <les Thieres vererben sich auch auf
«lie unter diesem Zeichen (leborenen. Sie werden tapfer und unerschrocken,
aber auch gewaltthätig und lasterhaft, insbesondere in erotischen Dingen,
und nehmen, wio die Krieger überhaupt, ein unglückliches Ende. Auch
1) Ich habe, dorn Gebrauch der spanischon Historikor gemäss, dieses Wort in der
liege] mit .«Tiger* übersetzt Ich glaubte, nicht so penibel sein zu dürfen, weil kein
Mensch in Mexico an den bengalischen Tiger denken wird. Der Name yaguar oder
jahuora bedeutet übrigens in der Sprache, aus der das Wort entnommen ist^ jedes
reissende, fleischfressende Thier, Hund, Katie u. s. w. und wird sogar auf Fische, Vögel
und Insecten angewendet. Der ocelotl der Mexikaner heisst im <ruarani yagnar-et^,
.das Achte Raubthier*.
28 E. Seler:
die Frauen, die unter diesem Zeichen geboren sind, worden hochmüthig
und lasterhaft.
Patron dieses Zeichens ist, nach Angabe der Interpreten, Tla^olteotl,
auch Ixcuina und Tlaelquani genannt. Der Name Tlavolteotl heisst
„Gottheit der Liebe"; die Göttin ist aber keineswegs eine Patronin der
Sinnenlust und der Schamlosigkeit („la Venere impudica e plebea", wie
BOTUßlNI angiebt), sondern umgekehrt, eine Göttin der sittlichen Gebunden-
heit, Patronin der Ehe. Vor ihrem Bilde steinigte man die Ehebrecherinnen.
Und diejenigen, welche sich in diesem Punkte vergangen hatten, waren
genöthigt, zu ihren Priestern zu gehen und dort ihre Sünde zu beichten.
Aber nach mexikanischer Auffassung wurden sie durch diese Beichte auch
ihrer Sünde vollständig quitt, straflos auch der weltlichen Gewalt gegenüber.
Und darum heisst die Göttin Tlaelquani, die „Dreckfresserin", weil sie
den Schmutz der Sünde vollkommen wegnimmt.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Göttin mit der Erdgöttin
Teteoinnan oder Toci identisch ist. Im Cod. Telleriano-llemensis mid
Vaticanus A. ist sie in die abgezogene Haut des Opfers gekleidet dar-
gestellt und mit weissen Federn besteckt, ganz wie TORQUEMADA u. A.
den Putz der Erdgöttin beschreiben. In dem SAHAGUN-Manuscript der
Biblioteca Laurentiana zu Florenz ist sie mit dem Besen in der Hand ab-
gebildet, dem bekannten Attribut der Teteoinnan. Umgekehrt ist das
Bild, durch welches im Cod. Telleriano-Remensis und Vaticanus A. der
achte Monat ochpaniztli bezeichnet wird mid w^elches unzweifelhaft die
Erdgöttin Teteoinnan darstellt, in Ansehen, Tracht und Ausstattung in
jeder Beziehung gleich der Göttin, welche von den Interpreten als
TlaQolteotl bezeichnet wird. Und wie die Teteoinnan sich als huax-
tekische Göttin dadurch charakterisirt, dass bei ihrem Hauptfeste (ochpaniztli)
die ihr Gefolge bildenden Leute als Huaxteca verkleidet einher gingen,
wie P. DURAN berichtet, so erzählt auch von der TlaQolteotl der
P. SAHAGÜN, dass sie hauptsächlich von den Mixteca und Olmeca —
d. h. nach seiner Nomenclatur, von den Bewohnern der atlantischen (lolf-
küste — und von den Cuexteca (d. i. Huaxteca) verehrt worden sei,
während im Westen, in Michoacan, ihr Cultus ganz unbekannt gc^blieben 8(m.
Die fragliche Göttni Teteoinnan-ThiQolteotl finden wir in unseni
Codices mit den beiden, über der Stirn wie Homer aufrecht stellenden
Flechten — der bekannten altmexikanischen Weiberfrisur — abgebildet, «las
Haar ausserdem durch ein rund um den Kopf laufendes weisses, gefloch-
tenes Band zusammen gehalten, in welchem (»in paar Spindeln stt^cken.
Ein älinliches Band hängt aus dem durchlöcherten Ohrlappen heraus. Der
untere Theil des (Jesichts ist mit einer dicken Lage schwarzen Kautschuks
bedeckt und in der Nase trägt sie denselben eigenthflmlich gekrümmten
Ring, <len wir schon bei Pantecatl gesehen haben. Es scheint sich hierin
die landsmannschaftliche ViTwandtschaft der beiden (lottheiten zu erkennen
Dor Charakter der astekischen ond der Maya- Handschriften. 29
zu fi^oboii. Vjifl. Fi«j:. 147. Das (ic^wniul ist lebhaft colorirt, moist doppol-
farbij;, uihI mit «i^oasoii, ^olbon (^oldonen), halbnioii<lfÖrmigeii Vorzioninj^en
versehtMi. (I)io Huaxtooa waren berühmt als Verfertiger der ceiitzon-
tilmatli oder centzoii quachtli, der buuteiu vielfarbigen Mäntel und
Decken.)
Der (löttin gegenüber sieht man (Cod. Borgia 27 und an den (Mit-
sprechenden SteUen de« Cod. Vat. B.) einen Tempel, in dessen offener
Thür eine Kuh» steht, — wie es seheint, das dunkle Haus der Erde be-
zeichnend. Im Cod. Borgia 47 und entsprechend im Cod. Vat. B. 36 ist ihr
geg(»iulber die F(»u(»rschlange und ein ähnlicher Temjxd, in dessen offener
Thür ein Raubvogel steht, d(T aber mehr an den cozcaquauhtli der Hand-
schriften erinnert. Im Cod. Telleriano Remensis und Vatieanus A. endlich
steht ihr gegenüber eine, in das dunkle (refieder eines Nachtvogels ge-
kleidete menschliche Gestalt, — von den Interpreten als Abbild Tez-
callipoca's erklärt. Anden^'ärts (Cod. Borgia 60) erscheint auch neben
der Göttin das Bild der Nacht (Fig. 150), dargestellt durch das mit Stornen-
augen besetzte Dunktd und das Bild des Kaninch(»ns in wässerig blauem
Fehle, — das Sinnbild des Mondes.
15. qaaahtli. der „Adler". Das Thier ist theils in ganzer Figur
(Fig. 125), theils nur als Kopf gezeichnet (Fig. 123, 124), meist sehr natur-
getreu untl leicht kenntlich, das Gefieder weiss mit schwarzen Spitzen oder
schwärzlich. Die» räuberische Natur, wie bei dem Thier des vorigen
Zeichens, wiederum durch Feuersteinmesser bezeichnet (Fig. 125), welche
an den Enden der Nackenfedeni oder in der Peripherie des Köq)er8 an-
gebracht sind.
Das Zeichen theilt in jiMler Beziehung die kriegerischen Qualitäten
des vorigen, sowohl in Beziehung der Männer, wie der Weiber, nur dass
(nach DrRAK) der Adler noch einen besondeni Hang zu Raub und Dieb-
stahl ertheilt.
Der Patron «lieses Zeichens ist der Gott Xipe „der Geschundene**,
auch Totec, „unser Herr" (s(»nor terrible y espantoso), und Tlatlauhqui-
tezcatl, „<ler rothe Spiegel", genannt, — der Repräsentant des Krieges, dem
im zweiten Monat das Fest tlacaxipehualiztli. „Menschenschinden", ge-
feiert ward, bei welchem <ler Gott repräsentirt ward durch, in die abge-
zogene Haut der Opfer gekleidete jung(» Leute.
An <len hier angezogenen Stellen der Handschriften ist der Gott nicht
überall in tjr])ischer Gestalt zu sehen. Nur im Cod. Borgia 48 und ent-
sprechend im Cod. Vat. B. 35 (Fig. 151) und 5 sieht man das, mit
der gelben abgeschundenen Menschenhaut überzogene (Jesicht, das nur den
Augenschlitz erkennen lässt, den brandrothen Streifen über die ganze
Länge der Backe und den eigenthümlichen Nasenjiflock, der die spitze,
mit flattemdcMi Bändern umwickelte tzapotekische Mütze des Gottes imitirt.
An denselben Stellen ist vor dem Gott auch sein Stab (Fig. 152), das von
30 E- Seler:
flatternden weissen, roth gestreiften oder roth punktirten Bändern um-
wickelte tlachieloui („Lorgnette"). — Im Cod. Borgia 28 dagegen und ent-
sprechend im Cod. Vat. B. 78 sieht man einen, in der Weise Tezcatlipoca's,
nur roth und gelb, also als Tlatlauhqui Tezcatlipoca bemalten Gott^
der eine Todtenhand vor der Nase hält. Aber den Kopf bedeckt eine
rothe, mit weissen Federbällen besteckte Kapuze (Fig. 153), ganz ähnlich
der Schulterdecke, welche der Gott in den vorher angeführten Stellen trägt.
— Im Cod. Telleriano Remensis und Vaticanus A endlich ist ein Gott, in
der Haltung des Sonnengottes, gemalt, WaflPen in der einen, eine Wachtel
in der andeni Hand haltend. Doch zeigen auch hier die herabhängenden
Hände der abgeschundenen Menschenhaut und das in dachziegelförmig sich
deckende grüne Federn auslaufende, hemde- oder kittelartige Gewand den
Gott Xipe und den tzapotekischen Gott an.
An allen Stellen aber ist, als Symbol und Characteristicum des Gottes,
ihm gegenüber die culebra QuetzalcoatI gemalt, die grüne Federschlange,
— im Cod. Borgia 29 und entsprechend im Cod. Vat. B. 5 u. 78, ein
Kaninchen, au den anderen Stellen einen Menschen verschlingend, — dar-
gestellt.
16. cozcaqaaahtli heisst: „Halsbandadler". In MOLINA's Wörterbuch
wird als Bedeutung des Wortes angegeben „aguila de cabeza bermeja",
„der Adler mit dem rothen Kopf", und gemeint ist der Königsgeier,
Sarcoramphus papa Dum., von den Spaniern „rey de zopilotes" genannt. —
Von dem Thiere ist stets nur der Kopf gezeichnet. Der Schnabel ist weiss
(beim Adler gelb!), und über dem Auge ist die unbefiederte, rothe Kopf-
haut kenntlich. Regelmässig ist Ohr mit Ohrgehänge gezeichnet (Fig. 127
Cod. Borgia). Mitunter ist ihm auch eine Art Haarperrücke (Fig. 128 Cod.
Land) oder ein schleifenartiger Kopfputz (Fig. 126 Cod. Telleriano Remensis)
gegeben.
Der Geier hat einen kahlen Kopf, daher wird er zum Sinnbild des
Alters, des langen Lebens, der Schwächen und Vorzüge des Alters. Denen,
die unter seinem Zeichen geboren wurden, sagte man nach, dass sie ein
hohes Alter erreichen, und dass sie sich wie alte Leute gebahren, gern
Rath ertheilen, Zuhörer und Schüler um sich versammeln würden, u. s. w.
Der Patron dieses Zeichens ist ein, mit Tigerkrallen und Schmetterlings-
flügehi versehener Dämon, den die Interpreten Itzpapalotl, „Obsidian-
schmetterling", nennen. Die Interpreten, die überall einen Sündenfall
witteni, geben an, dass Xomunco oder Xounco, die erste geschaflPene
Frau, nacli ihrem Fall in diesen Dämon verwandelt worden sei. In allen
Codices ist diesem Dämon gegenüber ein umgebrochener Baum gezeichnet,
aus dessen offener Wunde Blut fliesst. Die Inteq)reten sagen, dass dies
der Baum des Paradieses sei, und nennen ihn deshalb Tamoauchan —
„wir suchen unsere Heimath", das irdische Paradies, nach SaHAGÜN, das
zu suchen die wandernden Stänmie sich aufmachten, — oder Xochitli-
Der Charakter der sitekiHchen und der Hkfa-HuittBchrifUii.
31
cacan. „den Ort, wo man Bluimin pflilckt". Der ganze Mythus, auf eleu
<Iio lnt<>r|)r('ti'ii aiiRpioh-ii, ist aus aiiiloni Quellvii nicht bekannt.
17. oUln erklärt ÜUfiAN als „eosit quu xu uiiila ö ev inonca" und
eafjt (tiisrt ilas Zeichen auf diu Homic ainjewondi't würde. Wir haben in
der That das Zeitwort olini, ooliii oder olinia, oninolini „menoerse 6
moverse", dtis aber da» obif^o Wort als (Jruiidwort voraussetzt. Dagegen
finden wir nlli. utÜ „Kautsidinek" und otlin, oliu „der Kautschukball",
mit wekliem das nationale Bpiel tlachtli gespielt ward. Es ist l)ekannt,
dass der Lauf der Sonne ain Firmament nntor dem Bilde des Ballspiels
angi-Miliaut wurde. Die beiden Antn^^onisten, Quetzalcoatl und Tez-
catli]>ocn. die den üe(;unsatz von Sommer und ^Vinter, von Tag und
NiU'lit zu rcpriUentiren scheinen, spielen (nach HbNDIETA II c. 5 p. 82) Hall
mit einander. Die beiden Lichtheroen der Qu'iche , H una li p u und
Xbalanque, die an einer Stelle des Popol Yuh als „Sonne" und „Mouil"
erklärt werden, sind die berühmten Ballspieler, von deren Spiel die Erde
erdröhnt, die auf die Hcraustordemng der Fürsten der Unterwelt in das
Reich des Todes, Xibalba. hinabsteigen und nach Ueberwindung der unter-
weltlichen Mächte siegreich wieder zum Erdboden emporsteigen. Im Cod.
Borgia finden wir auf Tafel 4 der KlNGSBOBOUGHschen Zählung die
bekannte Figur des Ballspielplatzes, tlachco (Fig. 154), von Stemenangen
umsäumt, darflber liegend ein cipnctli, aus dessen aufgesperrtem Rachen
das tiesirht des Himmelsgottes Tonacatecntli hervorschaut. Auf dem
Platze selbst spielen zw<,'i schwarze Gottheiten Ball. Der Ball des einen
(Fig. 155) ist dunkel (blau) gefärbt und hat das Anaehen eines Todten-
schädcls; der andere (Fig. 156) stellt eine gelbe Stndilenscheibe mit einem
Auge in der Mitte dar. Dass diese beiden Bälle die am Himmel auf-
ziehenden Tagen- und Nachtgestime, Sonne und Mond, symbolisire», er-
scheint mir zweifellos.
Die bildliche Darstellung des Tageszeichens ollin zeigt zwei verschieden
gefärbte Felder, das eine in itcr Rc^gel blau, das andere rotli. welche eine
mittlere Rundung uml zwei nchräg verlaufende Enden haben un<l entweder
hart aneinander liegen, nur durch eine gelbe Linie getrennt (Fig. 129) oder
an den Kuden divergiren (Fig. 130). Dazu kommt in den Darsttdlungen
des Cod. Telleriauo Remensis und Vaticanus A-, sowie auf Sculpturen
32 E. Sbler:
eiuo Art von Pfeil, der eine Mittellinie zwisclien den bei<len divergirenden
Feldern herstellt (Fig. 131). Der kleine Kreis, in welchem die beiden
divergirenden Felder sieh berühren, erscheint in diesen mehr ausgeführten
Darstellungen als Auge. In den runden Ausbuchtungen der Felder sieht,
man hier und da (z. B. Cod. Mendoza 42, 22 s. v. Olinalan) einen kleinen
Kreis niarkirt. Das grosse Bild des Zeicht^ns ollin endlich, welches das
Centrum der Oberfläche des sogenannten Kalendersteins, des grossen, unter
König Axayacatl angefertigten Sonnensteins, einnimmt, zeigt in der Mitte,
statt eines Auges, das Gesicht des Sonn(»ngottes und in den runden Aus-
buchtungen die krallenbewaffuete Pranke eines Tigers. Als besondere
Variante erwähne ich noch Fig. 132 (Cod. Borgia 29), wo, statt der in <ler
Mitte sich berührenden divergirenden Felder, zwei bogenförmig gekrümmte,
übrigens ebenfalls verschieden (l)lau und roth) gefärbte Stücke sich ver-
schlingen.
Man hat neuerdings (Anales Mus. Nac. Mexico TI) versucht, diesem
Zeichen eine bestimmte astronomische Bedeutung beizulegen, und es als
die graphische Repräsentation des scheinbaren Ijaufes der Sonne, wie er
im Verlaufe eines Jahres sich darstelle, erklärt. Nach dieser Auffassung
würde der Pfeil, der auf einigen Darstellungen des Zeichens ollin zu sehen
ist, die Richtung von Osten nach Westen, und die Linien der auseinander
gehenden Felder die Richtungen bc^zeichnen, (Wo vom Standpunkte des
Beobachters aus nach dem äusserstcMi nördlichen und äussersten südlichen
Punkt des Sonnenaufgangs, bezw. Sonnenuntergangs, gehen. — Mir scheinen
die beiden verschieden gefärbten Fcdder nur die» helle und die dunkle
Wölbung, den Taghimmel und den Nachthimmel, zu bedeuten, an welchem
das Tages- un<l das Nachtgestirn entlang rollen, wie der Kautschukball
über den Ballplatz fliegt. Ich v<»rgl(Mche so das Tageszeichen oll in dem
Felder]>aar, das in den Maya-llandschriften von <len viereckigen Himmels-
schildern herabhängt und auf seiner Fläche» das Bild der Sonne oder des
Tag(»s un<l des Mondes oder der Nacht trägt. Vergl. Fig. 157 u. 158.
Das Zeichen ist seiner astrologischem Bedeutung nach zweiftdhaft. Die
unter ihm Geborenen werden, nach SAHAGUN. bei guter Erziehung glücklich,
bei schlechter unglücklich. Nach DURAN verheisst es den MänncTU Glück,
es werden Sonnenkinder, glänzend wie die» Sonne, glücklich und mächtig,
denn <lie Sonne ist die Königin unt(T den (n^stinien, die unter diesem
Z(»ich(»n geborenen WeibcT (higegen wenlen zwar reich und mächtig,
bleiben aber dumm.
Als Patron «lieses Zeichens ist im Cod. Borgia 29 ein Gott gezeichnet,
mit verkrümmten Händen und Füssen und herausgerissenem Auge. Da-
rüber sieden in (»inem Topfe Kopf und Gliedmaassen ein(»s Menschen. In
den entsprechenden Stellen (Blatt 4 und Blatt 77) des Vaticanus B. ist,
statt des obigen Gottes, ein Thier, wie ein Coyote, gefleckt, mit sich
sträubendem Haar und heraushängender Zunge, gezeichnet. Darüber aber
I.
Der Charakter der aztekischea und der Maya-
Handschriften.
Vorgetragen in der Sitzung vom 16. Juli 1887 der Berliner (icsellscliaft für Anthropologie,
Ethnologie nnd Urgeschichte
von
Dr. K SELER
in Berlin.
(Schluss.)
Ich fijehe nun zu den XanuMi über, mit welchen von den Völkern des
llaya-Sprachstiunnies die 20 Tage bezeichnet wurden, und zwar führe ich
die Namen an, welche (nach NUNEZ DE LA VEGA) im (lebiet des Bisthums
Chiapa«, d. h. unter Zotzil un<l Tzental im (Jebrauch waren, fenier die,
womit Qu'iche und Cakchiquel, und en<llich die, mit welchen die Maya von
Vucatan die Taj^e bezeichneten. Ich hebe gleich hervor, da»» einzelne
dieser Namen, ihrer Bedeutung nach, genau mit einzelnen mexikanischen
üben»instinnn(»n, dass diesen Namen auch in der Liste dieselbe Stellung
(dieselbe Nummer), wie den entsprechenden mexikanischen zuk(»mmt.
endlich, dass dasjenige Zeichen (mox, imox), welches darnach in seiner
Stellung dem Zeichen cipactii. «lem Anfangszeichen der mexikanischen
Liste <Mits]>rechen würde, auch in der Tzental- und in der Cakchiiiuel-
Liste djis Anfangszeichen bihlet. Die Maya-Aufzahlungen beginnen freilich
nicht mit diesem, sondern mit dem folgenden vierten der Liste (kau).
So w(»nigstens «lie im LaNDA und in den anderen Autoren gegebenen Auf-
zahlungen. Ich fin«le intles im Cod. Tro 36 und im Cod. Cortez 22 — das
letztere Blatt bildet die genaue Fortsetzung und Ergänzung des ersteren
— die Tageszeichen von imix an bis zum folgenden dreizehnten auf-
geführt mul darunter, zum deutlichen Zeichen, dass die Reihe mit imix
beginn<»n soll, die Zahlen von l — 13 hingeschrieben. Aehnlich beginnt im
Cod. Cortez 13 — 18 die Reihe der 52 uacli dem Schema kan-muluc-ix-
cauac zusammengestellti'u Tetraden von Tageszeichen mit dem Zeichen
imix, bezw. der Tetradt» innx-chicchan-chuen-cib. LaNDA selbst
sagt an einer anderen Stelle (§ 39), «hiss die Maya ihre TageszÄhlung oder
ihren Kalender mit dem Zeichen liun imix (d. h. eins imix) beginnen.
aStitacbrift für RtbnoloKlc. Jabrr.'lBU. 4
42
E. Seler:
Das« also imix = imox == cipactli auch hier das eigentliche Anfangs-
zeichen der Reihe ist, unterliegt mir keinem Zweifel. Der Grund, dass
abweichend bei den aztekischen Völkerschaften hier und da die Zählung
mit acatl, bei den Maya abweichend mit kan begann, liegt daran, dass
sowohl acatl, wie kan, zu den vier Hauptzeichen gehören, mit denen die
aufeinanderfolgenden Jahre bezeichnet werden, und zwar bezeichnen beide
Zeichen diejenigen Jahre, welche dem Osten, der Region der aufgehenden
Sonne, der Region des Anfangs, zugeschrieben wurden.
Ich lasse nun die Namen der Tageszeichen, mit imox-imix= cipactli
beginnend, folgen.
(Cakchiquel)
imox
(Tzental)
1. mox (imox)
2. igh
3. votan
4. ghanan
5. abagh
6. tox
7. moxic
8. lambat
9. molo (nmlu)
10. elab
11. batz
12. euob
13. been
14. hix
15. tziquin
16. chabin
17. chic
18. chinax
19. cabogh
20. aghual
i^k
a' kbal
kat
can
camey
quell
kanel
toh
tzii
batz
ee
ah
viz
tziquin
ahniac
noh
tihax
caok
(Maya)
imix
ik
akbal
kan
chicchan
cimi (cimiy)
manik
lamat
muluc
oc
chuen
eb
ben
ix (hiix)
men
cib
caban
ezanab (esuab)
cauac
ahau
hunahpu
Die Analyse dieser Namen und die Deutung der Zeichen, welche
diese Namen tragen, ist unghMch schwieriger, als die der entsprechenden
m(»xikaniscli(»n. Die Namen sind aus der gegenwärtig gesprochenen oder
uns bekannten Spracht» nur zum kleinsten Theil erklärbar. Sie l)ildeten
ohne Zweifel wohl den iJestandtheil einer priesterlichen CJeheimsprache,
welche alte Wortformen, symbolische Ausdrücke oder vielleicht auch die
Formen verwandter Dialekte verwendete. Die Zeichen sind uns leider
nur aus den Maya-Scliriften bekannt. Kei den andern Stämmen haben
bildliche l)arst(»llungen derselben sicher auch existirt; man hat aber ver-
säumt, zur rechten Zeit davon Notiz zu nehmen. Die Zeichen in den
Maya-Schriften selbst sind, wie die Maya-Hieroglyphen überhaupt, ab-
br(»viirte - durch die Gewohnheit, auch complizirte Zeichen in denselben
Der Charakter der aztekischen und der Majra- Handschriften. 43
Raum zu bringou, uud durch den hingen Gebrauch — sUirk veränderte,
current niul abge<j;riffen gewordene Bihler, deren ursprünglichen Sinn zu
entrilthsehi, vielfach fast unmöglich scheint. Immerhin scheint au8 einer
genaueren Analyse von Wort und Zeichen doch hervorzugehn, das« die
Uebereinstimnunig der Maya-Listen mit der mexikanischen, die an einzelnen
Stellen handgreiflich ist, für sümmtliche Zeichen der Liste giltig anzu-
nehmen ist.
1. mox (imox), imox, imix. Das Cakchiquel-Wort imex über-
setzt der (iraimmatiker XlMENEZ mit ^Schwertfisch", also entsprechend
der üblichen Erklärung des mexikanischen cipactli. Ich vennuthe, dass
diese Uebersetzung nur der Ausdruck der Parallelisirung mit dem
mexikanischen cipactli ist. — PEREZ vermuthet, dass imix durch
Umstellung aus ix im „Mais" entstanden sei. Doch widerspricht dem
die Cakchi(pn»l-Form imex direct; denn auch im Qu'iche und Cakchiquel
heisst ix im der „Mais". Ohne Zweifel liegt eine Wurzel „im" zu
Grunde, von der das im Maya, wie im Qu'iche und Cakchiquel gebräuch-
liche Wort im „die weibliche Brust" abgeleitet ist, und mit der
auch Maya in-ah „Same", ilm-ah uinicil „semen virile", Qu'iche in
„sich vermehren" zusammenzuhängen scheint.
NUNEZ DE LA VEGA, der in den Canan-Ium, den „Hütern des Dorfs"
und in d<»n „I.owen des Dorfes", die auch Cham genannt würden, die
Erinnerung an Ilam, den Vater der Schwarzen sieht, identifizirt imex mit
Ninus, dem Sohne BeFs, dem Enkel Nimrod's, dem Urenkel Chus's, dem
Urenkel Ham's. Im U(d)rigen, sjigt er, hinge die Verehrung des Imox
zusanmien mit der Ceiba (d. i. Bombax Ceiba), „eines Baumes, der auf
dem Ilauptplatz ihrer Dorfer gegenüber <lem (u»meindehaus anzutreffen ist,
un<l unter dem sie die Wahl ihrer Gemeindevorsteher vornehmen; imd sie
bcTäuchern ihn mit Käucherpfannen und halten für gewiss, dass ihre
Ahnen in den Wurzeln joner C(»iba ihren Wohnsitz haben."
Die Ceiba ist der yax-ch<'» der Mayji, der „grüne Baum" — oder
auch <ler „erste Baum", d(»r „Baum des Ursi)rungs", — auch nach yuka-
tekischer Anschauung der Ort, unter dessen Schatten die Gestorbenen von
den Mühen des irdischen DascMUs ausruhen (Laiula § 23). Er ist insofern
eine Parallele des mexikanischen Tlalocan, der Sitz der Fruchtbarkeit,
und ohne Zweifcd ein Symbol der Erde, die aus ihrem Schoosse alles ge-
bit»rt und alles Lebendig!» wi«MbT in ihren Schooss aufnimmt. — Die
Grundbedeutung uns(Tes Zeichens scheint demnach in der That dieselbe
zu sein, wie die des mexikanischen cipactli.
Schwieriger ist (»s, über das Bihl ins Reine zu kommen. Das
Zeichen wird in den Handschriften und im LaNDA in ziemlich gleicher
Weise geschrieben (Fig. 161). Aehnlich auch auf der rechten Seite
(VI, 5) der Altarplatt(» des ersten Tempels des Kreuzes in Palen(|ue
(Fig. 162), auf dem von CHARNAY publicirten Kelief (So, 25, IL 3) aus
4»
44 E:. Skler:
Lorillard City (Fig. 163) und als hieroglyphiücheH Element in dem eben-
daher stammenden Relief Nr. 23 der CHABNAY'scIien Sammlung. Der dunkle
von Punkten umgebene Fleck erinnert entäcliieden an die Art, wie in den
Handschriften die Brustwarze gezeichnet ist (Fig. 164; Cod. Dresden 18c).
Und man wird um so eher verleitet, daran zu denken, als, wie oben an-
geführt, das Wort „im" die „weibliche Brust" bedeutet. Doch kommt, wie
es scheint, in zusammengesetzten Hieroglyphen als Variante des Zeichens
imix die Fig. 165 vor, die in der That nicht sehr für die eben gegebene
1b k liZ.j \^i.
SS) ©G§
Krkläning spricht, liier ist freilieh dami nicht ausser Acht zu hissen,
dass die Fig. 165, so ahMliili sie dem Zeichen iniix ist, doch nur eine
ideographische Variante, ein Vertreter desselbeu, sein könnte. Die Formen
der BQcher des Cliilan Balam (Fig. 166—160) scheinen ' sich ans der
gewöhnlichen Form der If and Schriften eutwiekclt zu haben.
Das Zeichen iniix erscheint in der Hieroglyphe der Fig. 30 als aus-
zeichnendes Merkmal vor dem Kopf eines schwarzen (iottes (Fig. 170,
Cod. Dresden Uc; Fig. 171, 172, Cod. Tro 34'a, 33*a), den ich mit dem
Ekchnah LäNDA's identifizire, weil ich ihn im Cod. Tro mit einem
Skorpionschwanz versehen finde (ekchuh heisst im Maya der grosse
Der Charakter der aztekischen und der Maya- Handschriften. 45
Skorpion), und der in einer gewissen Beziehung zu einem zweiten schwarzen
(iotte zu stehen scheint (Fig. 174, Dresden 16 b; Fig. 175, Tro 32 *a), dessen
Hieroglj-phe aber, statt eines schwarzen Gesichtes, nur das grosse, schwarz
uuirftnderte Auge (Fig. 173) zeigt, Ekchuah ist nach LANDA der Gott
der Caoaopflanzer, dem, nebst den Göttern Chac und Hobnil, im Monat
Muan von den Cacaoj>flanzeni ein wie eine reife Cacaoschote gefleckter
Hund geopfert wurde. Kr ist aber auch der Gott der Kaufleute — der
„Kaufmann" wird er von dem Priester HeRNANDEZ genannt (Las Casas.
Hist. apolog. c. 123), der den Namen allerdings Echuac schreibt, — und
auch LaNDA berichtet, dass der Ciott von den Reisenden angefleht würde,
dass er sie mit reichem Gut heimkehren lasse. Es sind dies keine in-
oongruenten Züge, denn der Kaufmann ist von Natur Reisender, und
Cacao bildet das Haupthandelsobject. HERNANDEZ führt aber noch einen
dritten Zug an. Kr vergleicht den Gott Echuac der dritten Person der
göttlichen Trinitfit, dem heiligen Geiste — Ipona (d. i. Itzamna) sei
Gott der Vater und Bacab Gott der Sohn — und sagt, dass Echuac
(Ekchuah) die Erde anfülle mit allem, was sie nöthig hätte. Demnach
scheint Ekchuah der befruchtende Gott, der Gott des Reichthums und
«les Reichwerdens, uml als solcher der Gott der Kaufleute und Cacao-
pflanzer zu sein. Einem solchen Gotte würde das Zeichen imix — das
Zeichen <ler Fruchtbarkeit und des Gedeihens — wohl anstehen. Und
dieser Umstand bestärkt mich in der Vemmthung, dass die Hieroglyphe
Fig. 30 und der durch sie bezeichnete Gott Fig. 170 in der That auf
Ekchuah zu beziehen sei. Die Gegenstande, welche die Figuren 170
und 172 auf dem Kopfe tragen, möchte ich als die gefleckte Cacaoschote
erklären. Und wenn sich diesen das Zeichen kan zugesellt, so ist das
kein incongruenter Zug, denn, wie wir sehen werden, ist das letztere
Symbol des Ueberflusses. Den Gott Fig. 174, 175, der durch die Hiero-
glyplie Fig. 173 bezeichnet wird, möchte ich für denselben Gott halten,
aber in anderer Auffiissung, als Gott der Reisenden; und das Strohseil,
das er um den Kopf trägt, als den eargador, an welchem die auf dem
Rücken getragenen Last(»n über der Stirn befestigt wurden.
In ganz gleicher Weise, wie bei der Hieroglyphe Fig. 30, finden wir
das Zeichen imix auch als auszeichnendes Merkmal an der Hieroglyphe
eines Vogels, der als VcTtreter, Genosse oder Symbol des Regengottes
Chac auftritt. Vergl. Fig. 176 (Dresden 35c) und 177 — 178 (Dresden 38b).
Auch hier scheint durch das Zeichen imix die Idee der Fruchtbarkeit,
des Gedeihens übermittelt wenlen zu sollen.
In einer Anzahl ITu^roglyphen tritt das Zeichen imix äquivalent einem
eigenthümlichen Tln(»rkopf auf, der als auszeichnendes Merkmal das Ele-
ment akbal über dem Auge trägt. So in den Hieroglj'phen Fig. 179 — 182
(Dresden 29— 30b), Fig. 183—184 (Tro 14c) und Fig. 185 — 186 (Tro IIa),
welche, hinter den Hieroglyphen der Himmelsrichtungen stehend, die diesen
46 £• Seler: ^
präsidirenden Gottheiten ausdrücken zu sollen scheinen: und zwar tritt hier
am erwähnten Thierkopf einerseits das Zeichen im ix, andererseits das
Element Fig. 165, endlich auch das Element Fig. 187 auf, dem wir schon
in den Hieroglyphen der vertikalen Richtung (Fig. 17, 22, 23) begegneten,
und das auch in anderen Hieroglyphen als Homologen der Fig. 165 an-
zutreffen ist.
Die erwähnten Thierköpfe scheinen den Blitz in den Händen tragende
Genossen des Regengottes Chac zu bezeichnen. Wie das Zeichen im ix
dazu kommt, diesen äquivalent gesetzt zu werden, darüber wage ich keine
bestimmte Meinung zu äussern. — Doch erlaube ich mir noch auf ein Paar
andere, ebenfalls das Element imix enthaltende und ebenfalls ohne Zweifel
zu Attributen des Regengottes Chac in Beziehung stehende Hieroglyphen
aufmerksam zu machen. Das ist zunächst die Fig. 188, die im Cod. Dresden
44(l)a dem einen Fisch in der Hand haltenden Cliac als 8itz dient, und
die neben dem Element imix das Element Fig. 66 entliält, welches wir
oben als Homologen der hieroglyphischen Elemente, welche „Mann",
„Mensch" bedeuten, angetroffen haben. Ferner die Fig. 189, welche ausser
den vorigen Elementen noch das Element d(»r Vereinigung (vergl. die
Hieroglyphen Fig. 75 — 79) enthält, und welche im Cod. Dresden 67 b in
dem Texte (gleich hinter der durchgehenden Hieroglyphe Fig. 37) steht,
wo die Darstellung den mit dem Beile in der Hand im Wasser watenden
Chac zeigt. Endlich die Fig. 190, die wir im Cod. Dresden 40c (ebenfalls
gleich liinter der durchgellenden Hieroglyphe Fig. 41) finden, wo die Dar-
stellung den im Kahne auf dem Wasser falirendon Cliac zeigt.
Bemerkenswerth ist die Vergesellscliaftung des Zeichens imix mit dem
Zeichen kan. Das letztere bedeutet, wie wir nachweisen werden, im
engeren Sinne den Maiskolben und (»rscheint daluT sehr regelmässig unter
tlen den Göttern dargebrachten Gaben. Hier ist nun in einer ganzen An-
zahl von Stellen das Zeichen imix theils über, theils neben dem Zeichen
kan zu sehen. Yergl. Fig. 191 (Cod. Tro 6b).
Dieselbe kan-imix-Gruppe finden wir auch in der Hieroglyphe
Fig. 192 — 195 (Dresden 5 c 7 c, Tro 20* b, IVrez 13), von der ich in einer
früheren Abhandlung naclizuweiscni gesuclit habe, dass sie den Kopal,
bezw. (bis Darbringen von Käucherw(»rk ])ezeichnet, und die wir als sehr
gewöhnliches Attribut bei einer ganzen Reihe von Göttern vorfinden, ins-
besondere aber bei demjenigen, den ich als den Gott mit d(»m kan -Zeichen
bezeichnet liabe (vergl. Fig. 31), dem AssistentiMi <l(»s Licht- und Himmels-
gottes Itzamna. Bei diesem stellt die Hieroglyphe Fig. 192 — 195 in der
Regel unmittelbar hinter der Hauj)thi<»r()glyplH», während sie bei den
analeren häufig erst an 3. o<[(»r 4. St(»lle kommt. Stellenweise sehen wir
diese kan -im ix- Hieroglyphe direct als Bezeichnung dieses Gottes ver-
wandt: z. B. im Cod. Dres<len 16a, wo die Fniu(»ngestalt, die den Gott mit dem
kan -Zeichen auf <ler Uückentrage haben müsste, an Stelle dessen in einem
Der ('harakt4'r der aztokischon und der Maya- Handschriften. 47
g08chlo88eiuMi Sack <lio kam- i in ix-CJ nippe führt, üiul ähnlich die Fig<i;. 196
und 197, welche die kan-inüx-(iruppe auf einer Matte (bezw. einem
Topf?) zeip;en, und welche im Cod. Tro 20*d und 19* d im Text, wie es
«cheint, «tatt der lIaupthiero«:;lyphe dieses (lottes vorkommen.
2. igh, i% ik. Das Wort, aucli in dem Maya -Lexikon von PeREZ
mit der besonderen Form «les k j^esdirieben, welches <lie den letras heridas
analoge, besondere Weise der Aussprache andeutet, bedeutet: „Wind**,
^Ilauclr, ^Athem'*, „Leben", ^(Jeist**. So wenigstens im Maya in all-
gem<»inem (Jebrauch. DesghMchen im Tzental. Weniger häufig scheint
«las Wort in d(»n (hiatemala- Sprachen verwendet worden zu sein. Es tritt
dafflr zum Theil das Synonym teu, teuh =» Maya ee-el, welches eigent-
lich „Kälte" bedeutest, <»in. Oder aber es wird das Wort caki'k, caqui'k,
im Ixil cahik, gebraucht. Das ist aber weiter nichts, als ein Compositum,
welches dem Maya-Wort chac-ik-al, dcT „Chac-Wind", „Kegenwind".
„Stunnwind", entspricht. Denn Qu'iche-Cakchiqm4 cak ist gleich Maya
chac. So wenigstens hi der Hedeutimg „roth", aus der sich, wie es scheint,
auch der b(»kannte Name des Regen- und Sturmgottes der Maya entwickelt
hat. W^ir sehen also, dass auch im Quiche-Cakchiqu(d <las Wort i'k
„Wind'' IxMlentet. In der Benennung entspricht demnach dieses 2. Zeichen
dem zweit(»n mexikanischen (ehecatl) vollkommen.
Fig. 198 zeigt die Form, welche das Zeichen bei Landa hat. Figur
199 — 206 sind Formen des Cod. Tro; Fig. 212— 215 Formen des Codex
Perez. In (Um- Dresdener Handschrift finden wir meist Formen in <ler Art
der Figg. 207 — 209; daneben kommt auch die Form Fig. 210 vor (Dresden
55a): einige Male, doch selten, die Form Fig. 211 (z. B. Dresden 73 unten).
Die Formen des Cod. Perez (Fig. 216, 217) ähneln den gewöhnlichen der
Dresdener Handschrift. — Der Vergleich der Fig. 210 lässt vermuthen,
dass auch die Figg. 218 — 220, die sich auf der linken Seite der Altari)latte
d(»s ersten Tempels des Kreuzes in Palempie vorfinden, sowie» die grosse
Anfangshieroglyphe der Altarplatte des zweiten Tem|pels des KrcMizes in
Palenque (Fig. 221) unser Zeichen enthalten. Und dann scheint es nicht
ganz unmöglich, dass auch die» merkwürdige Hieroglyphe Fig. 222 der
Cedernholzplatte \ou Tikal in diesen Bereich gehört. - Die Bucher des
Chilan Balam haben die Formen Fig. 223—226.
Was der ursj>rüngliche Sinn dieses Zeichens ist, ist schw(»r zu sagen.
Die Fig. 210 und die Formen der Kidiefs — falls wir dieselben richtig
angezog«*n haben — wurden vermuthen lassen, dass das Windkreuz, b(»zw.
dit» aus dt'mselbtMi hervorgegangene Figur des Tau, der Ursprung <ler Zeich-
nung war. Damit lassen sich in<les <lie Formen des Cod. Tro nur sehr
schw<»r zusammenreimen. Die l(»tzteren erwecken mehr die Vorstellung
des von oben Herunterliängens. Ich denke <labei an die Figuren, die man
im Co<l. Dresden 44 (1), 45 (2) und entsprechend im C(m1. Cortez 2 von den
viereckigen Himmelsschildern herunterhängen sieht, und die mir in der
48
E. Seler:
Tliat die Götter der 4 Ilimmelsriclitiiiigeii. die Stumigeniou und Windgötter,
zu bezeichnen scheinen. Damit würde denn auch zuBamnienstinimen, dasB
wir auch in dem Zeichen canac (welches, wie ich nachweisen werde, die
Wolkenbedeckung des Himmels, die Regenwolken, zum Ausdruck bringt)
das gleiche Element, und zwar neben dem Kreuz, vorfinden. Und unter
dieser Anschauung würden wir auch die Formen der Bücher des Chilan
Balam verstflndliclier finden, die in der That von den Figuren, welche das
Zeichen cauac iu denselben Bfichem aufweist, sich kaum unterscheiden.
"», -_ IM _ tot jol ... tat. tir W *"— toi
Von iiitereRBonteu Vorkouimuinfieu den Zoicheus ik erwähne ich zu-
nächst dae Vorkommen desselben als Fhublem auf dem Scliilde. den im Cod.
Tro 24a der schwarze, die Zflge (!hai''s trageuile fioft (= Kkel Ãœacab,
Kk pauahtun, Kk-xil)-l'hac oder Ilozanek?) am Arme fölirt. Vergt.
Fig. "227. — Als Schildemblem kommen sonst und zwar ebenfalls bei Chac
— das Zeichen ix vor, welches einen Tiger oder ein Tigerfell bedeutet,
ferner eine gewundene kreuzförmige Figur oder drei horizontale Striche.
Kiu weiteres intercsRaules Vorkommen ist iu den Figun^i 228 — 23],
Der Charakter der axteklschen und der Majra- Handschriften. 49
die im Cod. Tro 16* — 15*od in der Hand einer Reihe sitzender Götterfiguren
zu sehen sind. Die Darstellungen sehliessen sieh an eine Reihe anderer
an, in denen die Oötterfiguren theils Köpfe mit geschlossenen Augen in
der Hand halten, theils einen Kopf, den sie in der Hand halten, mit dem
Beil bearbeiten. Und es folgen ihnen andere Darstellungen, in denen die
Götterfiguren mit dem zugespitzten Ende eines Knochens in das Auge
eines Kopfes, den si(» in der Hand halten, bohren. Ich habe schon in
einer früheren Abhandlung erwähnt, dass ich diese letzteren Darstellungen
mit gewissen Darstellungen mexikanischer Codices (Cod. Borgia 23 — 24,
Vaticanus B. 82 — 83, Fejervary 21 — 22) in engster Verwandtschaft stehend
betrachte und annehme, dass die Darstellungen sowohl, wie die begleitenden
Hieroglyphen, sich auf das Menschenopfer, im engeren Sinne auf das
Tödten <les Opfers, beziehen. In den mexikanischen Codices folgt auf das
Ausbohren des Auges eine» zweite Reihe von Darstellungen, in denen man
die Götter kleine Figiiren von sich selber, gleichsam als Opfer darbringend,
vor sich halten sieht; und dann eine dritte Reihe, wo die Götter vor ihnen
stehenden oder li(»genden Menschen eine in Blumen un<l Bänder auslaufende
gelbe Schnur aus dem Leibe ziehen. Bezog sich die erste Reihe der Dar-
stellungen auf das Tödten, die zweite auf das Darbringen des Opfers, — die
Opfer waren immer in die Livree des betreffenden Gottes gekleidet, gleich-
sam als Repräsentanten desselben — so bezieht sich die dritte Reihe auf das
Herausreissen des Herzens aus dem Leibe. Das sieht man deutlich z. B.
an der Figur im Cod. Vaticanus B. 86, wo das mit dem Rücken über den
Block geworfene Opfer un<l die tiefe Brust^'unde unverkennbar sind. Nun
flieser dritten Reihe von Darstellungen halte ich die Blätter 16* — 15*cd
und 14*d d(»s Codex Tro für äquivalent, und deute demnach die Figuren
228 — 231 als die ausgerissenim Herzen, die dargebracht werden, das
Zt»i('hen ik in denselben als das Zeichen des Lebens, die gekrümmten
Figuren darüber für die abgerissenen Aorten o<ler — was mir wahr-
s<*heinlicher ist — als das Dampfen und Rauchen des frisch heraus-
gerissenen Herzens. Vgl. die Figuren 232 — 234, Bilder <les Herzens, wie
es jn mexikanischen Bilderschriften gezeichnet ist. — In dem Text findet
der Vorgang seinen Ausdruck durch die Hieroglyphen Fig. 235 — 239 und
Fig. 240—241, welchen sich die Hieroglyphen Fig. 242 — 243, bekannte
Symbole des Todes, und <lie Hieroglyj)he Fig. 244, diejenige des Sonnen-
gottes, (dem das Herz dargebracht wurde), anschliessen.
Aehnliche (legenstände, wie die Figuren 228 — 231, die ich für aus-
gerissene Herzen halte, und in denen (»benfalls das Zeichen ik zu sehen ist
(vgl. Fig. 245—246), werden im Cod. Tro 6* und 5*c von Götteni auf hohen
Stangen getragen. Der Text zeigt ausser den Hieroglyphen der Personen
und einer durchgehen<len Hier()glyi)he (auf die ich unten noch zu sprechen
kommen werde, und di(». meiner Ansicht nach, das Herabkomm<»n zum
Opfer bedientet), einmal die Hieroglyphe Figur 247, das andere Mal die
50 £• Seler:
beiden Hierogljrj)heii Figur 248 — 249, wo die letztere eine der Hieroglyplien
der vorher angeführten Stellen wiederholt.
Hat nun aber das Zeichen ik die in Vorstehendem angenommene
Beziehung zum Herzen, zum Leben, so ist es nicht weiter wunderbar,
dass wir dasselbe auch direkt unter den Darbringmigen finden, und zwar
nicht etwa in der Ilaud des Todesgottes, als Verkehrung des wirklichen
Opfers in ein nichtiges, windiges, eitles, sondern wohlgezählt unter den
übrigen Darbringungen, ja, wie ich annehme, als das Kostbarste, als das
ir(»rz, das Leben. Es tritt in der Beziehung das Zeichen ik ganz äqui-
valent dem Zeichen kan auf. So z. B. im Cod. Tro 30c 25M.
Direkt in der Bedeutung „Herz" scheint das Zeichen ik auf Blatt 25
des Codex Tro verwendet zu werden. Hier ist eine Göttin dargestellt, die
anscheinend die tödtUchen, vorderblichen Eigenschaften des Wassers ver-
sinnbildlicht. Sie ist mit der blauen Schlange gegürtet. Unten an ihrer
rechten Seite befindet sich ein l\)dtenschjidel mit dem ausgerissenen Auge,
zu ihrer linken das Zeichen ik (Fig. 250), ganz wie man in mexikanischen
Codices bei TodesgottlH»iten oder Opferdarstellungen, auf d(»r einen Seite
den Todtenschädel, auf der andern das Herz sieht. Auf der rechten obern
Seite der Göttin stürzt vor dem w^ässerigen Strahl, der ihrem Munde (»nt-
springt, ein todter Mensch herab, mid vor ihm hebt die Göttin wiederum
das Zeichen ik in die Höhe, ganz wie mexikanische Todesgötter das
ausgerissene Herz in die Höhe halten.
Auf dem berühmten Blatt 41 — 42 des Codex Cortez, welches CYRUS
Thomas in seiner neuesten Publikation eingehend besprochen hat, sehen
wir in d(»r Mitte der vier Himmelsrichtungen unter dem Baum (dem yax
che, der Ceiba?) zwei Gottheiten sitzen, in denen wir zweifellos den alten
(Jott — Itzamnii, den „Gott Vater"* des Priesters IlERNANDEZ, un«l seine
w(»ibliche Genossin (Ixchel, die Mutter der Chibiriac, der Mutter der
J{acab) zu erkennen haben. Dieselben (iottheiten sind auch hi dem
Bilde darüber, unter dem Himmdszeichen, welches nach der g(»wöhnlichen
Annahme den Osten, vielleicht aber (vgl. oben) die Hinmielsrichtung des
Südens bezeichnet, zu sehen. Jn dem Mittelhildi» hält der Gott eine Säule
von drei Zeichen ik (Fig. 253); und vor «ler weiblichen Gottheit steht eine
Säule (Fig. 254), die unt(Mi das Symbol d(»s Gefässes, darauf das Z(Mchen
ik, und endlich (»ine roh gez(Mchnete Thierfigur, die au das Zeichen im ix,
das Symbol «1er Fruchtbarkeit, gemahnt, aufweist. In dem obern Bilde
hält der alte (lott und die (iöttin ein Z(»ichen in d(T Hand (Fig. 251 und
252), welches wie durch Trans])Osition aus <lem Zeichen ik entstanden zu
sein scheint, und in gleicher Weise an das Zeichen kan, wi<» an diis
Zeichen cauac erinnert, ausserdem aber eine Speerspitze trägt. Die
h^tztere schehit an eine geheime Beziehung zu erinnern, die sich auch in
den mexikanischen Darstellungen der Herren des Lebens. Tonacatecutli
und Tonacacihuatl, ausspricht, indem man auch hier zwischen dem von
Der (yharaktor der aztekischen und der Maja -Handschriften. 51
dor gcmeiiisanioii Deoko verliüllton Paar (»ine Spoerspitzo aufragen sieht.
I)a8 Zeichen ik s(*lbst kann in diesen Darstellungen kaum et^va8 anderes,
als das „Lehen** bedeuten.
3. YOtan, a'kbal) akbal. Der an erster Stelle stehende Tzental-
Name ist nielit der eigentliche Name des Zeichens, sondern der des
Kulturheros der Tzental, des berühmten Votan, dem ohne Zweifel
dieses Zeichen geweiht war. Den Namen Votan erklärt BRINTON
(American llero Myths p. 217) aus dem Tzental -Worte uotan^ das
in einer von ihm angeführten Stelle eines in der Tzental -Sprache
geschriebenen geistlichen Führ(Ts mit „Herz" und „Brust" übersetzt
ist. Dies<» Krkhlrung ist unzw(»ifidhaft richtig, denn der Bischof NüNEZ
DE LA VECJA, der Autor, auf dessen Notizen alles beruht, was wir
über diese interessante mythologische Figur wissen, erklärt am Schluss des
betreflTendes Abschnittes: — y en alguna provincia le tienen per el corazon
de los pueblos. Nun „corazon de los pueblos" heisst ins Mexikanische
übersetzt tepeyollotl. und das ist, wie wir oben gesehen haben, gerade
der Name der (Jottheit, welche die mexikanischen Quellen als Tutelar-
gottheit des dritten Tageszeichens, des Zeichens calli, nennen. Auch darin
gebe» ich BRIKTUN Hecht, dass ich in dem Worte uotan die Maya -Wurzel
tan erkenne, die „inmitten", aber auch „Angesicht, Oberfläche, Vorder-
seite, Ausdehnung" bedeutet. Nur scheint mir das uo kaum ein Possessiv-
präfix =^ Maya u „sein", wie BRINTON annimmt, zu sein; denn dann könnte
doch kaum in der von BRINTON angeführten Stelle a-uo-tan [„dein sein
Inneres**] gesagt worden sein. Ich meine vielmehr, dass eine alte Wurzel
uo vorliegt, die mit Maya ol, uol — („Herz, Gemüth, Wille, Freiheit"
und „Bundes*') — zusammc^nhängt, und deren eigentliche Bedeutung „Herz"
ist. Ich glaulx», «lass diese» Wurzel in dem Monatsnamen uo noch enthalten
ist. Denn ch'ssen Hieroglyphe (»nthält <lie beiden synonymen Elemente,
die in <len oben gezeichneten Hieroglyphen Fig. 236 und 237 vorkomnum,
und die beide, wie wir oben schon vernnitheten, das dargebrachte Herz
betleuten. Das zweite dieser FJemente fungirt gleichzeitig als Symbol der
Vereinigung (vgl. die Figun^n 75 — 79). Vereinigung heisst aber mol.
Und mit dem Worte mol ist wiederum ein Monat bezeichnet, dessen
Hieroglyphe das (»rste, das in Fig. 236 (»nthaltene Symbol <les Herzens
aufweist. Vgl. die Fig. 259, die die Zeichnung LaNDA's und der Dresdener
Handschrift witMlergiebt, und die Fig. 260, die der Cedernholzplatte von
Tikal entnommen ist. Be(h»utet aber uo „Herz", so konnte uo-tan das
^innerste Herz*", oder auch das „Herz der Ausdehnung", das „Herz der
Oberflache" l^edeuten, also vieHeicht vergleichbar den Quiche u c'ux cah,
u c'ux ul<»u „<las Herz d(»s Himmels, das Herz der Erde", die als kosmo-
genische (Jestalten und Menschenschopfer im Popol Vuh eine Rolle
spielen.
Das Wort a'kbal bedeutest „Nacht". Wir haben im Mava noch heute
52
£. Seler:
für „Nacht" die Wörter akab, akabil, akbil im Gebrauch; im Quiche-
Cakchiquel a'kab, a'ka, a'kbal, und auch im Ixil a'kbal. — Kann dies
Wort im Zusammenhang gedacht werden mit der mexikanischen Bezeichnung
dieses Tages? Ich glaube» wohl. Bei der Naclit ist wohl an das dunkle
Haus der Erde gedacht, welches die Toten in seincMn Schoosse auf-
nimmt, und in welchem auch die Sonne zur Rast geht. Die Mexikaner
associirten das Tageszeichen calli mit der Region des Westens, der Gegend,
wo die Sonne untergeht. An dem Tage, wo das Zeichen regierte, kamen
die Cihuateteo vom Himmel herunter, die Seelen der im Kindbett ge-
storbenen Frauen, die gespenstischen Weiber, die im Westen hausen, das
Gefolge der Erdgöttin Teterinnan. Es war ein trauriges Zeichen, die unter
ihm Geborenen waren dumm und stumpf, erdgeborene, die bestimmt waren,
alsbald in den Schooss der Erde zurückzukehren, den Feinden in die
Hände zu fallen und auf dem Opferstein ihr Leben zu enden.
• •
LaNDA giebt das Zeichen akbal in (iestalt der Figur 261. Der Codex
Tro giebt die Formen Fig. 262 und 263, der Codex Cortez die ganz gleichen
Figg. 264 und 265. Li der Dresdener Handschrift fimlen sich theils ähnliche
Formen (Fig. 266 — 268). Daneben linden sich aber Formen, wo die beiden
seitlichen Theile nicht von oben herein, sondeni von unten herauf ragen
(Fig. 269), oder geradezu als runde» Kreise (Augen?) im Innern der Seiten-
theile markirt sin<l (Fig. 270). Besondere FornnMi sind auch die Figuren
271 — 273, die den hinteren Abschnitten d<»r Dresdener Handschrift ent-
nommen sind, und in denen wir in der untenan Hälfte des Zeichens noch
Punkte, Kreise oder Halbkreise markirt find(»n. Der Codex Perez hat
nur die flüchtig gezeichnete Form Fig. 274.
Das Zeich(»n akbal ist auch mit ziemlicher Siclu»rheit auf den Reliefs
zu erkennen. So in der AnfangshiiToglypln» der (Jruppe, welche Aber der
linken Figur des Mittelfeldes sowohl auf dem Altarblatt des Sonnentempels
(Fig. 275), wie auf dem des Tempcds des Kreuzes Nr. 1 in J^vlenque (Fig. 276),
und es ist besonders interessant, dass wir in der letzten»n Figur dieselbe
Besonderheit wiederfinden, die auch die Figuren 271 — 273 der Dresdener
Handschrift zeigen. Desgleichen zeigten die Kreise oder J^unkte in der
unteren Hälfte des Zeichens auch die schön ausgeführten Fijrji:. 277 und 278
der C<»dernholzplatte von Tikal.
'OO'
Vn ChsraKer der aitekinchen and der Maja-Handschrift«!!.
54 £• Seler :
Die Formeil clor Büclier des Chilan IJalam (Fig. 279—282) weichen
vollkommen ab.
W}i8 zunächst die Formen der Handschriften und der Reliefs an-
geht, so ist zu bemerken, dass die beiden seitlichen S])itzen, die wie
Zähne in den Innenraum des Zeichens hineinragen, keinesfalls als Zähne
gedeutet werden dürfen. Dagegen spricht ihre gelegentlich vollkommen
verschobene Stellung (Fig. 269), und dass sie bisweilen geradezu als
Augen erscheinen (Fig. 270 und 278). Der wesentliche Theil des Zeichens
— wodurch es sich auch bestimmt von dem ihm sonst ähnlichen Zeichen
chuen unterscheidet — ist der dreieckige, unten von einer welligen Linie
begrenzte Spalt, der sich noch schärfer an gewissen Formen des Zeichens
ausgeprägt findet, welche auf den gleich zu ervs^ähnenden Himmelsschildeni
gezeichnet sind. Vgl. Fig. 283. Ich bin zur Erklärung des Zeichens geneigt,
an die mexikanischen Darstellungen d(»r Höhle zu denken, d. h. als ein
Berg mit aufgesperrtem Rachen. Vgl. Fig. 284 und 285. Die wellige
Ijinie des Zeichens akbal würde ich als untere Mundbegrenzung, die
seitlich hineinragenden, sehr häufig abgerundet (»ndigenden oder als runde
Kreise erscheinenden Theile als die Augen des Ungeheut^rs, den drei-
eckigen Spalt als die Rachenhöhle ansehen. Die Höhle ist der Eingang in
das Haus der Erde, sie ist das Inn(»re, das Herz der Berge, sic^ ist der Sitz
der Nacht, der Dimkelheit. Wie man sieht, würden alle Beziehungen,
welche sich mit dem Namen des dritt<»n Tageszeichens v<»rknüpfen, durch
die „Höhle" ihre vollkommene Erklärung finden.
Die von der Form der Handschriften abweichende Form der Bücher
des Chilan Balam erweist sich als nahezu id(»ntisch mit den Formen,
welche dieselben Bücher für das Tagesz(»ichen ben g<»b(M». Ich werde
später zu erweisen haben, dass dieses Zeichen, welch(»s dem mexikanisch<>n
acatl „Rühr" entsjmcht, die rohrgeflochtene Matte bedeutet, und die-
selbe rohrgeflochtene Matte bildet wi(» ich oben schon erwähnt habe, einen
wesc^ntlichen Theil der Hieroglyphe, wodurch der Tempel od<»r das Haus-
dach bezeichnet wird. Vgl. di<» Figuren 34 — 36. Es scheint also, dass die
Form der Büch(»r des Chilan Balam das Haus wi(»dergebrn will, ent-
sprechend der Beziehung, welche sowohl der mexikanische Name des
Zeichens, wie auch, sicher wohl, die Mayabenennung desselben ver-
mitteln.
Was nun die anderweitige Verwendung des Zeichens akbal angeht^
so ist zunächst zu er^vähnen, dass wir dasselbe in der unzweifelhaften
Bedeutung „Nacht'' neben dem Zt»ichen kin „Tag** verw(»n<let finden. So
an zahlreichen Stellen der Dresdener Handschrift. Vgl. auch die Fig. 158a
(Cod. Dresd(»n 45 (2) b). Das Zeichen akbal erweist sich insofern als
äquivalent dem Zeichen Fig. 60, dem Zahlz(Mi'h(Mi 20, über dess(»n Bedeutung
ich in (»iner früheren Abhandlung schon eingehend gesprochen habe. Kine
Variaute des Zeichens akbal sch(»int die Fig. 28() zu sein, die im Codex
Der Charakter der aztekischen und der Maja -Handschriften. 55
Dn»8<l«»n" 57a auf einoin ähiiHchon Doppelfoldo, wie das in den Figg. 157,
158 und 158 a gezeichnete, zu sehen ist.
Hieran anscliliessend erwähne ich, <lass das Zeichen akbal, zum Theil
in sehr charakteristischen Formen (v(»rgl. die Figg. 283 [Cod. Cortez], 287
und 288 [Cod. Dresden]), und zwar wiederum nelien dem Zeichen kin,
auf den viereckigen Scliildern vorkommt (vergl. Fig. 157 und 158), die,
wie schon FÖRSTEMANN und SCHELLHAS erkannten, zweifellos den Himmel
bezeichnen. Die beiden Zeichen akbal und „kin" sind indes nicht die
einzigen Bilder, die auf di(»sen Schildern zu sehen sind. Wir finden da-
neben einerseits das Zahlzeichen 20 (Fig. 288a), das wir aber schon als
Variante des Zeichens akbal notirt haben; andererseits eine Reihe Formen
(Fig. 290 — 299), die kaum anders wie als Varianten des Zeichens kin zu
deuten shnl. Ausserdem aber noch eine Reihe Figuren, die in ausgeführter
Form (Fig. 311; Dresden 52 b) an einen aufgesperrten cipactli- Rachen
erinnern, in der Regel aber, vollständig ornamental werdend, keine
bestimmte Form mehr erkennen lassen (Fig. 312 — 317). Ferner Figuren,
«He als ausschliesslichen odt»r Haui)tbestandtheil das schräge Kreuz, das
Element der Vereinigimg, erkennen lassen (Fig. 800 — 304 und 306 — 310).
Endlich — allerdings nur auf den Blätteni 20, 22, 23 des Cod. Tro — das
Gesicht des Gottes mit der Schlange Aber dem Gesicht, welches in der
Hieroglyphe desselben Gottes (Fig. 33) und in der Hierogly|)he der zweiten
Himmelsrichtung (Fig. 19) vorkommt.
Herr Geheimrath FÖRSTE3IANN hat in seinen werthvoUen Erläute-
rungen zur Dresdener Handschrift, in denen er das Problem der Zahlen-
bildung in d(»n Maya- Handschriften endgiltig gelöst mid gleichzeitig das
Vorhandensein der interessanten, leider ihrer Bedeutung nach noch dunklen,
bis zu hohen Werthen gleichmässig fortschreitenden Zahlenreihen nach-
gewiesen hat, die Vermuthung aufgestcdlt dass die auf den Himmelsschildern
abgebildeten Zeichen die Sonne, den Mond, d(»n Planet Venus und viel-
leicht auch andere Wandelsterne darstellt(»n. Ich kann dem nicht bei-
pflichten. Dass die Fig. 60 und 288a den Mond nicht bedeutet, glaube
ich in meiner früheren Abhandlung (Verh. 1887, S. 237 ff.) nachgewiesen
zu haben, und in dies(»m Zusammenhange kann ich das Zeich(»n nicht
anders auffassen, als das, als w<dches (»s, wie wir gc^sehen haben, wirklich
fungirt, als eint» Variante des ZeichcMis akbal. Dasselbe aber, meine ich,
ist auch für die Figg. 311 — 317 anzunehnn'n. AVir finden diese Zeichnung
nicht blos in den Mava- Handschriften, sond(»rn vielfach auch auf mexi-
kanischen Skulpturen (Fig. 324), und zwar gegenüluT d(»m Spiegel, d. h.
dem in evidenter Weise an das Zeiclu»n kin erinnernden Symbol <h»r
Sonne od<»r des Tages, ich bin g<Mieigt. <li(» Fig. 311 als Grundform an-
zunehnn*!! uinl parallelisire di<»se der Fig. 322, dt»r dem mexikanischen
Cod. Meuiloza entnomm«*nfn Darstellung <'iii(»r Höhle, d. h. Berg mit auf-
gesperrtem Rachen in Seitenansicht.
56 £• Seler:
Von den vielgestaltigen Figg. 290 — 299 habü ich eben schon gesagt
dass ich sie kaum anders deuten kann, wie als zeichnerische Varianten des
Zeichens kin. — Die Fig. 300—304 und 306—310 enthalten als Hanpt-
element das schräge Kreuz, das Zeichen der Vereinigung. Und letzteres
tritt in den oben gezeichneten Hierogly|)lien Fig. 237 und 239 — ferner
z.B. in der Figur des Monatsnamens yaxkin auf Blatt 48 c der Dresdener
Handschrift — direct als ideographische Variante des Elementes kin auf.
Die ganze Fig. 300 und 301 kehrt in der Hieroglyphe Fig. 305 wieder,
und diese tritt auf den Blättern 38 — 41b der Dresdener Handschrift
synonym einerseits der kin-akbal-Hieroglyphe Fig. 158a und ihren Vari-
anten auf, andererseits einer Hieroglyphe Fig. 325, deren Hauptbestandtheil
das Zeichen der Hinnnelsrichtung oben (Fig. 17) ist. Ich glaube also,
dass auch diese Figuren dem Elemente kin parallel zu setzen sind, und
dass die wechsehiden Bilder auf den Himmelsschildern nichts anderes, als
den alten Gegensatz von Licht und Dunkel, von Tag und Nacht — von
Leben und Tod, wenn man will — variiren.
Ehe ich diesen Gegenstand verlasse, möchte ich noch auf die Fig. 323
aufmerksam machen, das Bild einer Sonne in mexikanischer Zeichnung,
welches genau so, wie <lie Fig. 298, das Kreuz im Sonnenbilde zeigt.
Ferner hat schon FÖRSTEMANN darauf aufmerksam gemacht, dass das
eigenthflmliche Element, welches in den Hieroglyj)hen 318 und 319 vor-
kommt, — die auf den int<»ressanten Blättern 46 — 50 der Dresdener Hand-
schrift und auf der Abbreviatur derselben, dem Blatt 24 der Dresdener
Handschrift, eine Rolle spielen, — gewisserma^issen nur eine kalligraphische
Variante der Figg. 297 und 298, also des ZcMchens kin, darstellt. In der
That find<» ich di(»ses Element auch, genau in ders(dben Weise, wie die
Variante Fig. 290 des Zeiclunis kin, in dem Schmucke von IN'rsonen ver-
wendet. So in der Kopfschmuckquast«» Flg. 320 des langnasigen, rothen
(lottes, der in der mittleren Abtheilung d<»s Blattes 47 der Dresdener Hand-
schrift zu sehen ist und durch die Hieroglyphe Fig. 321 bezeichnet wird.
Und ebenso in d(Mn Kopfschnmcke der mit Schild und S])eer b(»waffneten
Gottheit, die auf der Cedernholz])latte von Tikal dargestellt ist.
Ich gehe nun noch zur Betrachtung (»iniger weiterer Vorkommnisse
des Zeichens akbal über.
Er^vähnenswerth ist vor allem das Klement Fig. 326, welches das Zeichen
akbal von Punkten umgeben zeigt. Wir finden dieses Klement als aus-
zeichnendes Merkmal an dem Stirnschmucke und in der Hieroglyphe des
alten Gottes, den ich mit dem Licht- und Ilimmelsgott Itzamna iden-
tifizire. Die einen (jlegenstiind umgebenden Punkt«» bezeichnen nicht selten
die Flannnen, die denselben verzehren, oder das Licht. <las von ihm aus-
geht. Vergl. <lie Fig. 327, die im Cod. Tro 10b im Text zu sehen ist wäh-
rend die bildliche Darstellung darunter di(»selben gc'kreuzten Todtengebeine,
von rothen Flannnenzungen umlodert, zeigt. Die Fig. 326, als Symbol
Der Charakter der aitekigchen und der Maya- Handschriften. 57
de« Gettos Itzamna, scheint mir darnach das vom nfichtlichen Dunkel herab-
strahlendc Licht, den ätemenhimmel, zu bedeuten.
Ein weiteres auffälliges Vorkommen des Zeichens akbal ist das über
dem Auge von nächtlichen und todbringenden Wesen. So an der Gestalt
des Todes -Gottes, der in der mittleren Abtheilung des Blattes 28 der Dres-
dener Handschrift zu sehen ist und den ich mit Uac mitun ahau iden-
tificire (Fig. 828), und bei einer anderen Todesgottheit (Fig. 329) im
Cod. Cortez 38b. Ferner in der Hieroglyphe der Fledermaus (zoo), die
zur Bezeichnung des Monats gleichen Nameus diente. (Vergl. Fig 330
[LaNDA], 331 -333 [Dresden 46c, 47a, b]). Ferner in der Hieroglyphe
eines Vogels von der Gestalt eines Adlers (Fig. 334), der im Cod. Dresden
17b durch die beiden Hieroglyphen Fig. 335 un<l 336, im Cod. Tro 18c
durch die beiden Hieroglyphen Fig. 337 und 338 bezeichnet ist. Weiter
bei der einen Gattung von Thieren, welche, mit der Fackel in den Händen,
Feuer auch an der Quaste des langen Schwanzes führend, vom Himmel
stilrzend dargestellt sind, und die ohne Zweifel wohl das Blitzfeuer
bezeichnen, den todbringenden Diener <les Chac. Vergl. Fig. 339 (Dresden
36a). Endlich ist dieselbe Besonderheit auch an dem Kopfe des Monats-
namens Xul zu sehen. Vergl. Fig. 340 (T^ANDA) und 341 (Dresden 49b).
Xul heisst das Ende, die Spitze; xuulul „aufhören", xulah, xnlezah
^beendigen**, xulub „(womit etwas aufhört). Hörner", aber auch „der
Hörner hat, der Teufel"; xulbil „Possen, Streiche, Teufeleien". Man
sieht also, dass auch diesem Worte unzweifelhaft eine Beziehung auf etwas
Unheimliches, Gespenstisches, Dämonisches innewohnt. Auch die Fleder-
maus ist den Centralameri kauern nicht blos das Nachtthier. Der Popol
Vuh spricht von einem Zo'tzi-ha „Fledermaushaus", einem der fünf Orte
der Unterwelt. Dort haust der Cama-zo'tz, die „Todes -Fledermaus",
da« grosse Thier, das jedem <l(»n liaraus macht, der in seine Nähe kommt,
und auch dem Hunahpu den Kopf abbeisst. Auch den unvollkommenen
Bildungen der ersten Menschenschöpfung macht der Cama-zo'tz ein Ende,
indem er ihnen den Kopf abbeisst. Der in der Fig. 334 bezeichnete Vogel
ist zoologisch schw<»r zu recognosciren. Innnerhin scheint mir zweifellos,
dass «»in Raubvogel gemeint ist. S<»ine Hieroglyphe (Fig. 335) ist interessant.
Sie enthält den Fledermauskopf, daneben aber auch das Symbol des
Scharfen. Schneidigen (Fig. 73) un<l das Symbol des Vogels (Fig. 72)
In dem hicTOglyphischen Texte finden wir, hinter tlen Zeichen der vier
(fünf) Ilimmelsriclitiiiigen, nicht selten Hieroglyphen, die einen Thierkopf
mit <lem Zeichen akbal über dem Auge tragen. Vergl. die Figg. 180,
183, 18« und 342 --344 (Cod. Dresden 22h). Ich glaube dieselben als die
Blitzthiere, die Sturnigenien, die (lenien der vier Himmelsrichtungen
bezeichnend annehmen zu müssen.
Zum Schluss will ich noch die Hieroglyphe Fig. 345 erwähnen, durch
welche auf Blatt 26*b des Cod. Tro das Tabakrauchen, bezw. das
Z«llMhfUI für Kthaolofi«. Jahrg. I8<6. 5
58 £. Seler:
Blasen aus dem Rohre bezeichnet wird (vergl. Fig. 346). Derselbe Vor-
gang ist noch an zwei anderen Stellen des Cod. Tro zu sehen, nehmlich
auf Blatt f34*b, wo er durch die Hieroglyphen Fig. 347 und 348, und auf
Blatt 25 *b, wo er durch die beiden Hieroglyphen Fig. 349 und 350 zum
Ausdruck gebracht ist.
Das Tabakrauchen hat natürlich eine mythologische Bedeutung. Nach
den werthvoUen Mittheilungen des Lic. Zetina von Tihosuco, welche
Beinton in seiner im Folklore Journal Vol. I veröffentlichten Abhandlung
über Volksglauben in Yucatan uns zugänglich gemacht hat, sind die Balam
(d. h. die Götter der vier Himmelsrichtungen oder der vier Winde, welche
gleichzeitig die Hüter des Dorfes und der Gremarkung sind) grosse Raucher,
und nach allgemeinem Volksglauben sind die Sternschnuppen nichts anderes,
als die brennenden Stummel der Riosencigarren, welche diese Wesen vom
Himmel herunterwerfen. Ein Indianer sah einen Balam in seinem Kom-
felde. Dieser zog eine riesige Cigarro aus seiner Tasche, und mit Kiesel
und Stahl schlug er Feuer. Aber die Funken, die er schlug, waren Blitz-
strahlen und das Klopfen gegen den Stein ertönte wie schrecklicher, die
Erde erschütternder Donner.
Von den oben angeführten Hieroglyphen enthalten die Figg. 348 — 349
Elemente, die den wesentlichen Bestandtheil der Hieroglyphe der Himmels-
richtung „oben" (Fig. 17 — 22), bezw. des Herabkommens von oben (vergl.
unten Fig. 744 — 746) bilden. Die Hieroglyphe Fig. 345 möchte ich mit den
Hieroglyphen Figg. 342 — 344 parallelisiren. Beide enthalten als seeun-
däres Element das Symbol des Menschen, und die Fig. 345 als Haupt-
element das Zeichen akba], — wie ich meine, anstatt des Thieres mit
dem akbal- Zeichen, des Blitzthien^s.
4. glianan, kat (c'at), kan. Die Bedeutung des Wortes ist zweifel-
haft. XlMENEZ giebt kat (c'at) „Eidechse". Doch habe ich den starken
Verdacht, dass das mexikanische Aequivalent dieses Zeichens ihm diese
Bedeutung eingegeben hat. Mit den Maya-Wurzeln kan, kaan „Seil",
„Strick", „Hangmatte", und kan = Qu'iehe, Oakchiquel k'an (gan) „gelb"
lässt sich nichts anfangen. Ich vermuthe, dass die Tzental-Form uns
einen Fingerzeig giebt; sie lehrt uns, dass wir das Wort als Participial-
form auffassen müssen. Und da finde ich im Maya-Lexicon von Perez
die Worte k'anaan, k'aanan, k'anan „abundante, necesario ö estimado,
cosa importante, „k'aananil „abundanoia", k'aancil „sobrar, sobreabundar,
flotar sobre el agua, aobrenadar, aboyarse sobre el liquide"; k'ank'ab
„mar". Ob der Apostroph, den ich gesetzt habe, richtig, ist bei der un-
sorgfältigen Form des Wörterbuches und der ungenügenden Bezeichnung
der Maya- Gutturale überhaupt zw(»ifelhaft. Docli werden diese Worte in
dem Lexicon mit demselben k geschrieben, wie d<>r Name des Tages-
zeichens und wie das Wort kan „gelb", — weh'hem, wie der Vergleich
mit dem Qu'iche zeigt, das apostrophirte k zukommt. Wir hätten also,
Der Cfau-akt^r der utekiKh^n und der ftUfa-Hudachriften.
59
scheint 08. cinn dirt'cte Entspreelmiig der oben aiigcführton Maya-Worte
kaanaii. kaiian, liie „im Unberschuas vorhanden" bedeuten, mit der
Tzentalbeiceichnunt; gliaiiau. Kriunern wir uns, dass die Abliebe Bezeich-
nung des Tages in Mexiko cuotzpalin „Eidechse", in MeztiÜan ab-
weichend xilotl „der junge Maiskolben" war, dass aber beide, die Eidechse
MOwohl. wie diT Maiskolben, bekannte Symbole des Roichthums und des
UeberfluBses sind, — el que en este naci'a . . , tornia ritjuezas y de comer
que nunc« le faltaria (DüRAN), — so scheint mir die oben gegebene Deu-
tung der Mayabezeichnung und die Identität derselben mit der mexika-
nischen zweifellos zu sein.
liANDÄ giebt für das Zeichen die Fig. 361. Im Cod. Tro treffen wir
die Formen Fig. 352 und ;-f53 und unter den Opfergaben häufig die Perm
Fig. 354. Im Cod. Cortez finden wir dieselben Formen Fig. 35J und 353,
daneben aber auch die Form Fig. 355. In der Dresdener Handschrift
95'. 3« 3«^
3*1 3*^
begegnen wir denselben Formen. Der Cod. Perez hat durchgängig die
Form Fig. 35*>. Auf der rechten Seite der AUiiridatte des Tempels des
Kreuzes Nr. 1 tu Pjileiupie treffen wir die beiden Pigg. 357 (II. Reihe)
und 358 (III. Reihe unten), die ehenfaHs das Zeichen darzustellen scheinen.
Die Bücher des CHIL.4X Balam geben die Fi^'. 359—362.
Was nun die Beileutuug dieses Zeichens angeht, so scheint mir. dass
ein Auge und eine Zahnreihe die Kiemente <lessellieu bilden. In inexi-
kanisclien Dnrwtellungen malt mau das Feuerst einniesser mit einer Zahn-
reihe und einem Auge darüber (vergl. die Figg. 136 und 137). Und genau
ebenso malte man den Maiskolben mit einer Zahnreihe und einem Ange
darüber, aber da* Ange int hier ein lebendiges (vergl. Fig. 363). wSlirend
das lies Pen erste inuiessers ein todtes i«!. Offenbar betrachtete man die
beiden Dinge als gegeusittzlich. Dürre nu<l Wasserreichthum, Mangel und
Ceberflnss bezeichnend. Ks ncbjebt wich hier in tier Zeichnung der Mais-
kolben dem Worte aeatl „Kolir" unter, welches sonst in Symbolik und
Aberglauben der konstante Widerjiart des Wortes tecpatt „Feuerstein"
ist. AllordingB sehen wir ja auch im Cod. Hendoza die Maisstaude vcr-
60 E* Seler:
wendet, um das Wort acatl auszudrücken. Ich glaube, dass das Zeichen
kan das oben gezeichnete mexikanische Object, den Maiskolben, wieder-
giebt. Dadurch erklärt es sich uns, dass das Zeichen kan, wie schon
oben angeführt, constant unter den Opfergaben erscheint, und ich glaube,
wir haben hier den Schlüssel für die sonst schwer verständliche Thatsache,
dass die Mexikaner die Jahre, mit denen sie, wie es scheint, ihre Zeit-
rechnung begannen, nehmlich die Reichthum, Fruchtbarkeit und Glück
verheissenden Jalire, die der Himmelsrichtung des Ostens zugeschrieben
wurden, nach dem Zeichen acatl „Rolir" benannten, während die Maya
auf dieselben Jalire das Tageszeichen kan anwandten.
Die Bilder, welche die Bücher des CHILAN BaLAM für das Zeichen
kan geben (Fig. 359 — 362), haben mit der Form der Handschriften nichts
gemein. Sie erinnc^m in frappanter Weise an die Formen, welche die-
selben Bücher für die Zeiclien ik und cauac geben. — Sollten es nur
Variationen der letzteren sein und iliren Ursprung der unzweifelhaft im
Gemüth des Indianers vorhandenen Gedankencombination: — „Wolken-
bedeckung, Regen und Wind, Reichthum und Ueberfluss** — ihren Ursprung
verdanken?
Von den Vorkommnissen des Zeichens kan erwähne ich, dass es als
auszeichnendes Kennzeichen einerseits bei dem Gotte Fig. 31, andererseits
bei dem Gotte Fig. 170 (Hieroglyphe Fig. 30) vorkommt. Der erstere,
den ich den Gott mit dem kan -Zeichen genannt habe, ist vielleicht mit
^ dem Hobnil, <lem in den kan -Jahren präsidirenden Bacab, dem im Monat
Tzec die Bienenzüchter Feste feierten, und der, in Gemeinschaft mit
Ekchuah und Chac, im Monat Muan von den Cacaopflanzem gefeiert
ward. Den letzteren (Fig. 170) habe ich oben mit dem Gotte Ekchuah
selbst identificirt.
Von Hieroglyphen, in welchen das Zeichen kan vorkommt, erwähne
ich die des Monatsnamens cumku oder humkn. Fig. 364 (LaNDA),
Fig. 365 und 366 und die Variationen Fig. 367 — 370, die alle der Dres-
d(mer Handschrift entnommen sin<l. — cum heisst der „Hohle", der „Topf",
aber auch der „Klang, den man bei dem Schlagen auf einen hohlen Gegen-
stand vernimmt": hum ebenfalls „Geräusch, Lärm, Summen". Der obere
Theil der Hieroglyphe scheint in der That einen Topf darstellen zu sollen,
der, umgestürzt mit der Mündung nach unten, auf dem Zeichen kan liegt,
nach oben ihoih eine breite Grundfläche (Fig. 365, 366), theils drei Füsse
zeigt (Fig. 367 — :i6^) odor mit der Seite auf dem Zeichen liegt? (Fig. 370).
5. abagli, can, cliiccliau. can heisst im Quiche-Cakchiquel, can,
canil im Maya die „Schlange''; ahau-can die Königsschlange, die Klapper-
schlange. Das stinnnt also zum mexikanischen coatl.
Das Wort chice hau, sagt PekEZ, liesse sich nur erklären, wenn
man annähme, dass das Wort falsch geschrieben und chichan zu lesen
wäre, chan, chancban und chichan bedeutet „klein". Damit können
D«r Charakter der aitokisclieii nnd der Maj»-Hanilachrin«ii.
61
wir Tiatürlicli nklita uiifaiigcii. Soll man eine Nebenform chan für can
annohmcii? Dt-r UebiTgaiig wiSre nicht itngewölinlicli. Wir haben xacali
,fe«t (auf Uie vier Filsac) steilen", xaclinli JfM (breitbeinig) ImiBtellen";
caar-ah und cliaacli-ah ^zauxon, Haar ansretssen, Blätter abreiBsen";
co-ab „abttdiillen. abrinilen"; cho-ab „abreiben, abwisclieu". Dt-r erste
Theil tlcB Wortes wflnlo dann auf die Wurzel ebi. cliii „Mund, beissen"
bezogen wenlen mflssen; ebiechan die „beiwsende Schlange", wie MoLlNAa
Wörtorbni'h unter „vibora goiu'ralniento" teqnani coat! (d. h. „der Fresser
der Srlilange") angiebt.
Das Tzental-Wort kann ich nicht erklären. Im Qu'iche haben wir
abah „Stein". In der alten Hauiitstodt der Cakchi(|uel war daa Haupt-
heitigthum der chay-abab. der eine halbe Klafter grosse, halbdurchsichtige
Stein, auf dessen Spiegelflfiehe die Wahrsager die Antworten auf alle Fragen
«II -^ '".>m*. '»i-j». '11-— "^ "ii— . 'SUr*. »Lf^ *": J!£_
ablasen, die in wiehtigen civilen oder niilitilrisehen Sai'hen den Oöttem
vorgelegt wurden.
Lasdä giebt für da» Zeichen die Fig. 371. Im Cod. Tro finden sich
aU häufigste die Figg. 372 -374. Daneben auch Formen, die den dunklen
(carrirten) Fleck durch <>inen hellen oder durch das Zeichen kin ersetzen
(Fig. 375—377). IJenierkenswerth sind -lie Figg. 378--380 (Cod. Tro Ua,
7*b. 31d). welche neben dem Fleck die deutlichen Züge eines Gesichtes
zeigen. Kinen ganz anderen Typus «teilen die Figg. 390—392 (Cod. Tro
9"a, I9c, 9*a) dar. Im Coil. Cortez finden sich luir Formen, die mit den
gewöhnlichen des Cod. Tro (372--374) ühen^nstimmeu. In der Dresdener
Handschrift überwiegen entschieden ilie Formen, welche den Fleck hell
und ilanehen die Zfige eines (Jesichtes aufweisen (Fig. 381 — 386). Nur
iu den hinteren Abschnitten der Handschrift kommen Formen mit dunkel
(carrirt) au«gefill1teni Fleck vor (Fig. tiSl). lihnlicli den gewöhnlichen deg
Cod. Tro und Cortez. Besondere Formen sind die Figg. 393 (Dresden 39c),
62 £. Seler:
und 394 und 395 (Dresden 61 und 63). Die Formen des Cod. Perez (Fig. 388
und 389) ähneln denen der Dresdener Handschrift. Die Bücher des CHILAN
BalAM haben die Formen der Figg. 396—399.
Was nun den Sinn dieses Zeichens angeht, so zeigt das StGck
Schlange, welches wir in Fig. 400 nach Cod. Cortez 12b abgebildet haben,
deutlich, dass der carrirte, von schwarzen Punkten umsäumte Fleck die
Flecken einer Schlangenart wüedergiebt, die wir natürlich zoologisch nicht
recognosciren können, deren besondere Zeichnung aber in den Schlangen-
bildem des Cod. Cortez ebensowohl, wie auf der doppelköpfigen Schlange
der Cedemholzplatte von Tikal deutlich zu sehen ist. Denselben carrirten
Fleck erkennen wir auch au der Hieroglyphe Figg. 401 (Dresden 70), 402
(Dresden 21c) und 403 (Tro 9*b), wodurch ein Gott bezeichnet ist (Fig. 404
und 405), dessen besonderes Kennzeichen eine zackige Linie um den Mund
bildet (Fig. 404), und dessen Haupthieroglyi)he in der Regel von Todes-
symbolen begleitet ist: der Hieroglyphe der Eule (Fig. 406: Dresden 7b),
des Thieres mit erhobener Tatze (Fig. 407: Dresden 21c) und des Leich-
nams (Fig. 408: Tro 9*c). Es scheint dieser Gott zu den Schlangen in
bestimmter Beziehung zu stehen, und die Formen des Zeichens chicchan,
welche neben dem Fleck die Züge eines Gesichtes zeigen, sollen vemiuth-
lich den Kopf dieses Gottes wiedergeben.
Die Formen der Bücher des ChilAN Balam (Fig. 396—399) haben
sich ohne Zweifel aus den Formen der Handschriften entwickelt. Vergl.
die Fig. 380 des Cod. Tro 31 d.
6. tox, camey, cimi (cimiy). Im Maya heisst cim, im Quiche-
Cakchiquel cam „sterben**. Und die Wörter cimiy, caniey sind Abstracta
oder Infinitive, mitttds eines alten Ableitungssuffixes gebildet, das im Maya
unter den gewöhnlichen Bildungen nicht mehr fungirt, aber im Qu'iche
noch in voller Anwendung ist. Die Maya- und die Cakchiquel- Bezeich-
nung entspricht also der mexikanischen (miquiztli) vollkommen.
Schwierigkeiten macht die Tzental -Bezeichnung tox. Ich weiss das
Wort nicht zu erklären. Es wäre nicht unmöglich, dass hier wieder, wie
beim dritten Tageszeichen, der Name des regierenden (lottes für das
Zeichen sUAit Der Bischof NUNEZ DE LA VEGA erzählt, dass die Tzental
in ihrem Kalender sieben kleine schwarze Figuren gezeichnet hatten, von
denen sie bei ihren Wahrsagereien Gebrauch machten, und dass sie ebenso
„in ihren Kalendern gezeichnet hatten den Coslahuntox, d. i. den Teufel,
wie die Indianer angeben, mit 13 Gewalten, und si(» haben ihn gemalt auf
dem Stuhle sitzend un<l mit Hörnern auf dem Kopfe, wie von einem Wid-
der". — Ks wäre nicht unmöglich, dass di(»ser Teufel Jlun-tox mit dem
in der Unterwelt residirenden Ilun-came, den der Popol Vuh nennt,
identisch wäre.
Landa giebt für das Zeichen die Form Fig. 400. Im Cod. Tro sind
die häufigsten Formen die Figg. 410 — 412 (Kopf der Leiche). Daneben
Der Chftrakter der sztekischen und der Maja- Handschriften.
68
kommen die Figg. 413— 414 (Schädel), und endlich als dritte Form die
Figg. 415 — 4 «6 vor. Im Cod. Cortez herrscht die erstere Form ausschliesslicb
vor (Fig. 418). In der Dresdener Handschrift kommen alle drei Formen,
nur in besserer Ausführung, vor (Fig. 419 — 426). Daneben aber finden
sich noch auf Blatt 46 (Fig. 427— 428) und auf Blatt 53b (Fig. 429) einige
Formen vor, die einen anderen Typus zu repräsentiren scheinen. Die
Bücher des CHILAN BaLAM haben die Figg. 430 und 431.
Was den Sinn dieses Zeichens angeht, so treffen wir die erste und
die zweite Form in den beiden Ilieroglyplien des Todesgottes, die ich in
meiner früheren Abhandlung (vergl. diese Zeitschrift Jahrg. 1887, Ver-
handl. S. 232) eingehend besprochen habe. Es wäre hier nur noch nach-
zutragen, dass die eigenthümlich gekrümmte Linie, die sowohl an dem
Kopfe mit geschlossenen Augen (erste Form), wie an dem Schädel (zweite
Form) sich wie ein Schwanz an die Reihe der freiliegenden Zähne an-
schliesst, ohne Zweifel aus der Linie des aufsteigenden Astes des Unter-
kiefers entstandtMi ist. Das ist deutlich an Figuren wie 432 und 433 zu
sehen, bei denen der Unterkiefer mit seinem aufsteigenden Aste und der
Zahnreihe vollständig gezeichnet ist.
Die sich daran schliessende Linie mit der Zähnelung am äusseren
rechten Rande deutet vennuthlich auf die Schleife oder Schlinge, in welcher
der abgeschnittene» Kopf getragen ward. Vergl. die Figg. 422 und 427 — 429
und die Fig. 439 aus Blatt 60 der Dresdener Handschrift, welche letztere,
wie es scheint, einen solchen in der Schlinge getragenen abgeschnittenen
Kopf (Kopf des Opfers) darstellt.
Die dritte Form des Zeichens cimi (Fig. 415 — 417, 424 — 426) sehen
wir an Stelle des Auges mit geschlossenen Lidern in der zweiten Hiero-
glyphe des Todesgott(»s, Fig. 436 auf Blatt 28 der Dresdener Handschrift.
Wir sehen es als Todessymbol auf der Wange des Gottes Uac mitun
ahau (Fig. 328) und auf der Hierogly])he desselben Gottes auf Blatt 5b
der Dresdener Handschrift (Fig. 437). Wie es scheint, enthalten auch die
g4 ^* Seler:
beiden Hieroglyphen Fig. 434 und 435, von denen die erstere der Altar-
platte des Tempels des Kreuzes Nr. 2, die andere der des Sonnentempels
in Palenque entnommen ist, dasselbe Zeichen. Ueber den ursprünglichen
Sinn desselben wage ich keine bestimmte Vermuthmig auszusprechen.
Ebensowenig vermag ich die Formen des Chilan BaLAM (Fig. 430
und 431) zu deuten.
Das Zeichen Fig. 438, welches DE ROSNY in seinem Vocabulaire de
l'ecriture hieratique als im Cod. Tro vorkommend angiebt, habe ich bei
genauem Nachsuchen unter den Tageszeichen daselbst nicht finden können.
Das Element Fig. 60, welches BraSSEUR als Variante von cimi auf-
führt, ist, wie ich in einer früheren Abhandlung mich bemüht habe, nach-
zuweisen, ein Symbol des Todes, in engerem Sinne des Geopfertwerdens.
Es fungirt als Ausdruck für den Begriff Mann und für die Zahl 20, bezw.
den Zeitraum von 20 Tagen (uinal). Unter den Tageszeichen kommt es
nicht vor. Nur auf den Blättern 32 und 33c des Cod. Tro steht es in der
Reihe der Tageszeichen. Es fungirt aber daselbst nicht als besonderes
Tageszeichen, sondern steht nach den Tageszeichen cauac, kan, muluc,
ix im Sinne von „das zwanzigste darauffolgende Zeichen*', welches natür-
lich ebenfalls das Zeichen cauac, kan, muluc, ix ist.
7. moxlc, qaeliy manik. Das Zeichen entspricht dem mexikanischen
macatl „Hirsch", „Reh" (venado), und eben das bedeutet auch die
Cakchiquel- Bezeichnung queh (nach Maya- Orthographie geschrieben ceh).
Dem Worte manik scheint die Wurzel man oder mal zu Grunde
zu liegen, welche „schnell vorübergehen", „verschwinden", aber auch ^sich
wiederholen" bedeutet. Im Maya wird von dieser Wurzel gebildet:
manac to kin „nachdem einige Tage vergangen waren*"; manak „leichter
Schatten", „Spur", „fernes Echo"; nianab „Gespenst". — manik könnte
demnach der „Vorüberhuschende", „Flüchtige" heissen.
Der Wurzel man ist, glaube ich, euie parallele Wurzel max mit
derselben Be<leutung anzusetzen, von der maax „Affe", maxan „schnell"
sich ableitete. Auf diese Wurzel könnte vielleicht die Tzental- Bezeich-
nung moxic zurückzuführen sein.
In der Schrift wird das Zeichen, ziemlich übereinstimmend im Landa,
wie in den Handschriften, durch die Fig. 440 gegeben. Die Figur stellt
zweifellos eine Hand dar, deren Daumen den gekrümmten vier anderen
Fingern gegenübergestellt ist. Davon überzcMigt man sich leicht, wenn
man das Zeichen mit Hieroglyj)hen vergleicht, in welchen die Hand in
realistischer und unverkennbarer Weise dargestellt ist, wie in den
Figg. 441 — 443. Wie kommt nun aber die Hand dazu, Symbol des Tages
zu werden, der — in einzelnen Dialecten sicher, wie im Mexikanischen —
mit dem Namen des Hirsches bezeichnet wird?
Es scheint, dass das Element manik (Fig. 440) in Verwandtschaft
steht zu einer Anzahl anderer Elemente, von denen einige (Fig. 444 — 446)
Der Cbumbter der utekischen und der Mftfa-HaDdachritb>n.
65
allerdings nur Variationou der Hand oder ilott Trügors zu sein acheinen,
während das vierte (Fig. 447) einen neuf-n Begriff liineinbringt
Auf Seite 10* d»>M Cod. Tro beginnt eine Reilie von Darstelluugou
— der sogenannte Kalender fflr Bieiienzflcliter — , in welclien, wie mir
Bcheint, dax Ilera)>koninien der UOtter zum Opfer durcli ein geflügeltes
Inseet auitgedrilekt ist, das rur einem viererkigen, mit den Klcmcnton des
Zeielienn eabnii bedeckten Hcliilde zu den unten aufgeHtellten Opfergaben
lierabkontntt. Der liieroglypIiiBelic Text zeigt die Namen imd die Attri-
bute der (rottet. Davor eine Hieroglyphe — die sogenannte Hieroglyphe
der Biene — , welehe die KIcmente des Zeioliens der Himmelsrichtung
oben — unten euthiilt und die ich als Symbo) des HerabkommeuB betrachte.
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Und davor beginnt der Text mit einer Hieroglyphe, die in der Anfangs-
gruppe die Form Fig. 45"i, in den folgenden Grup)ien die Form Fig. 453
list uu<l mehrfach durrh Hieroglyphen, welehe den Tempel zum Ausdruck
bringen (siehe unten beim Zeichen ben). ersetzt ist und auf Blatt 3*c.
wie es scheint, in imfgelüster Form, durch die Figg. 454 und 455 reprü-
sentirt ist.
In der Dresdener Handschrift sinil auf den dem Titelhlatte folgenden
Blfitteni i (45) nml .S eine Anzahl Bilder /.u sehen, die. wie es scheint.
Verbereitungen zum Opfer und das vollzogene Opfer darstellen: ein des
Kopfes beraubter sehreiteniler Oefangener, Götterfiguren, Netze und Stricke
haltend, endlich iler geopferte (iefimgene, dexsen Ringewei<le als Kaum
Eum Himmel emporwachsi'n. auf dem Baume tler Adler, der das Auge
ans der Hnhle lienLusziclit. Der Text zeigt, neben ilen Hifn>gly|dien der
gg E. Seler:
Personen, das Zeichen der Verbindung (Fig. 77, 78) und in den aufeinander
folgenden Abschnitten die Hieroglyphen Fig. 456 (Dresden 2(45) a), 457
bis 460 (Dresden 2(45)b c) und 461—462 (Dresden 2(45)d). — Auf den
folgenden Blättern der Handschrift treffen wir das Zeichen man ik zunächst
in der Hieroglyphe Fig. 468, die auf den Blättern 4 — 10a am Kopfe der
Textgruppen steht, welche dort die Darstellungen der zwanzig Götter be-
gleiten. Weiterhin folgen Clötter mit Darbringungen. Hier sehen wir einmal
(Blatt 10 — 12a) die Hieroglyphe Fig. 4(54 (wechselnd mit Fig. 465), das
andere Mal (Blatt 12 — 13a) die Hieroglyphe Fig. 466. Auch in der mittleren
und unteren Reihe der Blätter sehen wir Götter mit Darbringungen.
Hier stehen einmal (Blatt 10b) die beiden Hieroglyphen Fig. 467 und 468,
sonst (Blatt 10—1 2b) die Hieroglyphe Fig. 469 und weiterhin, wo die
Götter das Zeichen kan in der Hand haben, die Figg. 474 — *7i'. In der
unteren Reihe derselben Blätter sind die Gegenstände, welche die Götter
in der Hand halten, im Text selbst zu sehen. Daneben einmal (Blatt 4
bis 5c) die Hieroglyphe Fig. 470, die anderen Male (Blatt i2c, 15c) die
Figg. 471—473.
Ich glaube aus den angeführten Vorkommnissen schliessen zu müssen,
dass das Element manik und das Element Fig. 447 einander yertreten.
Zeigt uns nun aber das Element manik bloss die nach oben ofTene Hand,
so stellt die Fig. 447 ohne Zweifel eine Hand dar, die einen Kopf — und
zwar den Kopf eines Todten, das beweisen die geschlossenen Augen —
darbringt. Ich bin demnach geneigt, sowohl diese Figur, wie das ihm
äquivalente Zeichen manik als Symbol der Darbringung, des Opfers
anzusehen, und meine, dass der (rrund, weshalb das Zeichen, welches
sowohl die Mexikaner, wie die Cakchiquel mit dem Namen des Hirsches
benannten, von d(»n Maya in dieser Weise dargestellt wird, darin liegt,
dass der Hirsch vielleicht als das zu erlegende Thier, als das Opferthier
x(tv fifix^v gilt; und darin finde ich auch den Grund, dass die das Zeichen
manik enthaltenden Hieroglyphen synonym auftreten anderen (Fig. 466,
4()8), die ohne Zweifcjl wohl die Elemente des Vogels enthalten. U luumil
cutz y-etel ceh „das Lantl des Truthahns und «les Hirsches**, — so
nannten ja die Maya ihre engere Heimath.
Beiläufig bemerke ich, dass die Hieroglyphe des Hirsches zweimal in
der Dresdener Handschrift vorkommt. Auf Blatt 13 c (Fig. 477) und auf
Blatt 211) (Fig. 478), an letzterer Stelle begleitet von dem Symbol des
Todes!
Ferner bemerke ich, dass die bekannte Hi(»roglyj)he des Kegengottes
Chac (IMg. 479) das in den obigen Hieroglyphen so vielfach vorkommende
Klement Fig. 447 wiedergiel)t. nur dass statt des Kopfes mit geschlossenen
Augen, wie es scheint, ein Kopf mit auslauft»nden Augen in der Hand
gehalten wird. Ich erinnere an die Idole mit weinenden Augen, welche
nach Las CASAS an verschied(»nen Stellen von (iuatemahi V(T«»hrt wurden.
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E. SeleH:
Wie Btimmen nun aber zu dem Cakchiquel-Wort die Tzental- und
Maya-Bezeichnuiigen des Tages? In diesen ist es nicht gut möglich, etwas
anderes, als die Wurzel mol, mul „sich vereinigen, ansammehi, häufen"
zu erkennen, moloc, muluc „was vereinigt, gesammelt, gehäuft ist". —
Dürfen wir an „Ansammlung der Gew^ässer" denken?
LaNDA giebt für das Zeichen die Fig. 495. Im Cod. Tro finden wir
die Figg. 496—497, ähnliche und die Figg. 4i)8, 499 im Cod. Cortez. Die
Figg. 500 und 501 zeigen die Formen der Dresdener Handschrift. Eine
sonderbare Form ist nur die Fig. 506, welche uns auf Blatt 30b des Cod.
Cortez begegnet.
Sollte das Mäya-Zeichen mit dem mexikanischen (atl) überehistimmen,
so würden wir zunächst an ein W^assergefäss denken müssen! Das
W^assergefäss finden, wir in den Maya-Handschriften einmal (Dresden 34c)
durch die Fig. 507 und für gewöhnlich durch die Fig. 508 ausgedrückt.
Häufig aber ist das Wasser in einer von dem Leibe einer Schlange ge-
bildeten Schlinge (oder Sack) g(»borgen. Die Schlangen, die Wolken-
dämonen, sind eben diejenigen, die das Wasser verschlossen halten, die ver-
anlasst werden müssen, di(» Schlinge zu lösen und das Wasser heraus
fliessen zu lassen. Auf d(»n von dem L(»il>e der Schlange gebildeten,
das Wa8s(?r bergenden Säcken — auf ihnen sitzt gebührendtTmaassen der
Chac — sehen wir in Blatt 33 — 35b der Dresdener Handschrift, und
ebenso Cod. Cortez 3 — 6a, bestimmte Zahlzeichen angeg(d)en, die wohl
der Ausdruck des reichen Inhalts der Säcke sind. Aehnlichc» Zahlzeichen
sehen wir auf dem (refäss, welches Cod. Cortez 7b auf dem Bauclu» des
Todesgottes ruht (Fig. 509). Uanz ähnliche Zahlen sehen wir aber auch
auf dem Bauche der (lestalten (ungeschrieben, «lie wir in ganz gleicher
Ausstaffiruug und in der Haltung gebärendt»r Weiber auf Blatt 39 -40a
des Cod. Cortez und 29 — 30a des Cod. Tro abgi^bildet sehen. Auch hier,
glaube ich, scheint mir zweifellos der Inhalt des Bauchsackes durch die
eingeschriebentui Zahlen zum Ausdruck gebracht w(»rden zu sollen. Es
giebt ein hieroglyphisches Klement, welches innerhalb des calciformeu
Der Charaktor dor aztekischen und der Maja -Handschriften. B9
Umrisses ebenfalls eine ein»cesehriehen(» ])eHtininite Zahl aufweist. Nun
dieses Element fimltMi wir in niero«i;lyph(»n, wie es scheint, einerseits
synonym vens-emlet dem WaHS(»r«i;(»fas8 — v^l. Fi^. 514 und 515, die im Cod.
Dresden 39c Attribute» (1(»8 Chae ])ezeichnen — anden^rseits (in anderen
Hieroglyphen) dem Elemente muluc. So zeij^tMi uns die F.igg. 510 — 512
und 513 Hierop:lyphen, welche im Cod. Dresden 44(1) 45(2)b und 40b als
Attribute der Blitzthien», der Sturm«;enien aufjj^eführt sind. Dass in diesen
das Element muluc enthalten ist, scheint mir zweifellos. Nun diese
scheinen stellenweise vertreten zu w(»rden durch andere, welche statt des
Elementes muluc das Element mit der ein(i:eschriebenen Zahl enthalten.
Ich glaube, dicme Zusammenhänge machen es doch wahrscheinlich, dass
auch das Maya-ZeicIuMi dieselbe Bedeutung hat, wie das neunte mexika-
nische Zeichen, dass es das Wassergefäss, b(»zw. den Wassersack oder den
Bauch der Gewäss(»r bezeichnet.
Ich behaupte nun allerdings nicht, dass durch die Form des Zeichens
das (lefäss zum Ausdruck gebracht wird. Mir scheint die Form desselben
vielmehr das Wass eräuge^ bezeichnen zu sollen. Ich verweise auf die
Darstellungen im Cod. Tro 31 — 30d, die mit dem Wasser ausgiessenden Chac
beginnen. Hier tn^ffen wir eine den Figg. 510 — 513 ganz äquivalente
Reihe von Hieroglyphen, die nur mit d«»m nach den Himmelsrichtungen
wechselnden Element (Element der Farbe? vgl. die Fig. 13 — 16) versehen
sind (Fig. 516 — 519), und die das Element muluc zu einem vollständigen
Gesicht, dem des Gottes mit der Schlange über dem Gesicht (Fig. 33),
ausbilden.
Dit» Formen, welche die Bücher d(»8 ChiLAN Balam für das Zeichen
muluc geben, ähneln zum Theil sehr dem vorigen Zeichen, und ich halte
es nicht für ausgeschlossen, class hier irgeml eine Vorwechsebmg vorliegt.
10. elab) tzii, OC. Das Zeichen entspricht dem mexikanischen itzcu-
intli ,,Hund", und eben das be<leutet auch im Qu'iche, Cakchiquel und
Pokomam das Wort tzii, tzi, das wohl auf eine Wurzel [tzi] = Qu'icho ti,
Ixil chi, Maya chi, „beissen. Fleisch fressen" (Ixil tzi, Qu* iche, Cakchiquel
und Maya chi „der Mund*^) zurückgeht.
Der Hund heisst im Maya pek — das Wort scheint mit einer Wurzel
^sich faul hinstrecken, am Bod(»n liegen" zusammenzuhängen — : und der
kleine haarlose einheimische Hund, der eigentliche itzcuintli der Mexi-
kaner wird bil genannt, bil bedeutet auch „Rauhigkeit, Saum oder
Köper im Gewebe^, auch die „calcinirten Knoch(»n, die zum Rauhmachen
der Finger b«'im Spinnen benutzt werden": bil im ist „UnebenluMt im W^ege,
Spur, das ausgescharrte Lager i»ines Thieres".
Das Wort oc kann dt»m (lebrauch nach, dt»n es noch heute in der
Sprache hat. am besten mit „da.s, was in etwas eingeht" übersetzt werden.
£b bedeutet „das, was in die Hand (»ingeht, eine Hand volh; es bedeutet
»Pubs, Fusseindruck, Spur", und als Verbum „hineingehen, eintreten". —
70 E. Sbler:
Soll man annehmen, dass die Priester, statt das Thier (den Hund) bei
seinem richtigen Namen zu nennen, ein Wort brauchten (oc), dessen Begriff
in dem Namen des Hundes (bil) ebenfalls enthalten war? — Ich glaube,
die Vorstellung ist nicht ganz unberechtigt.
Mit dem Tzental-Wort elab weiss ich nichts anzufangen.
Das Zeichen ist im LANDA in der Form der Fig. 520 gegeben. Im
Cod. Tro treffen wir ähnliche Formen (Fig. 521 — 523); einige Male aber
(Tro 12a 12 c) stellt das Zeichen ein ganzes Gesicht dar (Fig. 524), und
hier erkennt man deutlich, dass die LANDA'sche Figur und die Figg. 521
bis 523 nur das Olir des Thieres darstellen mit einem Paar schwarzer
Flecken davor. Im Cod. Cortez und im Cod. Perez finden sich nur die
gewöhnlichen Formen. Die Dresdener Handschrift zeigt neben den ge-
wöhnlichen Formen (Fig. 525) zunächst solche, die gewissermaassen nur
die oberen Lappen der Ohrmuschel darstellen (Fig. 526), dann solch«»,
die, wie es scheint, statt des Ohres einen Ohrpflock (Fig. 527), endlich
aber auch solche, die mehr oder minder deutlich ein Gesicht zeigen:
Fig. 528 (Blatt 30b), 521> (Blatt 30c), 530 (Blatt Pia), 531 und 532
(Blatt 45(2) a und 64b). — Die Bflcher des ChilaN BalAM haben die
Figg. 533 — 536, die augenscheinlich aus der gewöhnlichen Form der Hand-
schriften entstanden sind.
Der kleine einheimische Hund 8])ielte auch in Yucatan eine Rolle.
Er wurde als Hausthier gehalten, castrirt und gemästet, den Götteni als
Opfer geschlachtet und als Festbraten verzehrt. Ich habe oben erwähnt,
dass der Hund in mexikanischen Abbildungen — falls er nicht roth gemalt
wird, was seinen besonderen mythologischen Grund hat — meist mit
schwarzen Flecken gezeichnet wird, un<l dass — wenn, wie häufig, statt
des ganzen Thieres das Ohr allein gezeichnet wird — clem Ohr dann
regelmässig die Spitze abgerissen ist, so dass dasselbe einen zerfetzten
oberen Saum zeigt. Nun auch in den Maya-Handschriften treffen wir
mehrfach ein Thier, welches weiss mit schwarzen Flecken gezeichnet ist,
einen Raubthierkopf und zerfetzte Olm^nspitzen hat und gewöhnlich einen
schwarzen Fleck um das Auge aufweist. Vgl. die Fig. 537 — 540, die der
Dresdener Handschrift, und Fig. 541, die dem Cod. Tro entnommen ist.
Von dem Tiger, dem das Thier stellenweis älmlich sieht, unterscheidet es
sich — ausser durch den längeren Kopf un<l die zerfetzten Ohren —
namentlich durch den buschigen Schwanz — der Tiger hat einen langen,
glatt behaarten Schwanz — und ich glaube, wir werden in diesem Thiere
den Hund erkennen müssen. Das Thier figurirt im Cod. Dresden 7a in
der Reihe der zwanzig Götter. Im Cod. Dresden 13a ist es gegenüber einem
Vogel (Geier?), Dresden 21b der (Jöttin gegenüber gezeichnet. Im Cod.
Tro 25*c folgen aufeinander unter den Zeichen der vier Himmelsrichtungen
(Fig. 18 — 21) die ganzen (ic^stalten eines Menschen, des Ilinides, des Affen
und eines Todtenvogels. Im Cod. Tro 27b sitzen um die Göttin mit der
Der Charakter der aztekischen und der Maya- Handschriften.
71
Sc'IiIangeiikopfbiiKlo lieruin <lor Char, der IIuinl, <las Ueh, der Tiger und
da« Schwein — letzteres durch starke Keliaarung, Rdssel und Hufe ge-
kennzeichnet. Endlieh im Cod. I)re8<len 401) (Fig. 540) ist das Thier mit
dem Kopfschmuck des Gottes mit dem Kan-Zeichen (Hob nil?) geschmückt
und fungirt als Hlitzdämon.
Die Hieroglyphe dieses ThicM'es (Fig. 542) enthält nun allerdings das
Element oc nicht. Sie enthält als Hauptelement ein Element, das auch
in der Hieroglyphe des Monatsnamens Kankin (Monat April) (Fig. 24 und
25) vorkommt, und das ich als den (»rigirten Penis, mit welchem das Thier
im Cod. Dresden 13c in der That gezeichm^t ist, auffassen möchte. Diese
Sti- ^t^ SZZ Si^. ^it.
r$o
y$t ^^ J2L^J2i
shs
Hieroglyphe ist im Cod. l)res<leii 40 i», wo das Thier als Blitzdämon fungirt.
mit dem Element des llinnnels (vgl. ol)en S. 53 Fig. 300 und 301) associirt
(Fig. 543). Als Attribute fiiid«»n wir im (\m1. Dresden 7a der Haupt-
hieroglyi>he die Hieroglypln'n Fig. 544 54^>. d. h. das Symbol des Adlers.
<ler Eule und des Kaubthit»res(?) hinzugefügt.
Enthält nun abi'r aurh die Ilieroglypli«' dieses Thieres das EhMuentoc
nicht, so ist doch ein«? ßezi»diung zwischen dem Kb.'mente oe und diesem
Thiere dadiurch vermittelt, dass wir das Klement or. in d«»r Form, wie es
ilie Figg. 531 und 532 zeigen, in einer Hieroglyphe wiedertinden (Fig. 547),
iHe überall in (Si^sellschaft von Hieroglyphen auftritt (Fig. .'-4^ 550),
welche ohne Zweifel ilen lUitz odf»r .Vttribute der SturnigeniiMi darstrUeu,
iinil femer, duss wir im Cod. Dresden (Jl- <)3 Formen des Monatsnamens
72 E. Selek:
Xul findeu, welche statt der Thiere mit dem akbal über dem Auge, —
die ich oben schon als Blitzthiere angesprochen habe (vgl. Fig. 340 u. 341) —
unser Zeichen oc enthalten (Fig. 551 und 552).
Die Beziehung des Hundes, bezw. des Zeichens oc zu den Blitzgenien,
d. h. doch wohl den (lottern der Winde oder den Göttern der vier Himmels-
richtungen, scheint endlich der (rrund zu sein, dass wir als sehr gewöhn-
liches Attribut, zunächst des Chac, dann Bolen Zacab's und einer Reihe
anderer Götter, eine Hieroglyphe finden (Fig. 553 und 554 — 555), welche
mit einem Zahlzeichen (4 im Cod. Cortez IIa, sonst 3), das Element oc
und ein anderes (Fig. 70 — 71) verbindet, das ich oben als Symbol des
Vogels angesprochen habe, das aber auch für die einen Mann bezeichnenden
Elemente eintritt.
11. batz, ba'tz, chuen. Das Zeichen entspricht dem mexikanischen
OQomatli „Affe", und dieselbe Bedeutung wird auch im Qu'iche und
Cakchiquel für das Wort ba'tz angegeben, obwohl daneben noch und, wie
es scheint, häufiger das Wort c'oy, im Maya max, niaax verw^endet wird.
Das Wort chuen hat im heutigen Maya keine Bedeutung mehr. Es
giebt ein Wort chuenche, welches „Brett" bedeutet, und mit dem man
auch einen bestimmten Baum bezeichnet (tabla, y un arbol asi llamado).
Dass indess das Wort chuen mit batz, bez. mit dem Aften in bestimmter
Beziehung steht, das scheint mir aus einer Legende des Popol Vuh hervor-
zugehen.
Der zweite Theil des Popol Vuh beginnt mit der Erzählung des Ur-
sprunges der beiden Heroengötter Ilunahpu und Xbalanque (Sonne und
Mond, wie ich oben schon angeführt habe). Von den Urahnen (iyom,
mamom) Xpiyacoc und Xmucane werden in der Nacht die beiden
Söhne Hun hunahpu undVukub hunahpu erzeugt. Der letztere bleibt
ledig. Aber der erstere erzeugt mit der Xbakiyalo die beiden Söhne
Hun batz und Hun chouen. Diese werden geschickte und in allerhand
Künsten erfahrene Leute: Flötenspieler, Sänger, Blasrohrschützen, Bilder-
schriftkundige, Bildhauer, Steinschneider, (loldschmicMle. H unh un ahpu
und Vukub hunahpu, <lie gewaltigen Ballspieler, verlassen, einer Heraus-
forderung der unterweltlichen Mächte folgend, ihn» alte Mutter und die
beiden Gebrüder Hunbatz und Hunchouen, die Ijei der Grossmutter
zurückbleiben, und steigen in das Keich Xibalba, in die UnterAvelt, hinab.
Dort erliegt Ilunhunahpu den Todesmächten. Aber aus dem Speichel,
den sein an dem Kopfbaum (Calebassenbaum) aufgestecktiT Kopf in die
geöffnete Hand der Jungfrau Xquic speit, werden (unbeHeckt) die Ge-
brüder Hunahpu und Xbalanque empfangen. Diese, im Walde geboren
imd erzogen, schiessen mit dem Blasrohr allerhand Vögel und bringen sie
der (irossmutter (Xmucane) und den älteren Brüdern (Hunbatz und
Hun chouen"^. Aber letztere l)ehandeln sie schlecht. Um sich zu rächen,
fordern die Jünglinge ihre älteren Brüder auf, ihnen aus den Zweigen des
Der Charakter der azteldschen tmd der Maja -Handschriften.
73
Baumes can-to (Schlangonbaiim) die Vögel herunterzuholen, die sie ge-
schossen, und die beim Fall dort hängen geblieben siml. Ilunbatz und
Ilunchouen folgen der Aufforderung. Aber, als sie oben sind, wächst
der Baum in die Hohe, dass sie nicht mehr hinunter können. Und als
sie ihro Schambinden abnehmen, um sich an diesen herunterzulassen,
werden diese zu Schwänzen. Ilunbatz und Hun chouen werden zu
Affen. Ihre (irossmutter freilieh möchte sie zurück haben. Und ihr zu
Liebe locken Ilunahpu und Xbalanque viermal mit der Flöte und der
Melodie hunahpu c'oy (Affeuzauber) die Brüder aus dem Walde hervor.
Aber ihr Tanzen und ihre Geberden sind so komisch, dass die Alte jedes-
mal zu lachen anfängt. Dadurch werden sie immer wieder verscheucht,
und so bleiben sie im Walde und bleiben Affen.
Nun, dass hier chouen dasselbe ist wie Maya chuen, und dass
chouen der Zwillingsbruder von batz, wie Ilunchouen der Zwillings-
bruder von Hun batz, des Affen, ist, dass demnach auch in dem Worte
chouen, chuen der Begriff „Affe" liegt — das scheint nicht bezweifelt
werden zu können.
f6^ S6i nt S4\
ry<yv%iL<«»«##,
liANDA giobt für das Zeichen die Fig. 556. Im Cod. Tro finden wir
die Formen Fig. 557—559. Dieselben hat auch der Cod. Cortez. Im
ersten Theil der Dn»sdener Handschrift finden sich ausschliesslich Formen,
die der Fig. 559 gleichen, aber zum Theil mit der Variaute Fig. 560. Im
zweiten Theil d(»r Dresdener Handschrift begegnen wir Formen, die den
Pigg. 557 und 558 gleichen. Eine besondere vereinzelte Form ist Fig. 561,
die sich im Cod. Dresden 321) findet. Der Cod. Perez hat die Fig. 562,
also eine ähnliche Variante, wie derselbe Codex für das Zeichen kan
aufweist. Auf den Reliefplatten von Palcnque findet man vielfach, und
Z«itochrill für EthnMlogt«. Jahrg. 1888. 6
74 £• Seler:
mit verschiedeneil Zahlenwerthen verbunden ein Element, das mit dem
Zeichen chuen die grösste Aehnlichkeit hat (vgl. Fig. 563). Die Bücher
des ChILAN BalaM geben die Formen Fig. 564—567.
Den Affen sehen wir unverkennbar dargestellt auf dem Blatt 25 c des
Cod. Tro (Fig. 570), imd zwar in der merkwürdigen Reihe Mensch (dar-
gestellt durch den kopflosen Rumpf oder Rumpf mit Haarschopf, der auch
als hieroglyphisclies Element eine Rolle spielt; vgl. Fig. 56), Hund, Affe,
Todtenvogel. Ueber ilmon stehen vier Hieroglyphen, welche die be-
treffenden vier Wesen zu nennen scheinen. Und beide, Gestalt und Hiero-
glyphe, stehen in einer Columne mit je einem der Hieroglyphen der vier
Himmelsrichtungen (Fig. 18 — 21). Die Hieroglyphe, durch welche der
Affe bezeichnet wird, ist unverkennbar (Fig. 571). Aber dieselbe Hiero-
glyphe bezeichnet auch den Menschen. Und der Hund ist durch eine
besondere Hieroglyphe bezeichnet, die ich anderwärts nicht gefunden habe
(Fig. 555 a\
Nun eine ähnliche Hieroglyphe finden wir auch auf Blatt 15a b der
Dresdener Handschriften (Fig. 569). Wir sehen den Affenkopf, dessen
eigenthümlichste Besonderheit gegenüber dem menschlichen Schädel in
der starken Einsattelung zwischen Stirn- und Nasentheil, bezw. in dem
starken Vorspringen des Gesichtsschädels liegt. Aber dass der Affe gemeint
ist, ist in dieser Hieroglyphe noch besonders dadurch markirt, dass statt
des Auges das Zeichen chuen, das Zeichen des Affen gesetzt ist. Die
Hieroglyphe steht neben einer anderen, Fig. 568, welche diejenigen Elemente
enthält, die wir oben als Darbringung, als Opfer gedeutet haben. Daneben
findet sich in dem oberen Abschnitt des Blattes eine dritte Hieroglyphe
(Fig. 575), die ich vorderhand nicht analysiren kann. Alle drei Hieroglyphen
begleiten eine merkwürdige Darstellung: eine Reihe Göttergestalten, die
zwischen Blättern und Gezweig herabstürzen, indem ihre Gliedmassen
zum Theil in Blätter auswachsen.
Dieselben Hieroglyphen (Fig. 572 und 574) finden wir neben einer
anderen (Fig. 573) auf Blatt 17* b des Cod. Tro, wo Götter aus dem
Gezweig eines Baumes heraus sich kundzugeben scheinen.
Ist bei diesen Hieroglyphen und diesen Darstellungen ein direkter
Zusammenhang mit dem Affen noch denkbar, und öogar wahrscheinlich —
der Affe ist das Thier der luftigen Höhe, der im Gezweig sein Wesen
treibt. — so finden wir in den Handschriften auch noch ein anderes Thier,
das in dc^rselben Weise statt des Auges das Zeichen chuen enthält. Das
sind die vier Blitzfaokeln in den Händen tragenden Thiere Fig. 576 (Cod.
Tro i^2— )i3c), die also eine dritte, bezw. vierte Klasse von Sturmgenien
oder Blitzthieren darstrUen (vgl die Figg. 339, 540 und die Bilder 44(1),
45(2) b der Dresd<Mier Handschrift).
An die Fig. 569 und den eben gezeichneten Kopf des Blitzthieres
schliesst sich die Hieroglyphe Fig. 577 an, von der wir oben schon (Fig. 550)
Der Charakter der aztekitfoheu und der Maya- Handschriften. 75
eine interossanto Variante gozeiclmet haben. Die Hieroglyphe steht im
Cod. Dresden 29 — 30b vor den Zeichen der llimmelsriehtungen, an der
Spitze der Hieroglyphengruppen, welche den begleitenden Text zu Bildern
Chac's bilden, und erinnert insofern an die Hieroglyphe Fig. 37 und 38 — 43,
welche, wie wir zeigten, den Fanger, den Jilger, den Krieger bedeutet.
Die Hieroglyphe enthält zwei Merkmale, die an den Kopf eines Todten
erinn(»rn: die freiliegenden Zähne und die sich anschliessende Linie, das
Residuum des aufsteigenden Astes des Unterkiefers, und die Kugeln oder
Tropfen unter der Hieroglyphe. Eine Besonderheit sind die beiden schnur-
förmig auseinandergehenden Enden am oberen Theil der Hieroglyphe.
Mir scheint das in Verbindung gebracht wenlen zu müssen mit Bildern,
welche einen Krieg(»r zeigen, der einen abg(»8chnittenen Kopf oder eine
ganze Figur in der Schlinge trägt. Vgl. Cod. Dresden 67a, Cod. Cortez 27b.
Im Text sehen wir an ersterer Stelle den Vorgang ausg(»drückt durch die
Hieroglyphe Fig. 578 (3Iann mit dem abgeschnittenen Kopf in der Schlinge),
eine Hieroglyi)he, die in ganz ähnlicher Form (Fig. 578 a) im Cod. Tro
20* — 23 *a an der Spitze der Hieroglyphengruppen zu sehen ist, die den
begleitenden Text zu einer Anzahl Darstellungen von in der Schlinge oder
Falle gefang(»nen Thieren bilden. — Beiläufig bemerke ich, dass die
letzteren beiden Hieroglyphen weitere Beweise für die von mir aufgestellte
Behauptung heranbringen, dass die Fig. 60 (das Zahlzeichen zw^anzig) den
abgeschnittenen Kopf bedeutet.
Mit der Hieroglyphe Fig. 577 hat eine unbestreitbare Aehnlichkeit
die Hieroglyphe des Monatsnamens tzec, von der ich in der Fig. 579 die
LANDAsche Form, in den Figg. 580 — 582 die Formen der Dresdener Hand-
schrift gebe, tze, tzee bedeutet den zermalmten oder grob gemahlenen
Mais, bezw. «las Zermalmen, Zerstossen (im Gegensatz zu dem fein Zer-
reiben); tzeec die Zermalmung, Züchtigung, Busspredigt, tzec, tz'ec
den Schutt oder die Ruinen alter (lebäude. tzec scheint demnach den
„Zermalmer*^ zu bedeuten. Der Monat tzec ist der Monat, in welchem
die Bienenzüchter dem Bacab und insbesondere dem Hobnil (d. i. dem
Kanal Bacab) Opfer brachten. Der Honig war für die alten Maya
viel weniger der süsse, die Speisen würzende Stoff, als derjenige, von dem
der Honigwein (ci), das beniuschende Getränk, gemacht wurde. Der
Monat Tzec war ein grosses Saufgelage, weil in ihm die Bienenzüchter,
frommen Sinnes, den zu dem Getränk nothigen Honig in Menge spendirten.
Darin scheint mir die Bedeutung fies Namens und der Hieroglyphe dieses
Monats zu liegen. Ich erinnere daran, dass in Mexico der Gott des Weins
tequechmecaviani „der Erwürger**, teatlahuiani „der Ertränker"
genannt wird.
In gleicher verwandtschaftlicher Beziehung zu der Hieroglyphe Fig. 577
scheint die Hieroglyphe Figg. 583 — 585 zu stehen, die in der mittleren
AbiheiluDg der linken Seite der Blätter 46—50 der Dresdener Handschrift,
6*
76
£. Selbr:
associirt der Hieroglyphe Figg. 318, 31 1>, je einer der vier Himmelsrichtungen
und je einer von zwanzig Gottheiten und einem bestimmten Monatsdatum
zugeschrieben ist. In der oberen Reihe derselben Blätter wiederholen sich
(mit anderen, aber analog geordneten Monatsdaten) dieselben 20 Gottheiten,
dieselben Hieroglyphen Figg. 318, 319 und dieselben Zeichen der Himmels-
richtungen, aber statt der Hieroglyphe Figg. 583 — 585 steht hier die Hiero-
glyphe Fig. 443 — der Mann, der das Messer halt oder darreicht. —
Endlich erscheint das Zeichen chuen, gewöhnlich nicht einzeln, sondern
in Gruppen von zwei oder drei und mit Zahlzeichen versehen (Fig. 586)
unter den Opfergaben. Allerdings nur an bestimmten Stellen der Hand-
schriften. So auf Blatt 25 — 28 des Cod. Dresden. Femer auf den zu-
sammengehörigen Blattern im Cod. Tro 3() und Cortez 22, wo diese chuen-
Packete besondere Reihen bilden, die mit anderen — die Zeichen der
Himmelsrichtungen, Hieroglyphen der Windgötter oder mannigfaltige andere
Opfergaben enthaltenden Reihen abwechseln. Endlich auf den Blättern 10*
bis7*b des Cod. Tro, wo sie im hieroglyphischen Text, hinter den Sym-
bolen der Götter, anfangs neben Abbreviaturen der unten im Bild dar-
gestellten Opfergaben, weiterhin allein, wie an Stelle der letzteren stehen.
E300
In den unmittelbar darauf folgenden Blattern 7*— 5*b des Cod. Tro sieht
man neben den Zeichen der Opfergabon, wie es scheint, an Stelle der
chuen-Packete die Hieroglyphe Fig. 587, die auch in der Dresdener Hand-
schrift (Fig. 588) an mehreren Stellen neben Opfergaben vorkommt.
12. euob, ee, eb. E, ye heisst „die Schneide", „die Schärfe«, „der
Einschnitt"; eb, ebil, ebal, yebal (eine Reihe Einschnitte), Stufenreihe,
Treppe. — Auch im Quiche-Cakchiquel heisst e der Zahn, die Schneide;
ee ist die Cakchiquel-Pluralform des Wortes, für eeb des Quiche. —
Auch euob des Tzental ist eine Pluralform, wie ich vermuthe, von einem
Singular eu = ee. — Der Name «Ifirfte also in allen Sprachen das Gleiche,
und zwar „Zahnreihe", „Spitzenreihe" beztMchnen — eine Bedeutung, die
zu manchen mexikanischen Formen des Zeichens (Figg. 113, 114), sowie
zu dem Meztitlan - Namen des Zeichens (itlan „sein Zahn") vortreflFlich
passen würde.
Das Zeichen ist im LanDA durch die Fig. 589 gegeben. Im Cod. Tro
finden sich die Figg. 590 und 591. Aehnliche im Cod. Cortez. In der
Dresdener Handschrift haben wir die Formen Figg. 592—595 und Fig. 597.
Im Cod. Perez treffen wir, neben den gewöhnlichen Formen, die Pig. 596.
Der Charakter der aztekischen and der Maya- Handschriften. 77
Das Zeichen zeigt eine unverkennbare Aehnlichkeit mit dem unten
zu erwähnenden Zeichen men, welches, gleich unserem Zeichen, ein Gesicht
darstellt, mit eingekniifonom Mundwinkel (Oreisengesicht). Nur sind bei
dem Zeichen men regelmässig noch Wangenfalten und, wie es scheint,
borstige Augenbrauen gezeichnet, und es felilt die von Punkten oder
Härchen eingefasste Linie an der Seite des Kopfes. — Ich werde unten
zu erwähnen haben, dass mir das Zeichen men den Kopf einer greisen
Göttin darzustellen scheint, und dass ich diese mit der mexikanisch ce
quauhtli genannten, also gewissermaassen als Patronin <les Zeichens
quauhtli-mon fungirenden Göttin identisch halte. Nun unter dem Namen
ce malinalli — das wäre, in s Yukatekische übersetzt, hun ob — finden
wir im Cod. Yiennensis 16, neben der Göttin ce quauhtli, einen alten
Gott mit eingeknifTenem Mundwinkel und wallendem Barte, der unzweifel-
haft den Tonacatecutli, den Herrn unseres Lebens, den Urvater dar-
stellt. Dem Tonacatecutli entspricht der yukatekische Itzamnä. Nun
ist die Hieroglyphe dieses Gottes allerdings ganz anders constituirt
(Fig. 601). Aber ich habe schon erwähnt, dass das besondere Kennzeichen
dieses Gottes das von Punkten umgebene Zeichen akbal ist (Fig. 326),
und dasselbe Zeichen finden wür gelegentlich in Hieroglyphen auf dem
hinteren Theile des Schädels. Vergl. Fig. 602 (Cod. Perez 8.). Es erscheint
mir nicht ganz unmöglich, dass die von Punkten umgebene Zacke des
Zeichens eb eine Abbreviatur der Fig. 326 ist.
Die BQcher des ChiLAN BaLAM geben für das Zeichen eb die Formen
der Figg. 598 — 600, die mit der Form der Handschriften offenbar nichts zu
thun haben. Ich weiss dieselben auch nicht zu erklären, es sei denn, dass
man in ihnen ein Geflecht sieht, — und dies könnte an das mexikanische
malinalli -Strohseil erinnern.
Das Zeichen wird in Hieroglyphen kaum verwendet. Als einziges
Vorkommniss kann ich anführen, dass sich das Zeichen eb in dem Wasser
findet, welches auf dem letzten Blatte der Dresdener Handschrift die alte,
krallenbewaffnete, rothe Göttin aus dem Kruge giesst.
13. been, ah, ben. Das Qu'iche-Cakchiquel-Wort ah soll nach
XlMENEZ und BRASSEUR „Rohr**, „Maisstaude" (cana, mazorca) bedeuten.
Das Wort hängt vielleicht zusammen mit dem Worte ac, womit man in
Yucatan eine wild wachsende, liohe, breitblättorige Graminee, die zum
Dachdecken verwendet wird, bezeichnet.
Die Wurzel ben, been heisst im Maya „verbraucht". Wir haben
bencliahal „verbraucht werden", beentah, bentah „allmählich aufzehren",
benel, ])inel „ausgehen", „mangeln", dann „weggehen**, „gehen" überhaupt.
Das Zeichen ist in sehr übereinstimmender Form sowohl im LaNDA
(Fig. 603), wie in den Handschriften (Fig. 604 und 605) gegeben. Beson-
dere Formen sind nur die inverse Fig. 606 (Cod. Tro), die bereicherte
Fig. 607 (Tro 7*b) und die abweichende Fig. 608 (Dresden 10 c). —
78
E. SeLEK:
Pigg. ß09— (512 sind die Formen, welche die BQclier des ChiläN BaLAM
gobeii.
Was Hill) lÃœB Bedeutung dieses Zeichens angeht, so unterliegt es
keinem Zweifel, ilass ilie Figur desselben hervorgegangen ist aus der Zeich-
nung des Rolirgeflechtes, der Matte. — Die Matte erscheint in mexi-
kanischen Malereien iu der aus dem Cod. Meiidoza u. a. genugsam bekannten
Form Fig. G1.3. (ienau ebenso sehen wir dieselbe im Cod. Tro abgebildet
(Fig. 614). Die Dächer der Tempel und iiäuser sind in mexikanischen
Malereien, wo irgend genauere Zeichnung vorliegt, regelmfissig mit gelber
(a|. *•* 60S- i66- joi ioV <«T. ÄÄ 6« Stf.
^^ to? ^^ ^^ ^^ ^S ujjJot es ^S
Farl>t> gegcbi'n, und Stricholungen lassen erkennen, das» man Logen von
Stndi übereinmiiler sciiiciitcte. iu (Icrselben Weise, wie man in unseren
(li-tli-nden die Stroh da eh er baut oder liautc. Ein fester geflochtener First
sicherte, wie es scheint, den ZiiHammenhatig des (ianiten. Vcrgl. Fig. (il.'i.
In Yiicatan sciicint /um Theil anderes Material (ralmblAtter) zum Dach-
decken verwantlt worden zu sein. Ucn oberen Kchluss liildete aber immer
die rohrgefiocliteiie Matte, bczw. da^ festgefloclitene Strohbaiid. Und wir
küuueii Formen der Matte gerade an diesen Tempeldächeru gut etudiren.
Der Charakter der aztekischen und der Maya-HaDdschriflen. 79
Vgl. die Pijj;g. 017 — 620. Das weite Ueberliangen der Dächer, welches
diese Zeichnungen zeigen, entspricht der Art der yukatekischen Häuser,
so wie sie LaNDA boschreibt. Ein(» Wand theilt den ganzen Raum in
zwei Theile, Die vordere Hälfte, an den Seiten vollständig frei, nur von
dem überhangenden Dache bedeckt bildet eine Art offener Veranda, das
Empfangszimmer und der gewöhnliche Aufenthalt des Hausherrn bei Tage.
Die hintere Hälfte (las espaldas de la casa) ist geschlossen und enthält
<lie Sehlafräume der Familie.
Es giebt, wie ich schon oben S. 7 erwähnte, eine (iruppe Hieroglyphen,
welche ven»vendet werden, bald das Tragen in einer Matte, (Fig. 616, Cod.
Dresden 20c, 621), bald das Sitzen auf einer Matte (Fig. 622), bald das
3[attendach des Tempels oder den Tempel selbst zu bezeichnen (Figg. 621
und 623—630). Diese Hieroglyi)he enthält als Hauptelement das Element
der Matte und ein Symbol des Tragens, — die Hand (Fig. 621) oder Ele-
mente, die sich au& der Zeichnung der Hand entwickelt haben (Figg. 444
und 445); und man kann an diesen Hieroglyphen mit voller Deutlichkeit
den Uebergang der realistisch gezeichneten Matte in das Zeichen ben
verfolgen.
Die Formen des Zeichens ben, welche die Bücher des CHILAN BAIiAM
geben, zeigen — wie man in Fig. 619 sieht — ebenfalls das Mattengeflecht,
nur in anderer Zeichnung.
Das Zeichen ben ist einer ganzen Anzahl wichtiger Hieroglyphen —
sowohl in den Handschriften, als in den Reliefs — associirt dem Element
Fig. 6.M. Dasselbe ist in der Regel als Variante des Zeichens ik gedeutet
worden. Es tritt in einem gewissen Gegensatz zu d(»ni Zeichen kan auf.
Wir sehen z. li. im Cod. Tro 14* — 13*a eine Reihe Götter auf dem Zeich«»n
cauac sitzen. Die Götter des Regens, der Fruchtbarkeit, des Lichts halten
das Zeichen kan in der Hand, die Todesgötter das Zeichen Fig. (;32, also
unser ElennMit von einem Punktkranz umgeben. \)or Punktkranz verleitet
dazu, an die Flamm«» zu denken. In der That sehen wir das Element
(vgl. Figg. (>3;i 63()) auf dt^n Blättern 25— 2H der DresdeiuM- Handschrift
im Feuer von den Flammenzungen umlodert, ganz ähnlich, wie im Cod.
Tro an v(»rschiedenen Stellen di(^ bekannte schraub(»nförmige Figur (Fig. 635)
im Centrum der Flamme zu sehen ist. Dieser schraubenförmigen Figur
tritt das Element Fig. 631 auch in zusammengesetzten Hieroglyj)hen homolog
auf, z. B. in den Hieroglyphen Figg. (>36— 630. Diese Hieroglyphe ist, be-
gleitet von der Hieroglyphe Fig. 468, auf Blatt 18*a des Cod. Tro zu sehen,
wo Götterfiguren mit dem Obsidiansplitter sich das Ohrläppchen durch-
bohren und das Blut auf unten am Boden liegende schüsseiförmige Gegen-
stände fliessen lassen.
Ich möchte das Element als Symbol des Feuers oder des Brennens
auffassen und glaube, dass die beiden Elemente — ben und das eben
besprochene — neben einander eine ähnliche Bedeutung haben, wie dai
gO E. Seler:
stürzende Tempeldach und die darunter hervorschiessenden rauehumhüUten
Plammenzungen, d. h. Eroberung, Krieg, Unterwerfung, Zerstörung.
Dazu scheint die Art der Hieroglyphen, in welchen diese Gruppe vor-
kommt, Avohl zu passen. Wir finden dieselbe nehmlich zunächst in der
Fig. 640. Das ist die Haupthieroglyphe des Sonnen- und Kriegsgottes
Kinch ahau, dem nach LaNDA am Vorneujahrsfest der muluc-Jahre
(richtiger wohl der cauac- Jahre) der holkan okot (Kriegertanz) ge-
tanzt wurde.
Eine zweite sehr gewöhnliche Hieroglyphe, in der die Gruppe vor-
kommt, ist die Fig. 641, ein sehr gewöhnliches Attribut verschiedener
Götter. Das Hauptelement dieser Hieroglyphe ist, glaube ich, eine etwas
abgeschliffene Form eines Elementes, welches in den Figg. 578 und 578 a
vorliegt, d. h. des in der Binde getragenen abgeschnittenen Kopfes. Die
ganze Hieroglyphe würde demnach mit „der mit Krieg überzieht und
Gefangene heimbringt** übersetzt werden können, und das wäre der Fürst,
der König. Diese letztere Bedeutung ist, meine ich, auch auf Blatt 25
bis 28 b der Dresdener Handschrift anzunehmen, wo die Namen der den
einzelnen Jahren präsidirenden Gottheiten durcli diese Hieroglyphe und
die ihr homologe Fig. 642 eingeleitet worden.
Eine dritte Hieroglyphe endlich ist die Fig. 643, welclie neben der
ben- Gruppe eine Variante des Elementes men, d.h. den Adler enthält
Dieses letztere Element scheint es, seilen wir deutlicher oder ausgeführter
in einer Hieroglyphe der Altarplatte des Kreuztempels Nr. 1 in Palenque,
Fig. 644. Und ebendaselbst finden wir auch eine weitere Hieroglyphe,
Fig. 645, welche die ben- Gruppe über einem deutlichen Vogel- (Adler-)
köpf aufweist.
14. hlx^ yiz, ix (hiix^ gix). Das Zeichen entspricht dem mexioa-
nischon ocelotl „Tiger". Die letztere Bedeutung ist in den obigen Worten
nicht wiederzufinden. Nacli XlMENEZ bezeichnet yiz den „Zauberer".
In den Qu'iche-Vocabularien finde ich eine Wurzel yiz, yaz, welcher die
Maya- Wurzel eiz, ciiz entspricht, und die „furzen" heisst. Und weiter
eine Wurzel hiz, hix „auftrennen, aufbrechen, ausfasern", welcher die
Maya-Wurzeln hiit „sidi lösen", hiiz, hiio „ausfallen, ausgezogen werden"
(Haar), „aus der Scheide gezogen werden", hiich „kalil (der Blätter und
Früchte beraubt) werden", hiix „abgerieben werden" entsprechen, wozu
nocli hiix-cay „die rauhe abgezogene Haut eines Fisches" gehört.
Sollte hier das Fell des Tigers, statt des Thieres selbst, eingetreten
sein?
Das Zeichen ist ziemlich vielgestaltig. LaNDA giebt die Fig. 646.
Im Cod. Tro sind die gewöhnlichsten Formen Figg. 647—655. Einmal
(Blatt 30* c) findet sich die Fig. 656 und einmal (Blatt 12 c) der merkwürdige
Kopf Fig. 657. Der Cod. Cortez und Cod. Perez weisen keine wesentlich
verschiedene Form auf. In der Dresdener Handschrift finden sich die
Der Charakter der aitekischen und der Maja -Handschriften.
81
Figg. 658—664. Die Bücher des Chilan Balam haben die Formen
Fig. 665 — 667 (die zweite Figur steht offenbar falsch unter dem vorigen
Zeichen).
Die Form der Handscluriften ist, wie man sieht, ziemlich stereotyp.
Die echte Gestalt liegt flbrigens nicht in der Figur Landa's, sondern in
denen der Dresdener Handschrift und den besser gezeichneten der ersten
Blatter (33* 32*) <les Cod. Tro vor. Ks ist, das unterliegt keinem Zweifel,
das runde haarige Ohr und das gefleckte Fell des Tigers, welches durch
dieses Zeichen dargestellt wird. Und, wie wir sehen, wird gelegentlich
auch (Fig. 657 Tro Tic) statt dessen der ganze Kopf des Tigers gezeichnet,
oder man bringt (Fig. 6(54. Dresden 44(l)b) durch die darein gezeichneten
Zähne das reissende Thier, dessen Bild das Zeichen wiedergeben soll, in
Erinnermig.
Die Formen der Bücher des CHILAN BaLAM sind vielleiclit aus Formen
wie Fig. 681 entstanden.
Der Tiger erscheint im Cod. Dresden 8 a in der Reihe der 20 Gott-
heiten und ist liier in dem Text darüber durch die vier Hieroglyphen
Figg. 668 — 671 bezeichnet. Die erste, die Haupthieroglyphe zeigt den Kopf
des Tigers — in ähnlicher Weise, wie in dem oben gezeichneten Bilde
des Tageszeichens Fig. 657 — und als secundäres Element die Fig. 13,
welche wir oben als eines der vier (fünf) nach den Himmelsrichtungen
w(»ohaelnden hieroglyphischen Elemente erkannt haben, und dem ich ver-
muthungsweise den Lautwerth chac „roth*" zuschrieb.
Der Tiger erscheint ferner in der Reihe der fünf Gottheiten, welche
auf den Blättern 46 — 50 der Dresdener Handschrift, am unteren Ende der
Columne rechter Hand, vom Speer getroffen am Boden liegend, gezeichnet
sind. Die Hieroglyphen dieser Gottheiten stehen in dem mittleren Ab-
schnitt der rechten Coluninc» und zwar am Beginn der dritten Reihe. Die
ganzen BlättcT 46 — 50 sind, wie es scheint, in concentrirter Form wieder-
holt auf Blatt 24 der Dresdener Handschrift. Wir sehen von den Hiero-
glyphen der 20 (lottheiten, welche in doppelter Reihe auf der linken Seite
der Blätter 46 — 50 vorkommen, fünf, und zwar das 9., 13., 7., 1., 5. Zeichen
auf diesem Blatt 24 wiederholt, und zwar von denselben eigenthümlichen
82 £• Seler:
Hieroglyphen begleitet, die wir auch auf den Blättern 46 — 50 neben den
Hieroglyphen der 20 Gottheiten sehen. Desgleichen finden wir die Hiero-
glyphen der eben erwähnten fünf durchschossen am Boden liegenden Gott-
heiten auf Blatt 24 in derselben Reihenfolge unter einander geschrieben.
Der Tiger ist an beiden Stellen (Dresden 47 rechts b, Dresden 24) durch
dieselbe Hieroglyphe bezeichnet, die im Cod. Dresden 8 a als Haupthiero-
glyplio fungirt (Fig. 668). Auch wo wir sonst den Tiger hieroglyphisch
bezeichnet finden, ist regelmässig der Kopf des Thieres von dem Element
chac (Fig. 13) begleitet. Nur im Codex Tro 17c tritt statt dessen das Zahl-
zeichen vier auf (Fig. 672).
Von den Attributen des Tigers enthält das erste, Fig. 669, augen-
scheinlich das Element ix, wie es z. B. in den Figg. 653 — 654 des Cod.
Tro gezeichnet ist. Aber dasselbe ist hier associirt mit der Schleife (dem
Handgriff) und dem Element der Schärfe, der Schneide (Fig. 73). Die
ganze Hieroglyphe finden wir, mit einigen Varianten (vgl. Figg. 546 und 673)
als Attribute verschiedener Götter ven^endet. Es tritt z. B. im Cod. Cortez
regelmässig als Hauptattribut des Gottes Itzamna statt der sonst üblichen
Fig. 253 auf. — Das zweite Attribut, Fig. 670, ist das bekannte Symbol des
Gottes der Fruchtbarkeit und des Gedeihens (Hobnil?) und ist dem Tiger
vermuthlich zugeschrieben, weil Balam „Tiger" die übliche Bezeichnung
für die Gottheiten der vier Himmelsrichtungen, der regenbringenden vier
Winde ist.
15. tzlquln, tziqaln, men. Das Wort tziquin heisst „Vogel^. Das
würde dem mexikanischen Namen des Zeichens (quauhtli „Adler") ent-
sprechen. — Schwer ist dagegen zu verstehen, woher die yukatekisclie
Benennung dieses Zeichens genommen ist. men heisst „gemacht werden",
„Arbeit", „Werk": men, h-men, ah men der „Verfertiger, Handwerker,
Künstler", aber auch „der Zauberer, der Weise", der in dem durchsichtigen
Stein das Vergangene und Zukünftige sieht. Man ist versucht, an mexika-
nisch ce quauhtli „ein Adler" zu denken, unter welchem Namen im
Cod. Viennensis eine alte, wolil in Beziehung zur Xochiquetzal-Tona-
cacihuatl stehende und, wie diese, gelegentlich (z. B. im Cod. Vienn. 17)
mit der Helmmaske des quetzal-Vogels dargestellte Göttin abgebildet wird,
als deren besonderes Attribut im Cod. Vienn. 28 künstlich verzierte
Schulterdecken angegeben werden.
Das Zeichen ist im LaNDA sehr undeutlich durcli die Fig. 674 gegeben.
Sehr deutlich und characteristiscli sind die Formen des Cod. Tro (Figg. 675
bis 679). Die Codd. Cortez und Perez fügen nichts Neues hinzu und auch
die Formen der Dresdener Handschrift (Figg. 680 — 683) bieten kaum etwas
Anderes. Figg. 684—686 zeigen die Formen der Bücher des ChilaN BaLAM.
Die Formen der Handschriften sin<l, wie mir scheint ziemlich sicher
als ein Greisengesicht zu deuten. Wir sehen den eingekniffenen Mund-
winkel und die Wangenfalten, wie sie, genau ebenso, in dem Haupt-
Der Charakter der aztekisehen und der Maja -Handschriften.
83
elemento der Hieroglyphe des alten Oottes, Itzamna's, zu sehen sind. Mit
Berücksichtigung dessen, was ich eben bei der Besprechung des Namens
nien angeführt, bin ich versucht, hier an eine Göttin zu denken, und zwar
an <He Göttin, deren Hieroglyphe als auszeichnendes Element die Fig. 14
(zak ^weiss*^) enthält und die ich oben Fig. 29 abgebildet habe, die greise
(löttin, die Genossin Itzaninas, der, wie ich meine, der Nameixchel zu-
kommt und die im Wesen jedenfalls identisch ist der Tonacacihuatl-
Xochiquetzal, der im Wiener Codex das Zeichen ce quauhtli als
Namenshieroglyphe tragenden, die Künste und Gewerbe und die kunst-
fertigen Frauen beschirmenden Göttin.
Das Zeichen men ist in einer Reihe augenscheinlich zusaminen-
gehöriger Bilder und Hieroglyphen zu erkennen. Bei <ler einen (Pigg. 687
bis (589) sieht man den Scheitel des Zeichens mit einer Beihe Federbälle
^11' ^t9^ C9I iU
bt»8(»tzt, und daran ist gelegentlich eine Schleife (Figg. 689, «590) zu sehen.
Bei den and<»ren (Figg. ()91— 69.S) sieht man auf dem Scheitel des Zeichens
den hieroglyphischen Kopf des Adlers, ein Auge und einen Flügel. Hier-
von treten Varianten auf, die d(Mi hieroglyphischen Kopf des Adlers durch
ein anderes Element er8«»tzen (Figg. 69(5, 697). Andere, bei denen das
Zeichen m«»n selbst metamorphosirt erscheint (Fig. '594). Endlich solche,
welche das metamorphosirte Zeichen men auf dem Scheitel mit Federbällen
bes(»tzt zeigcMi (Fig. 695). Eine dritte Reihe von Hieroglyphen zeigt auf
dem Scheitel des Zeichens men die ben-Oruppe (Fig. 698). In diesem
Zeichen ist aber gewöhnlich das Element m(Mi metamorphosirt (Figg. 699,
7()0, 643). Und diesen schliesst sich die oben gezeichnete Fonn der Reliefs
an (Fig. ()44), widch«» <»in stark metamorphosirtes Zeichen men, auf dem
Sch«Mtel mit F<M|<»rbälh»n iM'setzt, und darüber die ben-(iruppe aufweisen.
Diese Hi«»roglyphen treten als Attribute verschiedener Götter auf.
Und die erstgenannten (Figg. 6^7 — 689) dienen, gleich dem Zeichen Fig. 188
84
£. Selbr:
dem Chac und seinem Assistenten, dem Gott mit der Schlange über dem
Gesicht (Fig. 33) als Sitz.
Die Beziehung zum Adler ist, meine ich, deutlich gegeben: durch
die der Hieroglyphe Fig. 644 parallele Fig. 645, dadurch dass der hiero-
glyphische Kopf des Adlers (Fig. 335) auf dem Scheitel des Zeichens auf-
tritt, dass die Hieroglyphe Fig. 64*^ als Attribut des Adlers erscheint, durch
die Federbälle und die Flügel un<l die kriegerischen Embleme. — Dass
diese Hieroglyphen den Göttern als Attribute beigegeben werden, können
wir verstehen. Wie aber kommt es, dass die Figg. 687 — 689 dem Chac
als Sitz dienen? Nun, der Chac ist kein Gott des Wassers überhaupt,
sondern des Regens, die regenschwangere Gewitterwolke ist sein Vehikel,
der Sturmvogel ist das Reitthior, auf dem er einherfiährt. Ich werde auch
unten noch zu envjihnen haben, dass diese Figuren überall unter Symbolen
auftreten, die wir als Himmel o<ler Wolke zu deuten haben.
16. chabln, alimak, clb. Das Wort cib wird im heutigen Maya für
„Kerze", „Wachs", „Kautschuk", „Kopal" gebraucht. Das ist aber erst
fos, TOj» 7or 701; 101 ^io 7/f
7iL-^ 7il_ 7/^. 7/6 m
eine abgeleitete Bedeutung. Die Wurzel ist ci, cii, „gut schmecken",
„gut riechen". Davon abgeleitet cib, „wodurch etwas gut schmeckt", „wo-
durch etwas gut riecht", d. i. „Würze" oder „Raucherwerk". — Die anderen
Namen weiss ich nicht zu deut(»n.
Das Zeichen hat bei LandA die Form Fig. 704. Im Cod. Tro finden
sich die Formen Fig. 705— 711. Aohnliche im Cod. Cortez und Perez.
Die Dresdener Handschrift hat die Formen Fig. 712—717, wo nur die
letzteren beiden (Dresden 46 und 49) abweichen. Die Bücher des CHILAN
Balam geben die Formen Figg. 718—721.
Das Zeichen findet sich in den Handschriften mehrfach auf Weinkrügen
abgebildet (Figg. 701 — 703). Da ei im Maya der Honigwein heisst, so
stimmt das zusammen. Ob mit dieser Beziehung auch der Sinn des
Zeichens getroffen wird, lasse ich dahingestellt. Den Pulquekrug sieht
man in mexikanischen Abbildungen in der Regel von einer Sehlange um-
wunden, — zum Zeichen der feurigen und verderblichen Eigenschaften des
Getränkes. Eine Schlange scheint auch über dem oberen Theil des Zeichens
cib zu liegen.
Der Charakter der aitekischen und der Maja- Handschriften. 85
Das Zeichen ist im Mexikanischen nach dem Geier benannt und ist
Symbol des Alters. Es war ein auch in Bildern mehrfach ausgedrücktes
Gesetz, dass der Wein — vermuthlich, wie ich an einer anderen Stelle
auseinandergesetzt, wegen der religiösen Bedeutung, die der Wein hatte, —
nur dem Alter erlaubt war, zu geniessen.
17. chlCy noh^ caban. Aus den Worten ist nicht viel herauszulesen.
Cttb heisst im Maya „Bo<len", ^Erde", „Welt"; und cab heisst „Honig,
giftige Absonderung eines Insekts, Ausschwitzung einer Pflanze**. Die
erster« Wurzel bildet eine Relativform cabal mit der Bedeutung „unten",
^niedrig"; die letztere hat die Relativform cab il von derselben Bedeutung,
wie die Wurzel, caban hat die Form eines Participiums und wüjrde, falls
es mit den genannten Wurzeln in Verbindung gebracht werden darf, etwa
„was in den Bo<len gebracht" oder „was ausgeschwitzt worden ist" bedeuten.
Allenfalls könnte also das Wort der mexikanischen Bezeichnung (oll in
^ Kautschukball") sich anpassen. — Die anderen beiden Worte weiss ich
nicht zu deuten.
LanDA giebt für das Zeichen die Fig. 722, also nach rechts gewendet.
Der Cod. Tro hat theils rechts, theils links gewendete Formen (Figg. 723
bis 729). Ebenso der Cod. Cortez. Der letztere hat daneben noch einige
Doppelformen (Figg. 730, 731). In der Dresdener Handschrift sind die
Figuren, bis auf einzelne Ausnahmen (Fig. 736), nach links gewendet.
Die gewöhnliche Form ist die Figg. 732 und 733. Daneben finden sich
im hinteren Theil der Handschrift noch die ein besonderes weiteres Element
enthaltenden Figg. 734 und 735. — Die Bücher des CHILAN BALAM geben
die Formen Figg. 737—739.
Das Zeichen caban bildet den wesentlichen Bestandtheil der Hiero-
glyphe, welche vertikale Richtung, die Bewegung von oben nach unten
o<ler von unten nach oben ausdrückt (Figg. 18, 22, 23). Von der Hiero-
glyphe kommen zwei Varianten vor, und man könnte zunächst die Frage
aufwerfen, ob wir es hier nur mit einer verschieden variirten oder zwei
verschiedenen Hieroglyphen zu thun haben, von denen die eine etwa die
Richtung nach oben, die andere die Richtung nach unten bedeutete. Ich
möchte mich für die erstere Auffassung entscheiden. Denn ich finde die
beiden Hauptvariationen der Hieroglyphe an Stellen verwendet, wo von
einem Richtungsuuterschied nicht gut die Rede sein kann. Vgl. die
Figg. 741 — 74*^ die auf Blatt 32 — 35 b der Dresdener Handschrift am
Schluss der Hieroglyphengruppen stehen, welche den Text zu den beiden
Figuren Chac's bilden (des schreitenden mit der Blitzfackel in der Hand
und des anderen, der mit dem Copalbeutel in der Hand auf dem von
der Schlange gebildeten Wassersack sitzt). Die Fig. 22 (Hieroglyphe der
vertikalen Richtung) ist vollkommen gleich der Fig. 740, die im Cod.
Tro 32* c am Kopf des Textes steht, wo auf dem Bilde darunter ein
86 E. Seleb:
schwarzer Gott dargestellt ist, der, auf ointT Matte liogoml, ein über ihn
geatalpteu Geflecht in die Höhe drückt. Einoii heaondoreii Abschnitt des
Cod. Tro bilden die Blätter 10*— 1', die von CYRUS THÜMAS als Kalender
für Bienenzüchter erklärt worden sind. Hau sieht nehmlich in den meisten
der Abschnitte ein geflügeltes Iiisect — von der Form einer Biene, ikel-
cab, das „Honiginsect" im Msya genannt — , welches von einer Art frei-
schwebenden, mit den Elementen des Zvichens caban beschriebenen Brettes
.herabachwebt und sich auf unten aufgestellte Opfergaben zu stürzen scheint.
7«- ?« Ttf- «S; ;,{(. 7t7. 7» 7tf 7» fW.
y>^ ^ — ' -V"^ -in. »•». '"•
7«_ _ U^ ,fiV^/,.|^fl.i^
Im Text stehen als durchgehen de Hieroglyphe die Figg. 744 — 746. Davor
gewöhnlieb die Hieroglyphe Figg- 452 — 453 (Symbol iler I>arbringung) oder
die Hierogly])he Figg. iVl'A~(i-2% (Symbol des Tempels). Und unmittelbar
daniach die Namen und Attribute <ler Götter. Die Hieroglyphe Figg. 744
his 74G selbst entlifilt dieselben Elemente, wie die Hieroglyphe der
vertikalen Richtung. Ich kann den Vorgang und <lie Hieroglyphe nur
deuten als da» Herabkommen der Götter zum Opfer. Bekannt ist, was
LlZANA von dem l<lol Kinicli Kakmö „Sol con rostro quc sns rayos
eran de fuego" erzählt, dessen Tempel in Itznial stund, und das jeden
Der Charakter der aztekischen und der Maja -Handschriften. 87
Mittiig vom Iliiiiinel herunter kam, das Opfer auf dem Altar zu verbrennen,
wie der bunte Arara im Flug herunterkommt (como bajava volando la
vaeamaya con sus plumas de varios coloros).
Auf Blatt 38b 39b der Dresdener Handschrift sehen wir den Chac
mit einem eigenthümlichen Gegenstand in der Hand (vgl. Figg. 747 — 748),
gleichsam aus einem Schlauch giessend, und inmitten dieser beiden Dar-
stellungen ist eine andere, welche die rothe üöttin mit den Tigerkrallen
(vgl. die Hieroglyphe Fig. 28) zeigt, Wasser aus einem Kruge auf die
Erde giessend. Im Text steht beide Mal die Hieroglyphe Fig. 751 bezw.
7f)2 — das Symbol der vertikalen Richtung — und ein drittes Mal die-
selbe Hieroglj'phe und ausserdem die Hieroglyphe Fig. 755, die das Element
caban und, wie es scheint, einen Topf enthalt. Im Cod. Tro 29 — 30b
sehen wir eine ganz ähnliche Darstellung. Vier sitzende Figuren Chac's
unter den Zeichen der vier Himmelsrichtungen. In der Hand derselbe
merkwürdige Gegenstand (Fig. 749), nur, wie es scheint, noch mit fallenden
Tropfen daran. Er hält den Gegenstand über der Fig. 750, d. h. das
Z(Mchen kan mit dem Kopfputz des Gottes des Gedeihens (Hobnil). Der
Text zeigt eine der Fig. 755 durchaus ähnliche Fig. 756. Daneben aber
die Hieroglyphe Fig. 758. Endlich haben wir im Cod. Tro 31 — 30 d eine
Reihe Darstellungen, die mit dem Chac beginnen, der aus einem Krug
Wasser auf einen der Fig. 750 gleichen Aufbau giesst. Im Text haben
wir, neben der Hieroglyphe Figg. 516 — 519, die Hieroglyphe Figg. 753 u. 754,
die an die Figg. 744 — 746 erinnert und jedenfalls auch in diesen Zu-
sammenhang gehört. Eine den Figg. 755 und 756 ähnliche Hieroglyphe
ist auch noch die Fig. 757, welche im Cod. Tro 30 — 29 c im Text steht,
während man darunter den Gott des Gedeihens, den Gott mit dem kan-
Zeichen (Hobnil) auf dem Elemente caban sitzen sieht, das erste Mal das
Zeichen ik. das letzte Mal das Zeichen kan in der Hand haltend.
Das Herabkommen zum Opfer, tlas Herabkommen des Regens — darum
dreht es sich in allen diesen Hieroglyphen. Und aus dem constanten Vor-
kommen des Elementes caban in diesen Hieroglyphen schliesse ich, dass
dem letzteren die Bedeutung das „Obere", „Himmel", „Höhe" zukommt.
Eben das scheint mir auch aus den sonstigen Vorkommnissen dieses Ele-
mentes hervorzugehen.
Ueberaus häufig fungirt das Element caban als Sitz oder Thron oder
Fussgestell der Götter. Im Cod. Tro ist dabei meist das einfache Zeichen
caban verwendet, sitzartig erweitert (Fig. 759) oder mit einer Rücken-
lehne aus Mattengeflecht versehen (Fig. 760). In der Dresdener Hand-
schrift dagegen 8eh<»n wir gewöhnlieh das Zeichen caban und muluc
nebeneinander (Figg. 701, 762), — ganz wie diese in der Hieroglyphe der
vertikalen Richtung (Figg. 18 und 741) neben einander zu sehen sind, —
als Sitz- oder Fussgestell für die Götter dienen. Oder es ist eine mit den
Elementen des Zeichens caban versehene, oder aus caban gebildete
88 E. Skler:
Schlange (Figg. 763—764), auf welcher der Chac lierunterfahrt. In dem
Text daneben sieht man bald die Hieroglyphe Fig. 741, bald Fig. 742 oder
(in dem letzteren Falle) die Fig. 765. Gerade das Nebeneinander von
caban und muluc, wie es die Vorkommnisse der Dresdener Handschrift
zeigen, ist ein deutlicher Beweis, dass das Zeichen caban hier den
himmlischen Sitz bedeutet — ganz wie wir an verschiedenen Stellen
der Handschriften die zeichenbedeckten Himmelsschilder als Sitze für
Götter fungiren oder geradezu in Stühle transformirt sehen.
Von diesem Gesichtspunkt aus, glaube ich, muss man auch die vier-
eckigen, theils einfach gelb gemalten, theils mit den Elementen des
Zeichens caban bedeckten, theils frei schwebenden, theils gleichsam an
Stricken aufgehängten Schilder betrachten, von denen auf den Blättern 10*
bis !• des Cod. Tro die geflügelten Insekten herabschweben.
Unter gleichem Gesichtspunkt aber, glaube ich, ist es auch aufzufassen,
wenn wir im Cod. Tro 24 b die Bearbeitung, bezw. das Fällen des Baumes
Fig. 766, durch die Hieroglyphe Fig. 767 ausgedrückt finden, wo also das
Element caban für den Baum steht.
Ich habe schon die merkwürdigen Darstellungen erwähnt, wo wir
Götter in Blättern und Rankenwerk gehüllt herabstürzen oder aus dem
Gezweig eines Baumes herabsprechen sahen. Es finden sich nun aber eine
ganze Reihe von Fällen, wo das Gezweig dos Baumes als Sitz für den
Chac oder dessen Assistenten, den Gott mit der Schlange über dem Gesicht
(Fig. 33) dient. In diesen Fällen finden wir, dass der Baum (Fig. 771)
homolog auftritt z. B. den Figg. 768, 769, 770, d. h. dem Himmelsschild, .
dem Pfade und, — wie ich unten zeigen werde, — der Wolke. An
anderen Stellen tritt er homolog auf der Hieroglyphe Figg. 300, 301,
einem anderen schon genannten unzweifelhaften Symbol des Himmels,
oder der Fig. 687, dem Adler oder Wassergefässen. Und einmal (Cod.
Dresden 33c) sehen wir den Baum in seinem Innern eine von welligen
Seitenwandungen begrenzte Wassermasse bergen, auf welcher der Chac
sitzt. Dass also der Baum der Handschriften nur der Wolkenbaum, der
Himmelsbaum sein kann, erscheint mir zweifellos.
18. chinaxy tlhax, eonab (ezanab). Das Zeichen entspricht dem
mexikanischen tecpatl „Feuerstein". Damit stinmit sehr wohl zusammen,
wenn NüNEZ DE LA VEGA von <lem Zeichen ehinax, bezw. von der
Tutelargottheit desselben angiebt, dass er ein grossem Krieger war, dass
er in den Kalendern immer mit einem Banner in der Hand dargestellt
worden sei, und dass er von dem nagual eines anderen heidnischen Zeichens
erwürgt und verbrannt worden sei.
Für tihax giebt XlMENEZ die Bedeutung „Obsidian" an. Mit welchem
Recht, weiss ich nicht. Das Wort scheint mit der Wurzel teuh „kalt**,
tih-ih „kalt sein" zusammenzuhängen, mit der auch die Worte tic „ein-
stecken", „einstechen", tiz „nähen", tiztic „spitz" zu vergleichen sind.
Der Charakter der azU*!kischen und der Maja- Handschriften. 89
Das Wort (»onab konnte mit «lor Wurzel eo „fest", „starr", „hart"
ziiHammonhangon.
Das Zeichen ist sehr flbereinstiinnientl im LanDA (V\g, 772) und in
<h»n Handschriften (Pigg. 778—777) gegeben. Nur die Formen des ChilaN
BALA3I weichen vollkonim(»n ab (Figg. 778 — 781). Der Sinn des Zeichens
ist vollkommen klar: <lie Bruchlinien des geschlagenen Steins. Und dass
dies die Bedeutung des Zeichens ist, geht klar daraus hervor, dass wir
auch die Feuersteinspitzen der Speere (Fig. 782), des Steinbeils (Fig. 783)
und des Opfermessers (Fig. 784) mit denselben Zickzacklinien gezeichnet
sehen.
77i. »7^- '?7¥ 7?r. 77^. 777. 11 1 Ilf 7^9. "iV
19. cabogh, caok, cauac. Für das Cakchiquel-Wort giebt XlMENEZ
die Bedeutung „liegen**, also entsprechend dem mexikanischen quiahuitl.
In den Vokabularien finde ich ein Wort solcher Bedeutung nicht. — Eine
gewis.se Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass in dem Tzental-Wort eine
ältere oder wenigstens präcisen» Form vorliegt. Demnach werden wir
annehmen können, dass der Endguttural nicht ein c oder k, sondern die
dem k entspr(»chende letra herida ist, d(jr Laut, den BRASSEUB mit g
bezeichnet, <len ich mit STOLL 'k schreibe. Ein auf diese letra herida
ausgehendes Suffix ist mir in den Maya- Sprachen unbekannt. Es muss
also die mit diesem Laute schliessende Silbe wurzelhaft sein, und so
(»rgi<d)t sich mit Bestimmtheit, dass das Wort ein Compositum ist un<i
vermuthlich in die zwei Bestandtheile cab und o*k zerlegt werden muss.
Für di(» Wurzel cab haben wir oben die Be<leutungen angegeben, einer-
seits ^Boden", „Erde"^, „Tiefe", andererseits „Wachs", „Ausschwitzung
(Harz)". Und mit dem Lautwerth o'k finden wir eine Wurzel, von der
es eine ganze Menge Derivate giebt, und in der sich die Begriffe „weinen",
„traurig sein", „dunkel" zu vereinigen schein(»n. Wir würden daher
cab-o'k mit „das Herabweinen" oder „das die Erd<» überziehende Dunkel"
übersetzen können.
Das Zeichen ist im LANDA durch die Fig. 785 gegeben. Der
Cod. Tro hat die Formen Figg. 786 — 793 und einmal (Cod. Tro 28M) die
merkwünlige Form Fig. 794. Die Formen des Cod. ('Ortez stimmen mit
den gewöhnlichen Formen des Cod. Tro überein. Xur kommt gelegentlich
einmal (Cod. Cortez 10a, 14b, 17b) eine inverse Form vor. Die Dresdener
Zcittchrifi für KtbiioIoKic. Jahry. IMW. 7
90 E' Beler :
HandBchrift hat Hie Formen Figg. 796—801. Der Cod. Perez hat die Form
Fig. 795. Dio Bücher des CUILÄN BaLAM enthalten die Figg. 802—803.
Khe ich auf die weitere bildliche und hieroglyphische Verwendung
dieses Zeichens eingehe, erwähne ich, dasa dasselbe als Attribut eines
eigenthümlichen Wesens erschoint, dessen Kopf in der Hieroglyphe des
Monatsnamens Moan (Muan) vorliegt (vergl. die Figg. 51, 52 und die
eigenthfimliche Variante Fig. 54). Der Kopf dieses Thieres (Figg. 53 und
804) zeigt einen culenarttg gckrfimmten, an der Basis mit starken Scbnurr-
iiaaren uder liartfcdf-ni i'inp'fasHtcii S(-hnal)el. grosse behaarte (befiederte)
und gefleckte Ohren und ein grossfg Auge, Der Leib, der bald Menschen-
gestalt hat (Dresden 10a, 7('), bald vogolartig und mit Flügeln versehen
ist (Dresden 16c, 18b. Tro 18*c), Keigt regelmässig einen mit grossen
schwiirzcn Fh-cken bcttet/.ten Kückentheil und läuft in einen längeren oder
kürzeri-n, in der Regel stum|>f abgerundet endigenden, gleichfalls gefleckten
Schwanz aus. Hieroglyidiisch ist das Wesen im (lod. Dresden 10a durch die
Fi(^. 805—808, d. h. durch das Symbol der 13 Himmel, das Zeichen caoac,
das Zeichen der Eule und den Kopf des ßlitzthieres bezeichnet. Dresden 7c
Der Charakter der axtekischen und der Maja - Handschriften. 91
f(»hlt die letzte Hieroglyphe, und die beiden ersten sind etwas variirt
(Figg. 810, 811). An anderen Stellen steht als Haupthieroglypho die
Fig. 809, d. h. die Zahl 13 (m Stelle der 13 Himmel) und der Kopf des
Moan-Thieres scdbst. Dahinter folgt gewohnlieh die Hieroglyphe der Eule
(Fig. 807). Dresdt^n 12a seheint an <»rster Stelh» <lie Fig. 813 zu stehen,
darnach die Fig. 805 und an Stelle «ler Kuh» i\ov Kopf des Todten (Fig. 812).
Muyal heisst im Maya die „Wolke** und moankin ein „trüber, reg-
nerischer Tag** (dia nublado y lloviznoso). Es scheint also, dass dieses
Wt»sen die mythische Coneeption der Wolkenbed eckung des Himmels
darstellt. Andererseits scheint es k(Mnem Zweifel zu unterliegen, dass
eines <ler wesentlichsten Elemente des Zeichens cauac - nehmlich das,
was in den sorgfältiger ausgeführten Zeichnungen der Dresdener Hand-
schrift und des Cod. Tro in (lestalt der Figg. 814 und 815 erscheint —
nichts anderes darstellt, als den am (irunde von Bartfedern eingefassten
Schnabel dos Moan -Vogels. Als besondere Elemente enthält das Zeichen
cauac noch das Kreuz (AVindkreuz?) und die traubigen Massen, die am
richtigsten wohl als die schweren, vom Himmel herunterhängenden Wolkon-
ballen gedeutet werden.
Findet aber in der That dieser Zusammenhang zwischen der mythischen
Coneeption der Wolkenbedeckung des Himmels und dem Zeichen cauac
statt, so werden wir uns nicht weiter wundem dürfen, dass wir dieses
Zeichen, ebenso wie andere Symbole des Himmels, gelegentlich (z. B.
im Cod. Tro 14*, 13*a, Cöd. Cortez 25) <len (lottern als Sitz oder Fussgestell
dienen sehen. Wir sehen <labei entwe<ler das Zeichen cauac einfach
sitzartig verbreitert (Fig. 816), oder es hat «lie Gestalt eines an der
Aussenseite eigenthümlich ausgebuchteten Wassergefasses (Fig. 817), oder
es ist ein Kopf, mit den Elementen des Zeichens cauac bedeckt (Fig. 818
und 819). Die Köpft» sind dieselben. wi«> sie an dem Wurzelende von
Bäumen zu seihen sind (vergl. Cod. Dresd(»n 41b, Cod. Tro 17*a und a. a. 0.).
Dass diese Kopfe nur als Abbreviaturen von Bäumen anzusehen sind,
geht aus der Fig. 820 und aus <ler Thatsache, <lass wir auch die Bäume
(z. B. Cod. Tro I5*a, Dresden 25 — 28c) mit den Elementen des Zeichens
cauac bedeckt sehen, hervor. Dass diese Bäume und die Abbreviaturen
derselb«»n. die cauac- Köpfe, nur den Wolkenbaum, den Himmel, bedeuten
können, erscheint mir nach den obigen Auseinandersetzungen klar.
In diesen Zusammenhang scheint mir auch zu gehören, dass wir auf
den Blättern 10*- -1* des Co<i. Tro die oben erwähnten caban-Bretter nicht
selten mit ähnlichen cauac - Brettern combinirt finden. Auffällig ist nur,
dass diese b(*i<len combinirt als Unterlage für Opfergaben fungir(»n. Un<l
ebenso aufTäUig ist es, dass wir die Basis an T(*nipeln nicht selten mit den
Elementen <les Zeichens cauac oder mit diesen und daneb^'U mit einer
caban-Hinroglyphe bedenkt find'»n.
Merkwürdig sind auch die Bilder im Cod. Tro 32* b. Wir sehen oine
92 E- Seler:
Anzahl Götter, welche ein mit den Elementen des Zeichens cauac be-
decktes Brett in der Hand halten. Im Text steht die Hieroglyphe Fig. 822,
begleitet von der Hieroglyphe Fig. 573. Ein ähnliches Brett, nur mit einer
Art von geflochtenem Handgriff versehen (Fig. 821), ist vor den Götter-
figuren auf Blatt 12*c «les Cod. Tro zu sehen. Im Text steht die ähnliche
Hieroglyphe Fig. 823. — Eine den eben gezeichneten ähnliche Hieroglyphe
kommt auch auf Blatt 2 (45) b c der Dresdener Handschrift vor (Figg. 457
bis 460). Hier lialten aber die Götter, statt obiger Bretter, wie es scheint,
Netze und Stricke in der Hand.
Von den hierogl}Tphischen Vorkommnissen des Zeichens ist besonders
bemerkenswerth die Fig. 824 und 825. Die erstere erscheint im Codex
Dresden 4b in der Reihe der Hieroglyphen der 6 (bezw. 7) Götter, die
— ohne Zweifel wohl die 6 Hinnuelsrichtungen bezeichnend — dort das
griinbeschuppte, mit den Hieroglyphen des Todesgottes gezeichnete un-
geheuer umgeben. Und sie erscheint im Cod. Dresden 12 c und 21c als
Hauptlüeroglyphe eines alten kahlköpfigen Gottes (Fig. 831), der in der-
selben Serie (Dresden 21 c), wie es scheint, noch einmal, aber durch eine
andere Hauptlüeroglyphe (Fig. 826) bezeichnet ist. Die zweite Hieroglyphe,
Fig. 825, erscheint im Cod. Dresden 4 a als zweite, bezw. dritte Hiero-
glyphe ein(»s Gottes, der, wie es scheint, mit dem vorigen identisch ist.
Wenigstens zeigt er dieselben markanten Züge und, wie es scheint, auch
die Linie um den äusseren Augenwinkel, der in dem Gesicht (Fig. 831)
und der Hieroglyphe (Fig. 826) des eben genannten Gottes zu sehen ist.
Der Gott selbst ist — mit dem Kopfputz der Hieroglyphe (Fig. 830) —
noch einmal im Cod. Dresden 37a in einer Reihe von Chac-Darstellungen
zu sehen. Hier ist or aber hieroglyphisch nicht durch die Fig. 824, sondern
durcli die Fig. 828 bezeichnet, welche das Element cauac durch ein anderes
Element (Fig. 832), auf das ich unten noch zu sprechen kommen werde,
ersetzt. Die zweite Hieroglyphe (Fig. 825) finden wir in der Reihe der
Hieroglyphen der zwanzig (lottlieiten, die mit einmaliger Wiederholung
auf der linken Hälfte der Tafeln 4() — 50 und im Auszug auf der Tafel 24
der Dresdener Handsclirift zu sehen sind. Und hier tritt neben der ur-
sprünglichen Form (Fig. 827) tlie Variante Fig. 829 auf, die also ebenfalls
das Klement cauac durch das Eh'ment Fig. 832 ersetzt zeigt.
Was die Natur dieses (lottes anhingt, so hebe ich her>'or, dass er im
Cotl. Dresden 37a in einer Reihe von Darstellungen Chacs erscheint und,
wie der Chac, mit dem Beil in der Hand unter dem Wasserströme herab-
sendenden Ilimmelsschild zu sehen ist; tlass er auch im Cod. Dresden 4a
unmittelbar dem Chac folgt; dass al)(»r im Cod. Dresden 21c, wo der Gott
zweimal vorkommt, es sich augenscheinlich um gesclilechtliche Vereinigung
handelt, wie auch durch das Zeichen der Vereinigung (Fig. 77 — 79)
angezeigt, - und dass gerade unser Gott hier in sehr eindeutiger Position,
mit geradezu geilen Allüren, gezeichnet ist. Als Attribut ist ihm im Co«I.
Der Charakter der aitekischen und der Maja -Handschriften. 93
Dresden 12c der Kopf des Gottes des Gedeihens (des Gottes mit dem
kan-Zeichen, Ilobnil?) C^^ig. 31) beigegeben.
Ein zweites interessantes Vorkommen ist die Hieroglyplie Figg. 883, 834,
«lie gelegentlich auch (Cod. Tro 19b) mit der Variante Fig. 835 auftritt,
und die eines der Hauptattribute des Sonnen- und Kriegsgottes Kinchahau,
aber audi des Chac und seiner Diener, der Blitztliiere bildet (vergl. Codex
Dresden 37a, 36a, 39a, 45b). — Was die Kiemente dieser Hieroglyphe angeht,
so haben wir in ihr das Zeichen cauac, das Symbol des wolkenbedeckten
Himmels oder vielleicht des (lewitters, ferner das Element, welches ich
an einer anderen Stelle als das machete gedeutet, welches vielfach an
Stelle der Axt oder zum Ausdrucke des Schiagens, Treffens verwendet
wird; endlich die herMisschiessenden Strahlen, die auch an der Hieroglyphe
dos Blitzes (Fig. 548) zu sehen sind. Dieselbe Fig. 548 sehen wir übrigens,
begleitet von unserer Hieroglyphe Fig. 833, im Cod. Dresden 19c, wo
durch sie ohne Zweifel der Blitz, das Feu(»r oder ein den Blitz oder das
Feuer führender Gott bezeichnet ist.
Merkwürdig ist, dass gelegentlich das Element cauac dem Element
kin homolog auftritt. Das geschieht in der Hieroglyphe Figg. 836, 837,
w(dche im Cod. Tro 13*b vorkommt und wohl den oben beim Zeichen ik
erwähnten Hieroglyphen, Figg. 235 — 239, verwandt ist. — Diese Beziehung
erklärt uns vielleiclit auch das Vorkommen des Elements cauac in den
«Irei Monatsnamen yax, zac und ceh (Fig. 7 — 9).
Endlich ist noch das Vorkommen des Elements cauac in der Hiero-
glyphe Figg. 838, 839 zu en^ ahnen, wodurch im Co<l. Dresden 16 — 17a,
16 — 17 b, 17 — 20c, 25— 28 a das Tragen in einer Rückentrage bezeichnet wird,
welches wir an <len entsprechenden Stellen des Cod. Tro (20* — 19*d) durch
die Fig. 621 ausgedrückt finden. Ich habe» schon in einer früheren Abhandlung
hervorgehoben, dass dieser Unterschied augenscheinlich darin seinen Grund
hat, dass im Cod. Tro das Tragen in einer Matte geschieht, — und die
Fig. 621 enthält das Element der Matte — , während in der Dresdener
Handschrift eine Rückentrage von <ler Gestalt der Figg. 840 — 842 zu sehen
ist, die, wie es scheint, aus gebogenem Leder oder Holz besteht. Ich
habe damals die Ansicht ausgesprochen, dass das accessorische Element,
w(dches in der Fig. 838 zu sehen ist, viell(»icht Ausdruck der Krümmung
sei. Dass es einen in der Hand gehaltenen gekrümmten (legenstand
(machete, Keule) zum Ausdruck bringt und mit dem Element, das in den
Figg. 833 — 835 zu sehen ist, im ^Vesentlichen identisch ist, scheint mir
zweifellos. An dies(»r Steih» scheint es mir aber nur den Begriff des
Tragens, der in dem unteren Theil der Hieroglyphe liegt, dem Element
Fig. 445, gewiss ermaassen verstärken zu sollen. Denn wir finden es in
derselben (accessorischen, fakultativen) Weise auch bei anderen, dem
letzteren homologen Elementen verw(»ndet.
20. aghoal, huuahpu, ahaa. Das Wort ahau heisst „König"', „Herr^
94 ^- Seler:
und wird in dieser Bedeutung nicht nur in dem eigentlichen Maya von
Yucatan, sondern auch in den verwandten Sprachen Guatemala's gebraucht.
Das Wort ist in verschiedener Weise interpretirt worden. Dass es mit
dem Masculinpräfix (bezw. dem Präfix des Besitzers) ah zusammenhängt,
unterliegt wohl keinem Zweifel. BrassEÜR erklärt „Herr des Halsbands"
(au). STOLL (Sprache der IxiUndianer S. 155) „Herr des cultivirten
Landes'' (vgl. Ixil avuan, „säen"). Auf richtigerer Fährte scheint mir der
letztere zu sein, wenn er das Ixil-Wort vual = Pokonche haual, re-haual,
„viel", „sehr" heranzieht (ibid. S. 53). Denn das oben dem Maya ahau
parallel stehende Tzental aghual, welches ohne Zweifel der abstracten
Form ah anal des Wortes ahau entspricht, deutet mehr auf eine Grund-
for;n avu, a'ku, ahn, als auf ahau hin. In dem Tzental- Vaterunser, das
PlMENTEL (H. 235) anführt, finden wir die Phrase „zu uns komme dein
Reich (deine Herrschaft)" durch aca talüc te aguajuale übersetzt.
Die Grundbedeutung von ahau ist jedenfalls „Maim", „Herr", und es
scheinen in dem W^ort die beiden Wurzeln gleicher Bedeutung ah und vu
(vgl. uinic, vinak „Mann") zu concurriren.
Hunahpu ist der Name des bekannten Heros der Qu'iche-Mythen,
der mit seinem Genossen Xbalanque Ball auf der Erde spielt, von dem
Fürsten der Unterwelt zum Wettkampf herausgefordert, in die Unterwelt
hinabsteigt, dort verschiedene Proben siegreich besteht, zum Schluss aber
doch den Mächten der Unterwelt unterliegt, — allein nicht für immer.
Die unterweltlichen Mächte betrügend, erwacht er zu neuem Leben wieder
und steigt als Sonne zum Himmel empor. Ein durchsichtiger Mythus, der
das tägliche Verschwinden der Sonne und Wiederaufgehen symbolisirt.
Der Name Hunahpu ist aus dem Zahlwort hun „eins" und dem
Worte ahpu zusammengesetzt, das gewöhnlich als „Herr des Blasrohrs"
(pu) oder „Blasrohrschiesser" übersetzt wird. Der Name ist genau so
gebildet, wie andere Personennamen der Qu iche-Cakchiquel, die in der
überwiegenden M(»hrheit der Fälle dem Kalender entnonunen sind, ohne
Zweifel den Tag bezeichnend, an welchem die Cieburt erfolgte. Nun existirt
aber ahpu unter den Namen der Tageszeichen nicht, (»s müsste denn sein,
dass man ah-pu = ahau setzt, vielleicht unter Annahme einer Zwischen-
form ah-vu, die wir ja oben unter Berücksichtigung der Tzental-Form
des Zeichens ebenfalls construirt haben. — Wie dem auch sei, wenn auch
nicht <lem Wortlaut, so der That naclu entspricht hun -ahpu dem mexi-
kanischen ce xochiti, das im Wiener Cod. 23 unzweifelhaft als Symbol
des Sonnengottes, oder richtiger wolil als Name des Sonnengottes an-
getroffen wird. Die Sonne ist der König unter den Göttern, und so stimmen
ahau und hunali pu und das mexikanische xochiti vortrefflich zusammen.
Das Zeichen ist im LanDA durch die Fig. 843 gegeben. Damit
stinmien die Formen des Cod. Tro (Fig. 844) und Cortez nahezu voll-
ständig überein. Nur konmit gelegentlich eine inverse Form vor (Fig. 845).
Der Charakter der aztekischen und der Maja- Handschriften.
95
Auch in der Dresdener Handschrift kommen ^anz ähnliche Formen vor
(Figg. 846, 847). (lewöhnlich aber sind in dieser Handschrift die Formen
zeichnerisch eti^as variirt (Figg. 848 — 852), und auf Blatt 24 treffen wir
eine ganze Serie von .merkwürdigen variirtcn Zeichnun(;en (Figg. 854 — 859),
welchen sich in gewisser Weise auch die Formen Figg. 860 (55 b) und 861
(Cod. Dresden 47, 50) anschliessen. Im Cod. Perez finden wir neben den
gewöhnlichen Formen die Fig. 853. Das Zeichen hat eine weite Ver-
breitung, da der Name ah au auch der Name der Maya-Cyclen, der
Perioden von 20 (24) Jahren ist. Es ist daher nicht wunderbar, dass wir
dieses Zeichen auch auf den Reliefs vielfach vorfinden, und ich bemerke,
dass dasselbe besonder» häufig als Anfnngshieroglyphe erscheint. Inter-
essant ist vor Allem die Cedernholzj)latte von Tikal (Fig. 8f)G). Be-
merkenswerth auch wegen der vollständigem Uebereinstimmung d(»r
Schreibung mit der gewöhnlichen Form der Dresdener Handschrift, die
Anfangshieroglyphe der Altari)latt(» von Lorillard City (Nr. 24 der Charnay'-
Hchen Sammlung) (Fig. 687). Auf <len Reliefs von Palenque kommt das
Zeichen ebenfalls vielfach vor, gewöhnlich in zi<»mlich gleichmässiger (lestalt.
Vgl. die Fig. 868, die der linken Seite der Altarplatte des Kreuztempels
Nr. 1 entnommen ist. — Die Formen iler Hücher des CHILAN IUI.AM
(Figg. 862—865) sind nur Variationen der Form der Handschriften.
Die ganze Reihe der Figuren scheint «»s ziemlich zweifellos zu machen,
dass ein Gesicht en face dargestellt wer<len sollte, b(»zw. dessen promi-
nenteste Theile. Augen, Nase, Mund, - oder auch ein en face gezeichnetes
Vogolgesicht, mit Augen und Schnabel. Lnd ich glaubt», wir werden an
96 ^* Seler:
das Sonn enge sieht oder den Sonnen vogel denken müssen, wie solches
z. B. auf der Cedernholzplatte von Tikal, über der Gottheit sehwebend, zu
sehen ist. Den centralen Theil desselben, der das Vogelgesicht en face
und die Vogelkrallen zeigt, habe ich in der Fig. 870 wiedergegeben.
An die Sonne und den Vogel erinnert auch die merkwürdige Fig. 869,
die in der Dresdener Handschrift 9 b an einer Stelle zu sehen ist, wo
eigentlich das Zahlzeichen drei erwartet werden miisste. Wir sehen das
Zeichen ah au von Strahlen oder Tropfen umgeben, ganz an die Art er-
innernd, wie in mexikanischen Handschriften (z. B. im Cod. Viennensis)
das Bild der Sonne von blutrothen Tropfen umgeben ist; und darüber
sehen wir eine Feder.
Von den sonstigen Beziehungen, die das Zeichen ah au erkennen lässt,
erwähne ich, dass dasselbe entschieden Aehnlichkeit mit einem Elemente
hat, dessen handschriftliche Formen ich in den Figg. 871, 872 (im Cod.
Dresden) und 873 (Codd. Perez, Tro) wiedergegeben habe, und das
auch unter den Hieroglyphen der Reliefs überaus häufig angetroffen wird.
Das Element weist in den Handschriften zwei bemerkenswerthe Vor-
kommnisse auf. Pjinmal nehmlich sehen wir es in dem Stirnschmuck des
oben erwähnten kahlköpfigen Gottes (Fig. 831), und hier ist dasselbe in
<lem einfacher gezeichneten Kopf, Fig. 830, ferner in den Hieroglyphen
Figg. 824 — 829 durch die einfache Figur des Auges vertreten. Und dann
sehen wir das Element vielfach als Sitz oder Fussgestell für Götter fungiren,
in derselben Weise, wie das Zeichen caban (im Cod. Tro 82 d sogar mit
dem letzteren abwechselnd), wie das Zeichen cauac und andere Symbole
des Himmels. Es wäre nicht unmöglich, dass dem Element als (frund-
begriflf die Bedeutung „Edelstein** oder „Smaragd** zukäme. Aus demselben
könnte sowohl die Beziehung zum Auge, wie zur Sonne und zum Himmel
sich ableiten. "Wir haben oben (Figg. 824 und 828, 827 und 829) gesehen,
dass in Hieroglyphen das Element synonym dem Zeichen cauac auftritt,
und da ist jedenfalls zu notiren, dass wir in den beiden Hieroglyphen
Fig. 874 (Cod. Tro 35d) auch das Element ahau dem Element cauac
synonym verwendet finden. Vgl. auch oben Figg. 836, 837.
Von den Hieroglyphen, in denen das Zeichen ahau vorkommt, ist die
bemerkenswertheste die Fig. 876, wo mit dem Elemente ahau (die Sonne)
die Elemente der Schärfe, der Schneide vereinigt sind. Die Hieroglyphe
ist das gewöhnlichste Attribut des Licht- und Himmelsgottes Itzamnä,
kommt aber auch bei einer ganzen Reihe anderer, doch ausschliesslich
bei Licht, Leben, Gedeihen verbürgenden Gottheiten vor, bei den feind-
Ii(jhen Gewalten, den Todesgottheiten, vollkommen fehlend.
Die in dem Vorstehenden vorgenommene sorgfältige Prüfung des Vor-
kommens und der Bedeutung der Maya-Tageszeichen und die daran sich
schliessenden Ausführungen werden — das verhehle ich mir nicht — Irr-
thümer genug enthalten. Es ist ein erstes Eindringen in einen Urwald
Der Charakter der aztekischen und der Maja- Handschriften. 97
wo auch der, wolclior da» Auge fest auf die liussole gericlitet hält schwer-
lich jederzeit die richti(;e Kichtun<^ einzuhalten im Stande sein wird.
Möge ich nachsiditige Leser findcMi. Ein ilauptresultat wird mir, davon
bin ich fiberzeugt, nicht streitig g(»macht wenden können, dass -so ver-
schieden auch die Ausgestaltung im Kinzelnen war - - ein Grundzug die
Wissenschaft der Mexikaner und der Maya-Völker beherrsdite, dass es ein
Patrimonium commune war, an dem die einen, wie die anderen zehrten.
IL
Eintheilung und Verbreitung der Berberbevölkerung
in Marokko*).
Von
M. Quedenfeldt.
(Hierzu eine Karte: Tafel I.)
Es ist bekannt, dass die Bevölkerung des Sultanats Marokko sich
gegenwärtig aus zwei Hauptbestandtheilen zusammensetzt, den Berbern
und den Arabern. Die Angehörigen der berberischen oder libyschen Kasse,
welche ehedem das ungeheuere Gebiet vom rothen Meere bis zu den
,,insulis fortunatis^ der Alten, den heutigen Kanaren, allein inne hatten,
worden gewöhnlich als die „Ureinwohner" dieser Länder bezeichnet. Doch
lassen die in verschiedenen Theilen Nordafrika's und auch in Marokko
mehr oder minder zahlreich aufgefundenen megalithischen und mono-
lithischen Denkmäler (Dolmen, Menhir, Galgal, Cromlech u. s. w.) den
Schluss zu, dass vielleicht eine noch ältere, autochthone Bevölkerung vor-
handen war.
Die Invasionen der Phönicier, Karthager, Griechen, Römer und Van-
dalen waren keine bleibenden, obschon sie bis zum heutigen Tage dauernde
Spuren hinterlassen haben. Erst die wiederholten Einbrüche der Araber,
die um die Mitte des 7. Jahrhunderts begannen, hatten insoweit nachhaltige
Resultate, als sie die gesammte Berberbevölkerung des nordafrikanischen
Festlandes zur Annahme des mohammedanischen Glaubens veranlassten
und zu einem Nebeneinanderleben beider Rassen, in gewissen Fällen auch
zu einer Vermischung derselben führten. ¥Ano eigentliche Unterjochung
oder eine Absorbirung der Berber durch das arabische Element hat wenig-
stens in Marokko bis zum heutigen Tage nicht stattgt^funden.
Es gehört nicht in den Rahmen <ler vorliegenden Arbeit, Reflexionen
1) Die Schreibweise der arabischen und berborischen Bezeichnungen ist ihrer
Aussprache angepasst. Von den in unserem Alphabet nicht vorhandenen Buchstaben
ist der arabische scharfe h-Lant r durch h, der weiche s-Laut J durch s, das scharfe
s LT diurch ss, der Buchstabe 'ain ^ durch ', das dem französischen r grassey^ ent-
sprechende gain ^ durch g und das emphatische kaf /^ durch k bezeichnet.
^
T<if.l.
X
; • • •
Eintlieilung und Verlircitunf? der Herberbevölkerung in Marokko. 9g
tlarül»«»r aiizustolKm, woldier «lor •^[rosson Volkorfaniilien die berberisclie
Russe heiziizählon soi. Die anthro|)olo*^isohen und linguistischen Unter-
sucliun^«»n, welche nach dieser Richtun<j^ von Berufenen bisher vorgenommen
\verd<»n konnten, haben zu keinem Resultate geführt. Meist konnten nur
dir algerisch(»n l^erl)er in der sogenannten grossen und khdnen Kabylie,
im DJiirdjüra-^) un<l Aures- Gebirge, seit der Erol)erung dieses Landes
^ri'uauer beobachtet und untersucht werden. Xaturgemfiss waren es, neben
einigen AushlnderiK in erster Linie französi solle Archäologen, Kthnologen
und Linguisten, welche sich mit di(»s<»n Fragen tlieoretisch oder practisch
beschäftigt liaben. In den Schriften von BARTH, CaRETTE, DaüMAS,
DuvKYRiEK, Judas, Faidherbe, Stanhope-Freeman, Hanoteau und
Letourneux, E. Renan, de Rochemonteix, de Slane, M. Tissot,
ToiMNARD-) u. A. wird der, welcher sich Aber die Abstammung der Berber,
die Sprache»]! und di(» (jeschichte derselben u. s. w. eingehender unterrichten
will, zahlreiches Matt»rial finden. Viele dieser Publicationen sind in fran-
zösis(*hen anthro])ologischen und anderen wissenschaftlichen Zeitschriften
veröttVntlicht; auf einzelne derselbtMi komme ich noch zurück. Ueber die
Ziigi'hörigkeit der Berber zur indo- europaischen oder semitischen Völker-
gruppt» ist, wie gesagt, bis jetzt noch nichts entschieden. In der Revue
do rOricnt 1857 versucht Dr. JUDAS nachzuweisen, dass <lie Berbersprachen
einer Ciruppe beizuzahlen 8ei(»n. welche E. RENAN ,,langues chamitiques"
zu nennen vorschlügt und welche das Koptische und die nicht semitischen
SpracluMi Xubiens und Abessyniens umfassen soll. Bereits IBN CHALDUN
und andere mohammedanische ilistoriographen sprechen sich gegen eine
Zugehörigkeit der Berbersjirachen zu den semitischen aus.
Wenn man von „Berbern*' im Allgemeinen spricht so ist dies nur
so zu verstellen, wie etwa die Bezeichnung ^Germanen** oder ^Romanen"
im weitesttMi Simie. Ks existiren beispielsweise zwischen einem Berber
<ler Ojise Siwah imd einem marokkanischen Rif- Berber ebens(dche, wenn
nicht noeh grössere Unterschiede in Habitus. Sprache. Sitten und Gebräuchen,
wie zwisdien einem Deutsehen und einem Norweger, oder zwisclu»n einem
l*ortugies«Mi und einem Rumänen.
Souar unter den im Sultanat Marokko, also verhültnissmassig sich nahe
wolineudeu Bf*rbern, bestehen, wie ich in d(»r Folge nachzuw<»isen versuchen
vMTd«', so grosse Verschiedenheiten, dass eine Theilung der8ellH»n in drei
irut zu unters<'lM»iden«le Haui>tgru|)pen geboten erscheint.
Hieraus erliellt. wi(» wenig berechtigt (»s ist, wenn manche Autoren
<len Herliein im Allgemeinen gewisse Charaktereigenschaften vindiciren,
z. li. dass sie culturfähiger. als die Araber, weniger fanatisch, als diese seien
1; Von d«-n Kintrolmn-nt'n Djordjoru. mit dem Ton auf der ersten und mit kurz«'m e
in liiiii«'!i SüImmi. ;:t'si»n)«'li»'ii.
2} IKt «rrösstf I'heil d«'r WiTkf dieser Auton»n belindet sich in der Berliner König^
Hililiothtk.
-••«
100 M. Quedenfeldt:
•
und dergleichen mehr. Das ma<i; nach den Erfahrunfi:en der Franzosen bei
den algerischen Kabylen zutreffen; ich zweifele aber doch sehr, ob diese
Phrasen auch auf die Tuareg, auf die ^Breber" (^Beräbir*^) im Centrum von
Marokko und auf andere Berbervölker anzuwenden seien. Welche der-
selben kennen wir so «c^^nau, um ein Recht zu derartigen Urtlieilen, die
auf das eingehendste Studium eines Volkes nach jed(»r Richtung basirt
sein müssen, zu haben?
Es erscheint nothwendig, diesen Punkt besonders hervorzuheben, weil
der Irrthum, alle diese so unendlicli verschiedenen Bestandtheile (h*r
berberischen Rasse in einen Topf zu werfen und den Arabern als Col-
lectivum gegenulier zu stellen, ein selir allgemeiner ist.
Bevor ich zu einer specielleren Betrachtung der heutigen Berber-
bevölkerung des Sultanats Marokko übergehe, sei eine kurze Mittheilung
über die Bewohner der römischen Provinz Mauritania tingitana voraus-
geschickt. ^) Es ergiebt sich aus derselben die EtjTnologie mancher noch
gegenwärtig, wenn auch in veränderter Form, vorkommenden Namen. Ich
folge hierbei M. TiSSOT ^), dem gelehrten französischen Archäologen, welcher
während seiner mehrjährigen amtlichen Stellung als diplomatischer Ver-
treter Frankreichs in Marokko Gelegenheit zu höchst werthvoUen wissen-
schaftlichen Untersuchungen in diesem Lande hatte.
Die ältesten griechischen Schriften geben allen Völkern Mauritaniens
von weisser Rasse — im Cregensatze zu den Aethiopiern — <len Namen
Libyer, yliftvBQ, Dies(T Name ist später durch: Maurusier oder Mauren,
welche Bezeichnungen wir bei STRABON') und PliniUS*) finden, ersetzt
worden. Durch den ersteren dieser beiden Autoren wissen wir, dass der
Name „Mauri** von den Eingeborenen selbst angewendet wurde; man hat
in ihm wahrscheinlich das semitische Wort „Ma'urim" wiederzufinden,
dessen genaue Uebersetzung das arabische Wort „el-garbaua'', Leute des
Westens" ist, — die Selbstbezeichimng der heutigen Marokkaner. PlINFIS
fügt hinzu, dass die Stämme «ler Mauren, durch Kriege decimirt, nur einige
Familien zählten und dass <lie herrschende Nation die» «ler (Jaetuler
V. Von einer vollständigen Schilderung d«'r historischen Entwickelung des Staates
Marokko inuss hier natürlich Abstand genommen werden. Mau vergleiche darüber Host,
Gkabkro von Hemsoe, A L. Schlözeii und \iele andere ältere und neuere Schriften
über Marokko und Meschichtswerke.
2) Memoires presentes par divors savants a rAcadtMiiin des inscriptions et helles-
lettres, premiere serie, IX., Paris 1S78: Kecliorches sur la Geographie comparee de la
Mauretanie tingitan«*, S. 309. — Tissar liatte vor den Professoren Mannhrt. Movkrs,
C. Möller u. A., welche sich mit dem gleiclu^n Gegenstände beschäftigt haben, die Kfunt-
uiss des magribinischen Arabisch und durch seinen langen Aufenthalt im Lande die Gelegen-
heit voraus, pr actische Studien an Ort und Stelle anstellen zu können.
B) XVir, iri: Otxovai J* fyjavxfa Mavgovaioi /uty vno imv *Ekkiiyu>y liyofiivot^
JVtavQOt (T vno tütr ^Pioßiaitoy xa) i&y fnij^tagft^v, Xißvxor «•9roc fifyo xa) e^Jai^Of.
: 4) V, II: Gentes in ea, quondam jtniecipua Maurorum, unde nomen, qnos plerique
.Ijtaumsios dixerunt.
KiiitlieiluTig und Verbreitimi? clor Hcrborl)ovolk<»ninjr in Marokko. 101
war, Nvt'lchc sich wicch^rum in lianiurac iiikI Aiitololos thoilto; eine Fraction
«liosor lotztt'ivii, «lie Vi'suni, war nach «loni Süden zu den Aethiopieru
ji;eflflelitet und bildete dort ein besonderes Volk*).
PTOLEMAKUS giebt nns eine Vidlständij^e Aufzahlunji; «1er versehiedenen
niauritaniselien Stämme und ihrer Wtdmsitze. Das Küstengebiet an der
Meerenge von Gibraltar, die heutigen Districte „Andjera" und ^llaus",
war von den Metayiovlzai bt»wohnt; dasjenige am iberischen Meer, der
Rif, durch die ^loxnamni: weiter sudlich hatten die Ovegovelg ihren Platz.
Noch heute giebt es in d(»n Südabhangen des Rif einen Distrikt Uarga.
In der Richtung von Nord nach Süd von der Region der Metagoniten
reihen sich die Mdaixeg, die OviQßixai oder Ovigßeixeg^ die Salipoaij
die Kavpot^ die Cauni des Fl. Crt^sconius Coripjms, dann die Baxovaiai
und die Maaavnai an, welche wir in dem Itinerar ANTüNIN's als Baccavates
und Macenites Rarbari wiederfinden.-)
Wiederum sü<llich der Dlaxavltai finden sich eine andere Fraction der
Ov€QOV€ig und die OvoXovßiliavni^ welche das Serhon-iiebirgo bewohnen.
Dann kommen die ^layyavxavoi oder uiyxavxavoi und die Nixußtjgeg^ ge-
trennt durch das flv^^ov /aediov der ZeyQf'vaioi und der Baviovßai, Ba-
niurae bei PliNIU.s; und endlich die Ovaxovaxm^ welche augenscheinlich
nur eine Fraction der weiter oben angeführten BaxovStai sind.
Der östliche Theil <ler Tingitana ist gänzlich durch die MavQijvoioi
und eine Fraction der 'Egneöiravoi bewohnt, deren Hauptstadt Ilerpis sich
in der Phocra befand.
AETllIcrs giebt den Autololes bei PLlNirs den Namen ^Auloles''
und theilt uns mit, dass man sie zu seiner Zeit „Galaudae" nannte.-*)
ISIDoRrs von Sevilla erwähnt in seiner Wiedergabe der geographischen
Angaben des AeTHKTS di<'se Identität der Autololes und der Galaudae,
welche er Gaulales nennt, nicht.*)
So ermü«l(»nd eine so lange Aufzählung von Namen auch auf den
(»rsten Anblick erscheint, so bietet sw nichtsdestoweniger vom ethnologischen
Gesichtspunkte aus ein grosses Interesse. Eine Anzahl von Namen dieser
mam'itanischen Stämme findet sich in den Listen der Herbertriben wieder,
flie nns die arabischen (leograj)hen und Historiker des Mittelalters über-
liefert haben, oder existirt noch heute. Die Bacuatae. Macenites, Autololes
sind sicher die H^rguäta. Miknassa, Ait Hilala des heutigen Marokko und
V V. M: Attniuata Im-IHs ad jjaucas reciriit faniilias . . . (iac'tiilao niinr tenent j^entes,
Haniiiru«*. inultoqnp vali<lissniii Autololes: ^t 1u»ruin pars qiiondani Vesuni, (|in avulsi his
|>ro))naiii fo«.M'n' ^'^♦'nt«'m. Vfr>i a<l Acthiopas.
*i A Tin*ri Maiiretania. i<l est ul»i Hacravatcs <*t Ma(«'nites Barbari niorantur.
ly Tin^n Maiin'tania ultima ost totius . . al» occid^'nt«* habet Atlaiitem montoni:
a nimdie ;r<'nt('s Autoluin quas nunc (lalaudas vocant. usque ad Organum Hosporium con-
tinp'ntps.
1 On^^ XIV, V: Mauritania Tinj^ntana . . a meridie Gaulalum g«*ntes usque ad
Oe4*aninii Hosporium p**r**rrantcs.
1 02 M. QüBDENPBLDT :
ebenso ist der Name Mazices mit „Masig" zu ideutificiren. Dieses Wort
(Sing. Amasig, Phir. Imasigen) nebst seinen verschiedenen Varianten*) ist
die Bezeichnung, welche sich die nordwestafrikanischen Berber als Volks-
namen selbst beilegen. ORABERG VON IlEMSt )£*-') behauptet, dass „dieser
Name in ihrer Sprache edel, iiusgezeichnet, berühmt, frei, unabhängig
bedeute und der Meinung des germanischen oder deutschen „frank" und
des moskowitischen „slav" gleichkomme". Nach SABATIER (Soc. d'Anthrop.
1881) sollte der Name „Ackerbauer" (?) bedeuten '). Durch die regelmässige
berberische Femininalbildung, ein dem Worte am Anfang und am Ende bei-
gefügtes t in „tamasigt" verwandelt, bezeichnet dies Wort sowohl die
Sprache der Imasigen, wie auch eine Frau aus dieser Rasse.
Die Bezeichnung „Berber", von den magribinischen Arabern in der
Pluralform „Breber" (Beräbir), Sing. „Berberi", gebraucht, weist ver-
schiedene Etymologien auf. Die bekaimteste Ableitung des Wortes ist
die vom lateinisdien barbari (ßaQßaQOi)^ mit welchem Ausdrucke die
Römer die wilden und grausamen, aller Cultur entbehrenden Bewohner
Nordafrika's bezeichneten. Docli überliefern uns die arabischen Geschichts-
schreiber des Mittelalters, IbnChalDUN und andere, keine Mittheilungen,
aus denen hervorgeht, dass ihnen diese Ableitung bekannt gewesen sei.
Die arabischen Herleitungen dieser Bezeichnung scheinen sich auf Wort-
spielereien zuzuspitzen. iBN ChaLDÜN*), übersetzt von SLANE, giebt die
folgende: Leur langage est un idiome etranger, different de tout autre:
circonstance qui leur a valu le nom de Berberes. Voici comment on ra-
conte la chose: Ifricos, fils de Cais-Ibn-Saifi, Tun des rois du Yemen
appeles Tobba, envahit le Maghreb et llfrikia et y batit des bourgs et
des villes apres en avoir tue le roi, El-Djerdjis. Ce fut meme d'apres
lui, k ce que Ton pretend que ce pays fut nomme Tlfrikia. Lorsqu'il eiit
vu ce peuple de race etrangere et qu'il eut entendre parier uu langage,
dont les varietes et les dialectes frapperent son attention, il c('Mla a Tetonne-
ment et sVcria: „Quelle berbera est la votre!" On les nomma „Berberes"
pour cette raison; le mot „berbera" signifie en arabe „un melange de cris
inintelligibles" ; de la on dit, en parlant du lion, qu'il „herbere", quand il
pousse des rugistJements confus.
Leo AFRICANUS'') sagt auf S. 8: die Weissen, die jetzt da wohnen,
1) Verj;l. hiorüber: Hanoteai', Vorwort zur (iraiiiiiiairo kabyle, sowie die int-eressant^n
Ausfuhrungen von Gl. Wetzstein im Jahrp. 1887 «lor Verhanrll. der Berliner Anthrop. Ges.,
S. 37 und 38.
2) Das Sultanat Moghrib-ul-Aksa u. s. w. Aus der italiänisrhen Handschrift über-
setzt von A. Keumont, Stuttgart und Tübingen 1833, S. 47.
3) E. Re(;lü8, Nouvelle Geographie universelle, Paris 1886, Bd. XI. S. 442.
4) Histoire des Berberes et des dynasties musulmanes de PAfrique septentrionale par
Ibn Khaldun, traduite de Tarabe par M. le Baron de Slane, Interpret^» principal de
rannte d Afrique. Alger 1852, Tome T. S. 168.
.*)) Johann Leo's. des Afrikaners. Beschreibung von Afrik«. Ans dem IfaliRni««chen
übersetzt u. s. w. von G. W. I^)ksbach, Bd. I, Hcrboru 1805.
Eifitheilung und Verbreitung der Berberbovolkerunjf in Marokko. 103
wenlen Klbarbar ^onannt und dieser Naine ist nach einigen von Barbara^
welches im Arabischen murmeln bedeutet, abzuleiten, weil nehnilich die
Sprache der Afrikaner den Arabern wie <lie unarticulirten Stimmen der
Thiere Torkommt. Nach andern ist Barbar aus der Verdoppelung des
anibischen ^Vorte8 Bar, die Wüste», entstanden. Als der König Afriko«
(so erzflhlen sie) von den Assyrem oder auch von den Aethiopiern ge-
schlagen war und sich nach Aegypten flüchten wollte, verfolgten ihn die
Feinde überall; unvermögend, sich zu vertheidigen, fragte er seine Leute,
was sie ihm zu ihrer Kettung für einen Ilath gäben. Sie antworteten
weiter nichts und riefen ihm nur „El barbar", d. i. in die Wüste! in die
Wüste! zu, um anzudeuten, dass ihnen kein anderes Rettungsmittel, als
die Flucht über <len Nil in die Wüsten von Afrika bekannt wäre.
(tRABERG VON HemSOE endlich giebt nach arabischen Autoren noch
eine dritte Ableitung des Wortes, indem er a. a. 0. S. 48 sagt: Es scheint
nichtsdestoweniger, dass der Name Berber, der im Arabischen Erde oder
Land des Berr bedeuten würde, von irgend einem Manne dieses Namens
stamme, nach den arabischen (lenealogisten von dem Sohne des Kis und
Enkel des A*ilam, einem der Ilirtenkönige Aegjrptens, welcher, gezwungen
sich nach Nordafrika zu flüchten, dem Lande sodann seinen Namen gegeben.
So fragwürdig, wie gesagt, <ler Werth dieser Etymologien ist, so scheint
ihr Vorhandensein doch zu beweisen, dass schon vor der Ankunft der
Griechen oder Römer die Bezeichnung „Berber" (in dieser oder
jener Variante) in Nordafrika vorhanden war. Das wird überdies
durch die Thatsache wahrscheinlich gemacht, dass noch heut im süd-
lichen Marokko eine grosse und mächtige Berbervereinigung
sich selbst den Namen „Beräbir" oder „Breber" beilegt. Würde
dies der Fall sein, wenn <lie Bezeichnung zucTst von Fremden als Schimpf-
oder Spottname angewenilet worden wäre?
Die marokkanischen BtTber unterscheiden sich gegenwärtig in drei
grosse Gruppen, deren Wohngebiete auf der beigegebenen Karte
(Tafel I) durch verschiedene Farben bezeichnet sind. Die Eintheilung
entspricht genau derjenigen, welche die Berber und Araber
im Lande selbst machen und dieselbe ist basirt auf durchgreifende
Verschiedenheiten in Sprache, Typus, Sitten und Gebräuchen. Man unter-
scheidet 1. die nördliche Gruppe, d.h. <lie Berber des Küstengebietes am
Mittelmeer, deren Gebiet mit grüner Farbe kenntlich gemacht ist: 2. die
mittlere (iruppe, die das Centrum d(»s Landes bewohnenden Berber, welche
das mit rother Farbe umzogene Gebiet innehaben; 3. die südliche Gruppe,
die Berber, welche den westliclH»n Theil des grossen Atlas, das nördlich
von diesem (lebirge lieg<»nde Terrain bis Mogador und Marrakesch und das
zwischen dem Atlas untl dem Uäd Draji gelegene Gebiet bewohnen.
Dieses (rebiet ist mit blauer Farbe bezeichnet; in d(>n südlicheren Theilen
desselben finden sich neben den berberischen Elementen der Bevölkerung
104 M. Quedenfeldt:
zahlreiche iiomadisirende Araberstämme. Ausser diesen drei Hauptgruppen,
innerhalb deren sich einige Stämme durch geringere dialectische Ver-
schiedenheiten abzweigen, kann man allenfalls noch eine vierte grössere
Gruppe gelten lassen, die im Wesentlichen die Bewohner des oberen Draa,
sowie die der Oasen Tafilelt und Tuat umfassen würde. Hier hat eine
so starke Mischung der berberischen (bezw. arabischen) Bevölkerungs-
theile mit nigritischen Elementen stattgefunden, dass diese der dortigen
weissen Gesammtbevölkerung ein ganz besonderes tfepräge verleihen ').
Ein (rleiches findet sporadisch im ganzen Draa-Becken statt, und es unter-
liegt wohl keinem Zweifel, dass wir in dieser Mischrasse die Melano-
(iätuler der Alten zu sehen ha])en. Der Name „Gesula", den noch gegen-
wärtig eine mächtige Bt^bervereinigung im westlichen südatlantischen
Marokko, wie auch speciell eine Kabila führt, erinnert daran.
In Tuat und Tidikilt^) treten hierzu noch targische Einflüsse. Ich
möchte indessen diesen Mischgruppen keine selbständige Stellung anweisen.
In Tafilelt dominiren die Berber der Gruppe 2 durch die mächtige Praction
der Ait Atta („Breber" im engeren Sinne), während die Draaleute sich
mehr denen der Gruppe 3 zuneigen.
So einfach diese — wie ich nochmals betone, lediglich auf die Unter-
scheidung durch die Eingeborenen selbst basirte — Dreitheilung der
marokkanischen Imasigen erscheint, so ist dieselbe meines Wissens noch
von keinem Publicisten über das Land genügend hervorgehoben worden.
Die meisten Reisenden schreiben nur von Berbern im Allgemeinen, be-
zeichnen dieselben auch wohl (mit mehr oder minder der richtigen Aus-
sprache entsprechender Schreibweise) als Schlöh'); nur einige wenige,
wie Grey Jackson, Washington, Graberg von Hemsoe etc. unter-
scheiden zwischen Breber, bezw\ Amazirghen (Imasigen) und Schlöh.
Jackson giebt eine kleine Zusammenstellung von Worten mit gleicher
Bedeutung in diesen beiden Sprachen, um deren Verschiedenheit nach-
1) Diese Mischlinge werden mit dem Namen «Haratin-, Sinj,'. ^Hartäni"*, bezeichnet. (In
den l.andestheilen nördlich vom Atlas ist der Plural »Hartanin- gebräuchlich.) Am oberen und
mittleren Draa fuhren sie den Namen Draua (Sing. Draui). Die Bezeichnung „Bei Draui*
gilt im nordatlantischen Marokko für ein arges Schimpfwort, bezieht sich aber weniger
auf die Mischung mit Negerblut, sondeni hat mehr die Bedeutung: gänzlich ungebildeter,
uncivilisiiter Mensch. Unter «Hartani** versteht man eigentlich im nördlichen Marokko
einen freigelassenen Neger oder Mulatten: ein Neger im Allgemeinen (gleichviel ob Sclave
oder Freigelassener) heisst Gnaui (otler Genaui , Plur. (rnaua. .Bei Gnaui" und ^Bel
Hartani** sind böse, auf die Abstammung bezügliche Schimpfwörter (Bei ist contrahirt aus
,Ben el", «Sohn eines**). Ein beliebtes Schimpfwort für Neger ist auch: kimet el-milh
(gespr. gimt el-milh), wörtlich: Preis oder Aequivalent für Salz, weil die Neger im Ssudan
von den Sclavenhändlem für Salz eingetauscht werden. «Bei 'Atrüss** oder .Bei 'Ansiss",
Sohn des Ziegenbockes, wie man gleichfalls häufig einen Neger geschimpft werden hört,
bezieht sich auf den ihnen anhaftenden Genich.
2) Berberisches Wort, bedeuti»t im Schi 1ha: Handfläche.
3) Vergl. über die Etymologie di<'8cs Wortes; Wbtzstkin, 1. c. S. 34 und 35.
Eintheilung und VerbrcitiiDg der Rerberbcvölkoruug in Marokko. 105
zuwei8on. Dieso Autoren tliuii abor witMlorum «lor Rif-Borber (Gruppe 1)
nicht als einer besonderen Gruppe p]rwähnun<;.
In jüngster Zeit sind von zwei französischen Offizieren, den Herren
J. Brinkmann») »»<• Vicointe CH. DE FOUCAULD*), zwei sehr beachtens-
werthe Publicationen erschienen, von denen j^anz besoinh^rs das Werk
des Herrn DE POUC-AULD j^eoj^raphisch einen hohen W(»rth hat. Ich
komme auf diese Werke noch wiederholt zurück. Hezflji;lich der Ein-
theilung der marokkanisdien BerbcT, welclie in beiden Schriften ilbrigens
nur kurz ^»stnMft wird, W(Mchen die Anscliauungen (h»r französisclien Autoren
nicht unwesentlidi von der meinigen und auch unter einander ab.
KRCKMANN halt auch di<» Bewohner der marokkanischen Eb<»nen für
Berber, welclu» nur im Laufe der JahrhundtTte die Sprache und Sitten
der eing(»wanderten Araber angenommen hätten, gewissermmissen in diesen
aufgegangen seien '). Das verhalt sich doch anders. Die Nomad(*n der
grossen EbiMien im Westen «les Landes, in den Provinzen 'Abda, Dukkala,
esch-Schauija, im westlichen Theil des(;arb, wie auch im Osten an der alge-
rischen Grenze die Ulecl el-Hadj. Ilallaf, Beni Ukil etc. sind noch heute
dieselben reinen Araber, wie zur Zeit der Livasionen. Sie haben sich
nicht mit den Berbern vermischt, wohl aber diese letzteren aus ihren
ursprünglichen Wohnsitzen hinaus und in die Gebirge g(»drangt. Ueber
die Gruppirung der Berber Marokkos sj^richt sich ERCK3IANN nur ganz
kurz, wie folgt, aus:
„On partage generalement les Berberes du llaroc en quatre groujies:
L Ceux du Rif.
2. Ceux du centre entre Fez et Maroc.
3. Ceux du Sous qu'on appelle Chlc»uh (ce nom s'applique quelquefois
aussi aux autres Berberes).
4. Ceux de Tafilet.
11s parlent <livers dialectes de la langue chelha (ces diah»ctes peuvent
etre ranumes a deux)."
De FoiTArLD sagt (S. 10) über dies(»n (legtMistand: „Les <»xpressions
de Qeball, Chellaha, Uaratin, BerAber sont autant de mots emi>loye8 par
les Arabes pour desigiier un<» rac<» uni<iue dont le nom nutionaK le seul
qui se donnent ses m<»mbres, est celui d'Amazir (feminin Tamazift, pluriel
Imaziren). xVu Maroc, les Arabes appelh»nt Q<d>ail h's Inniziren de la
|>artie sej)tentrionale, ceux, <|ni habitent au Xord du |)arallMe de Fas, ils
donnent le nom dt» (Miellaha ii tous les Imaziren blancs n'sidant au sud
de cette ligne (en (lautres ttTUies, (»t plus exactement. les Imaziren du massif
1) Le Maroc inodeme, Paris IS-^ö.
2) Reconnaissanre au Maroc. Paris 1S88.
3) ^ les preiiüiTs (»lie Htwohner der Kbeneni se s(»iU trouves sur la route de
^ontes les iuvaftions. «»t ont pris la laii^uc «-t l»^s Iialntud<'s des Arahes venus
d^Orient a diverses öpoqucs." A.a.O. S. 7.
Z«ttMferift für BUiDologie. Jahr|^ Id^M. 8
106 M. Qüedenfeldt:
Rifaiii sollt appelles Qebail et ceux du massif Atlaiitique Cliellaha; la
ligne de demarcatiou eiitre les deux iioms est la large trouee qui separo
les deux massifs, celle qui coiiduit de Ijalla Mariiia a Fäs et de lä ä TOceaii
par la vallee du Sebou); celui de Ilaratin aux Imaziren iioirs, Leueaethiopes
des anciens; eiifiu celui de Beräber est reserve ä la puissante tribu ta-
mazirt doiit il est propremeiit le noni. M. le colouel Carette iie s'etait
pas trompe eii disant que le mot de Beriiber, applique par les geuealogistes
arabes a toute la race tamazirt, devait etre celui de quelque tribu im-
portaiite de ce peuple, tribu dout oii avait par erreur eteiidu le nom a toutes
les autres. Cette tribu des Beraber existe toujours: c'est encore aujourd'hui
la plus puissante du Maroc; eile occui>e toute la portion du Sahara com-
prise entre VOuad Dra et l'Ouad Ziz, ])Ossede presque eu eiitier le cours
de ces deux fleuves, et deborde eii bieii des points sur le flaue nord du
Grand Atlas; eile est juscju ii ce jour restc'e compacte et eile reuiiit chaque
annee eu assemblee generale les chefs de ses nombreuses fractions: nous
doniierons dailleur« sa deconipositioii. Dans le Sahara, dans le bassin de
la Mlouia, on est ])res de la tribu des Beräber: on la connait; on ifa
garde d^appliquer son nom a dautres quii eile. Mais qu'oii s'eloigiie vers
It» nord, qu'on aille ji Fäs ou a Sfrou, on trouve deja la confusion. On
entend generaliser le nom de la celebre tribu du sud et Tappliquer iii-
di ff er eminent a toutes celles des environs, qui parlent la meme langue,
corame les Ait Joussi, les Beiii Ouarain*), les Belli Mgild, les Zaian etc.,
tribus (pie, inieux informes, les Arabes de Q^^äbi ech Cheurfa ou des Oulad
el Hadj auront sein de irappeler jamais que du nom geiicTal de Chellaha.
Pour nous, suivaiit Texemple des tribus limitrophes des Beräber, nous
doniierons le nom de Qeba'il aux Imaziren que Tusage fait designer ainsi,
aux autres celui de Chellaha ou do Ilaratin, reservant celui de Beraber
• • • '
pour la seule tribu a laquelle il appartient.**
Der Verf. berücksiclitigt hierbei gar nicht die sprachlichen und sonstigen
Unterschiede, die bei einer (iruppirung der Berber Marokkos maassgebend
sein müssen, und welclie auch die Araber zu ihrer Eintheilung derselben
veranlasst haben. Auf die blossen Namen kommt es dabei wenig an. Es
ist, wie ich bereits andeutete, s(^hr walirsclieinlich, dass von der mächtigen
Berberfraction, die sicli scdbst Beräbir oder Breber -) im engeren Sinne nennt,
dii^sor Name auf einr ganze (iruppe ((iru])p(» 2 mcMiicr Kinth(»iliiiig) von den
Arabern übertragen ist. Das ist aber niclit. wie Herr DE FoUCArLD meint,
eine „Verwirrung'', sondern sehr wohl in spracldichen und liabituelleii Ueber-
einstimmungen begründet. Ein Angehöriger d(»r Kabilen, die der H(»rr Ver-
fasser ausscliliesslich als „Brebrr" b<»z«*ichnet wissen will, weil sie
1) Dio Beni Uar^ain sprechen nach meinen Intormationen arabisch.
2) Diese letztere Schreibweise entspricht der niagribinischen Aussprache, in der der
lange a-Laut meist in e (oder ä) verwandelt wird, am genauesten.
(
Eintheilunir und Verbreitung der Berberbevölkerung in Marokko. 107
sich 8i»ll)ftt so iKMHion, (lor Alt Atta, Alt Iladidu oti*. •), kann sich z. B.
mit oin(»Tn Berber <ler Kabila (uTiuiii im Nonlwcsten des (lebiets mit
Leichtigkeit ohne» Dolmetscher vc»rstandigen, während ihm das mit einem
Schilh, beispielsweise aus der Provinz Ilaha oder aus dem Ssiiss nicht
möglich ist.
l'eber die ^llarätin'* habe ich auf S. 104 und in der Noto dasolbst
bereits Einiges gesagt. Was das Wort ^Kebail** betrifft, so ist mir dasselbe
in d(»r vom Verf. angew(»ndet(»n Bedeutung (als Colb»ctivname für die*
Berber meim»r (iruppe 1) vollkommen unbekannt geblieben. So viel mir
bekannt ist, be<leutet das arabische» Wort „Kcd)}!!!** in Marokko nur „Stamme",
„Tribus** (Sing.: „Kabila"), und hat diese Bed(»utung im ganzen Lande,
gleichviel ob bei Berbern oder Arab(»rn. In verschiedenen Theilen des
l^andes kommt noch eine spcK'ifisch niagribinische Pluralform des Wortes
vor: Kabilat.
DcT Marokkaner unterscheidest ilberliauj>t nur folgcMide Idiome», die in
seinem T^ande gesprochen werden: 1. das Arabische», „el-*arbia" (el-arabija),
worunter eT sowohl elas normale» Koran- Arabisch, als auch elas vulgäre magri-
binische Arabisch, wie» es in ele»n Stjlelten unel auf elem plattem Lande
ge8j>roche'n wirel, verste»ht. Selbstverständlich kommen hie»r, wie in allen
Sprache»!!, kleine V<»rschieele!ihe»iten in el(»r Aussprache (ich erinnere nur an
lie Aussprache eles Buchstiibe»!i8 et-te wie» unser z oder tz im nördlichen
Marokko), Provinzialismen e»tc. vor, auf welche» naher einzugehen, hier nicht
eler Ort ist. 2. Der im soge»nannten „Dje»be'»l'" (Djibal) gesprochene, sehr
corrumpirte unel mit be»rbe»rische»n Worte»n elurchsetzte I)iale»kt des magri-
binischen Arabisch, „esl-eljibe'lia*". Unter „Djebe*»!** (Plural von Djebel, Berg,
also eigentlich nur „Ge»birg«*** bedeute»n<l) ve»rsteht man ganz speciell die-
jenige (Tebirgsge»ge»nel, we'lche sich südlich von Tetuan etwa bis Uasan
(gesprochen! mit eloppeltem weiche»n s) und Fäss (Fass) e'rstreckt also
e»twa den e*>stlichen Theil de»» Garb. Die (jrre»nzen de»s „Dje»bel" im Ost<Mi
wflreb»n also zunächst elie Rif-(ie»birge», elann elie Ss(»bü-Nie'<le.»rung bilelen:
elie'selbe ist zugleie*h die Südgre^nze». Im We'ste'U sinel e's elie Ebenen oeler
das nie»de»re' llügellanel des <;arb, welche» elie» Grenze bilele»n, im Norelen
das Me»e»r. ele»nn ele»r Distrikt von Andjera wirel me»istens gleichfalls mit
zum „Dje'be'l"^ ge»rechni»t*-). 3. Die» S])rache» ele'r Rif-Berbe*r ((.irui)pe 1)
«e»r-rifia''. 4. Die* Sprache ele»r Breber (Gruppe 2) „ed-be»rbe»ria*'. 5. Die
Spraedie der Sehledj ((iruppe» 3) „e'sch-schilha**, oele»r auch, in Ableitung
ve)m Worte» Ssuss, „ess-ssilssia*" ge»nannt. 0. Die Sprae'he» eb»r Ne»ge»r, „el-
gnauia"*, von dem Substantiv „Gnaui*, Neger, abgeli»itet ^). 7. Die
1 , Writor unten j;e?l»e ich Näheres über die Eintheiliin^ elieser ^310661**.
'2. Im ei^entliehen Herzen dieses (iel»ietes Jie^t ein hochverehrtes nKthanimedanisches
Sanctnariiuii, die Kubha d<*s lieilip'n Mulai 'Abd-ess iSsalam Ben Mschisch (f 1227; auf
dem I)jcb«d-A'lam ;.,Fahnenberg")
P 3) .(inaui" «»der .(Jcnaui* - Eiu«'r aus üuinea.
108 ^' Quedenfeldt:
Sprache der Juden, hebräisch, „el-ihiidia" (von Ihiidi, Jude*)), und end-
lich 8. die Sprachen der Europäer, welche in Marokko, gleichviel ob es
nun Deutsch, Spanisch, Französisch u. s. w. sei, mit dem Worte „el-
'adjmia" bezeichnet werden. —
Es bedarf kaum einer besonderen Erwähnung, dass die Araber bei
ihrem ei'sten Einbruch das ganze Land, selbstverständlich auch die
Ebenen, von Berbern bewohnt vorfanden. Noch heut erinnern in Gegenden,
wo diese längst verschwunden sind, viele locale Bezeichnungen, wie z. B.
die Namen der Städte Tetuan^), Aseniilr'), der Ruinen von Tit*) unweit
Masagan*) an die früheren Bewohner. Was die gegenwärtig arabisch
redende Bevölkerung der gebirgigen Theile Marokko's betriflTt, so ist
dieselbe ohne Zweifel zum weitaus grössten Theile berberischen Ursprungs.
So z. B. di(» Stämme der Beni Hassan, Beni Seruäl, Beni Ahmed etc. im
„Djebel", die um Tessa (auch Tesa oder Tasa) wohnenden Kabilen Gijäta,
Beni Uargain, die Zul (üsul, Atssul), el-Abranss (el-Branss), Beni-Ulid und
andere. Diese Stämme gehören, mit wenigen Ausnahmen, zu den wildesten
und unbotmässigsten des ganzen Magrib und sie neigen in Habitus, Sitten
und Bräuchen sehr zu den Berbern der Gruppen l oder 2. Das Gleiche
thun die westlich an das Gebiet der „Breber" grenzenden, arabisch
redenden Stämme der Beni Aljssin (Hassin), Säir^) (Isair) etc., von
denen z. B. d\o genannten die Gewohnheit der ilmen benachbarten
Semilr-Schilh und Saian angenommen haben, grosse Locken, ähnlich denen
der marokkanischen Juden, (nuäder), an jeder Seite des Kopfes zu trägen.
Indessen die Sprache aller dieser Kabilen, sowie auch verschiedener im
Osten an das Gebiet unserer Gruppe 2 grenzender Stämme von vermuthlich
berberischer Provenienz ist gegenwärtig arabisch. Bei dem bisherigen
Mangel jeder anthropologischen Untersuchung, bei unserer nach allen
Richtungen hin so geringen Kenntniss dieser Stämme, die jede Gewiss-
heit über ihre Zugehörigkeit zu d(»r einen oder der anderen Rasse aus-
schliesst, können wir uns nur an die sprachlichen Unterschiede halten.
1) Correct: „ol-jehudia" (el-jehüdija) und „Jehüdi".
2) ^Tettauin** (woraus dio europaische, ähnlich lautende Benennung entstanden ist)
bedeutet in der Sprache der Hif- und centralen Berber „Augen** oder .»Quellen'*; der
Name bezieht sich auf den Wasserreichthuni der Stadt. Die Sage von der einäugigen
Grälin bei Leo Africanus u. A. ist etymologisch ohne Werth.
3) In der Sprache der Schlöh = wilder Oelbaum.
4) Sing, von Tettauin, also .,ein Auge". (iREY Jackson leitet auf S. 43 seines Buches:
^An Account of the empire of Marocco- u. s. w., London 1811, diese Bezeichnung von —
Titus ab.
5) Der europäische Name dieser 150G von don Portugiesen erbauten Stadt ist von
..Imasigen"" abzuleiten: die Araber nennen den Ort meist „el-Djedida", die Neue, oder
seltener „el-Bridja", kleines Castell, Diminutiv von ..el-Bordj**.
6) FoucAULD giebt irrthümlich auf 8. 264 seines Buches an, dass die Sälr Tamasigt
sprechen. Ich habe mich in Rabat vielfach durch persönlichen Verkehr mit den Leuten
dieser Kabila überzeugt, dass dies nicht der Fall ist.
Eintheilnng and Verbreitnng der Berberbevölkerung in Marokko. 109
Wonn «Ho Hositzorf^eifiing Marokko'« durch oino ouropÄischo Macht der
wiRsenKchaftlichou For8('hiiii<j; mehr Spielraum gewahren wird, als dies
unter muHelmanisehem Rejcim«» der Fall ist, werden sieh manche dieser
Zweifel endj^flltig lösen lassen.
Obgleich in den meisten Publicatiouen über Marokko das Gegentheil
behau]»tet wird, so dürften doch die von arabisch red(»nden Bewohnern
occupirten I^andestheile den von Herbern bewohnten beinahe an Umfang
gleichkommen. Will man allerdings die sprachlichen Unterschiede nicht
allein berficksichtigen, so kann man CiKRHAKI) RoHLFö beipflichten, wenn
er sagt: ^ und wenn man die Karte zur Hand nimmt, wird man
finden, dass die Araber nur einen sehr geringen Theil dieses Reiches
inn(»haben: Beni-Snassen, (laret, Rif im Norden haben berberische Be-
völkerung, nur der (larb, Beni Ilassin, Andjera und die Atlantische Küste
bis zur Mündung d(»8 Uäd Tensift sind von Arabeni bewohnt alles übrige
Gebiet, welch(»s der Atlas beherrsdit, im Norden und Süden, haben Berber
inne, theils ansässige, theils Nomaden.')"
Die atlantischen Küstenprovinzen sind sehr gross und zeichnen sich
von d(»n gewissernuuissen mit ihn(»n correspondirenden Kb(»nen im Osten
des mittleren (lebirgsstockes durch Fruchtbarkeit des Bodens aus. (Janz
entschieden unrichtig ist es, wenn in der kleinen Bevölkerungskarte von
Marokko auf S. 689 des XL Bandes des RECLUS'schen Prachtworkes die
gesammte Provinz Schauja mit Ausnahme eines ganz schmalen Küsten-
striches, sowie ein Theil von Dukkala, als berberisdi bezcMchnet ist. Hier
leben, wie ich schon erwähnte, reine Arab(»r, und es kann also nicht
einnuil von „arabisirten Berb(»rn**, — einem in jedem Falle sehr vagen
Begriffe, — die RchIc» sein.
Ich gehe nun zu einer kurzen Charakteristik jeder der drei Gruppen
über. So gering auch das gebotene Gesammtmaterial ist, ganz besonders
das linguistische, so dürfte «lasselbe doch einiges Interesse beans])ruchen,
schon aus dem Grunde, weil die nuirokkanischen Berber, so viel mir bekannt,
bisher noch nicht in monographischer Weise behandelt worden sind.
I. Nördliche Gruppe. Rif- Berber.
Die Araber bezeichnen die Rif- Berber mit dem Worte „Ruafa*)*",
Plural von „Rifi*". Das Küstenland, welches dieselben bewohnen, ist mit
äusserst rauhen und unwegsamen Gebirgen, welche mit dem System des
grossen Atlas nur in indirecter Verbindung stehen und welche man mit
dem Collectivnamen „Rif-Ciebirge** bezeichnet, bedeckt. Der eigentliche
Distrikt „er-Rif** ') b(»ginnt etwa bei dem kleinen Und Lau (Scheschauen
gehört noch zum „Djebeb) und (»rstreckt sich östlich bis zum Uiid Kert
1; Reise durch Marokko, Uebersteigung dos grossen Atlas u. «. w., Bremen 1868, 8. 26.
2i Der Aussprache j^enaii entsprechend würde man .RuJ^flEa" schreiben müssen.
3) Der Name kommt vom lateinischen ripa, also Küsten-, Uferland. Die Schreibweise
^Rür* statt ^Rif", welcher man in Bezug auf di<' Bewohner dieser Gegend, namentlich
in der Zusammensetzung ^Riffpiraten". öfter 1iegeg:net, ist falsch.
110 . M. Qüedenfeldt:
(Kerd, Bu-Kerd), auf dessen rechtem Ufer der Distrikt von Gart beginnt.
Nach Anderen bilden auch die kleinen Küstenflüsse Gis und Nekiir (Nakur)
die Grenze. Die Namen „Kord** und „Gart" (Garet')) stehen natürlich
im Zusammenhang. Nicht unmöglich ist ihre Ableitung vom arabischen
Worte „Kard**, Affe, da das ganze Rif- Gebiet, wie auch schon der Djebel
Müssa bei Ceuta, der „Apes-Hill" unserer Karten, zahlreichen Pithecus
InuusL. zum Aufenthalte dienen. TiSSOT -) versucht, etr^^as weit hergeholt, die
Bezeichnung Kert mit dem antiken nQdd^ig des Mnaseas (PliNIÃœS, XXXVII,
XI: „. . . Mnaseas Africae locum Sicyonem appellat, et Crathin, amnem
in Oceanum affluentem o lacu"*) in Verbindung zu bringen, welcher wahr-
scheinlich mit dem heutigen Uad Ssebu zu identificiren ist.
Der Distrikt Gart erstreckt sich bis zum unteren Laufe des Muluja
(Mluia, Miluia). Oestlich von diesem Flusse bis ungefähr in der Nähe
von üdjda, der Grenzstadt Marokkos gegen Algerien, wohnen die Beni
Snassen oder Isnäten ''). Dieser grosse Stamm spricht einen von der
Sprache der Kif- Berber abweichenden Dialekt, welcher nach Mittheilungen,
die mir von den Eingeborenen gemacht wurden, dem der algerischen
Berber in der Provinz Oran sehr nahe stehen soll.
Dieses ganze, hier kurz skizzirte Küstengebiet ist, mit alleiniger Aus-
nahme einiger Stämme in der Niedi^'ung an der Kert-Mündung, welche
arabisch sprechen, nur von „rifisch'* redenden Berbern bewohnt. Mir
wurde die Kabila Z(»luj\n (Sseluan) als arabisch sprechend bezeichnet. Auf den
südlichen Bergen des Rif-Complexes in dieser Gegend oder in der oberen
Muluja-Niederung finden sich verschiedene, einst sehr mächtige Berber-
fractionen, die Ssenhadja, Miknässa, Ilauunra, die aber gegenwärtig alle
arabisch sprechen. Die Ilauuara b(»liaupten, es auch der Kasse nach zu
sohl. Gleichnamige Abtheilungen dieser durch die arabischen Historio-
graphen des Mittelalters auch in europäischen (Jeschichtswerken genugsam
eingeführten Stämme finden sich heut verstreut im ganzen nordwestlichen
Afrika, bis nach Senegambien hin.*)
1) FouCAULD schreibt, S. 387, 89() if., das Wort mit dem }>; so viel mir bekannt,
wird CS mit dem k am Anfang geschrieben, ein Buchstabe, der im Magribinischcn sehr
häufig durch g ersetzt wird.
2) A. a. 0. S. 225.
3) Die letztere, weniger bekannte Bezeichnung ist die berberische, die erstere
die arabische Fonii dieses Stammnamens. Derselbe bekundet ilire Zugehörigkeit zu der
grossen historischen Berberiraction d<'r Snata oder Senäta (gewöhnlich Zeneta oder Zeneten
geschrieben). Heute zu untergeordneter Bedeutung hera]>gesunken, ])ildeten die Isnat^n
zur Zeit der arabischen lnvasi<»n nebst den Gomeren, Masmüden, den Ssenhadjen (Zenagen
(»der Zenegen) u. a. ehie der mächtigsten Vereinigungen. In der Provinz «»sch-Schauija existirt
noch heute eine Kabila Snata, die aber z. Z. arabisch spricht. — Ans den Senäta ist die
l)}Tiastie der Meriniden hervorgegangen, aus den Ssenhadja die der sogen. Almoraviden,
richtiger „Merabidln", die (an die Religion) (jiebundenen, eine religiöse Secte, aus deren
Namen auch das bekannte Wort .»Marabut*- gebildet ist.
4) Der Fluss .»Senegal** hat seinen europäischen Namen nach den Ssenhadja. Vergl.
..Le Züuaga des tribus senegalaises. (yontributiim a Tetude de la langue herbere par le
general Fai<lh»»rbe. Paris 1877. S. 1.
Eintheilung und Vcrbrcitnnp: clor BerbcrhcTolkerung in Marokko. Hl
Die hauptsächlichsten Stjlmme des Rif und Gart sind die Beni Bu-
Ferali, Beni Urja*;el, Tinssanian, Beni Tusin, Beni Ulischk, Beni Said,
Oehiian, Zeluän, Kibdana, Iteni Snassen (Isnäten), Beni Bu-Sef^uJ) Einige
unbedeutendere Stämme, ganz im Osten, an der algerischen (irenze, sind
die Beni Matar (arab.), Mehaia (arab.), S(»kara (berb.) etc.
Das gesammte Kif-6ebiet ist nahezu vollkommen terra incognita, nur die
halbkn^isformige Küste und die Flussmündungen sind seit dem Jahre 18ör>,
wo eint» französische wissenschaftliche Comnüssion unter VlNCENDON-
DmoULIN und ThaIDE DE KeKHALLET dieselben untersucht hat, genauer
bekannt 2). Die drei sog. „Presidlos", kleine befestigte Stftdte, welcJie
Spanien an dieser Küste besitzt — Penon de Velez^), Alhucemas^) und
Melilla — sind ganz unbedeutende Platze und dienen vornehmlich poli-
tischen und gemeinen Verbrechern zum AufentJialte.*) Der Verkehr der
Spanier dieser Presidios mit den Eingeborenen ist meist ein einseitiger,
d. h. die erst(»nMi dürfen es nicht wagen, sich auch nur einige Kilometer
von der Stadt zu entfernen; es ist dies auch der fast ganz aus Beamten
und Sohlaten bestehenden Bevölkerung von Seiten der spanischen Behönlen
auf das Strengste verboten, schon deshalb, um nicht mit dem Sultan von
Marokko dadurch in fruchtlose Complicationen zu gerathen. Die Zeiten
datiren nur wenige Jahre zurück, dass die Rif- Berber eine Art von Sj)ort
damit trieben, von ihren Bergen herabzusteigen und nach den spanischen
Schiblwachen auf den Wällen, wie nach der Scheibe zu schiessen. Vor
fünf oder sechs Jahren wurde der Uouvenieur eines dieser Presidios von
<len Eingeborenen bei irgend einer (Jelegenheit thätlich misshandelt, und
die (»inzige (Jenugthuung, welche Sj)anien für diesen ^ernsten Zwischenfall*^
erlangte, bestand darin, dass es — den betreffenden Offizier ablösen Hess.
Der Sultan, der bekanntlich im Rif nur in partibus regiert, ordnete eine
Untersuchung an, die Rif- Berber lachten darüber, von (»iner Bestrafung d(T
Uebelthäter war nicht die Rede. Es liegt jedoch auf der Hand, dass ein
solcher Vorfall, der sich jeden Tag ereigiu»n kann, unter Umständen einen
vorzüglichen casus belli abgiebt. Das war im Jahre 185U der P^all; damals
wollte Spanien aus gewissen (Jründen d(»n Krieg mit Marokko und be-
1) In der I/>HSBACH'schon Uobersetzung des Leo Afuicanx'S fiudon sich versrliiedoue
dieser Namen in verstümmelter Fonn, z. B. Beni Sahid statt Beni Sa id. Beni Oneriaghel
statt rrjaf^el, ferner Seusaoen für Sclieschauen, Beni Zarwtd für Beni Sernal, Beni Teuzin
für Tusin u- s. w.
2) Description nautique de la rote nord du Maroc, Paris 18.')7.
3) Der spanische Name «Velez* ist aus der Bezeichnung ^Badls" der Eingeborenen
entstanden. Der Ort liejirt an der Stelle der antiken Parietina in Antonin's Itinerar. Maii
hört densellH'n auch oft als ^Velez de la Gomera" («üomera") bezeichnen, nach der
j:lei<hnamigen mächti^^en Berberfraction.
4; Arabisch ..el Mesemma" : «ad sex insulas" der Alten. (Irabero von Hemsoe
(I.e. S. 25; nennt den Ort „Hadjar-en-Nekur". Felsen des Nekür, an dessen Mündung
die Stadt auf einem steilen Felsen liefet. Der Name .,al Ilucemas" soll nach <lemselbeu
Autor im Arabischen .Lawendeh be<leuten. (f)
b) Der vierte und p*«*»««*«* Presidio, ('««uta ^^Sebta), ^ad Abilenr Antonini, kommt, als.
ausserhalb des Uif liepMid, hier nicht in Ib*t rächt.
112 M. QüEDENFELDT :
nutzte ähnliche Vorfalle, die sich bei Ceuta ereignet hatten, um denselben
herbeizuführen. Wenn also die Spanier der Presidios vollkommen so zu
8a<i;en in Quarantaino leben, so müssen sie ihrerseits doch den „Rifenos", —
so nennt der Spanier die Rifleute, — erlauben, ihre Plätze zu besuchen,
schon aus Veri)roviantirungsgründen. Doch ist der Verkehr und Handel
im (lanzen sehr unbedeutend. In Melilla (berb. Mlila, „die Weisse") ist
das Verhältniss in den letzten Jahren ein besseres geworden, seitdem ein-
zelne Dampfer der Messagerie maritime (I^inie Marseille — Oran) dort an-
laufen und der Sultan die benachbarten Stilmme Geläian (Kelaia) und
Kibdäna unterworfen hat.
Eine Anzahl von Rifenos steht als Soldaten in spanischen Diensten,
welche, wie ich in Ceuta sah, ein nacli Art der Zuaven uniformirtes be-
sonderes kleines Corps bilden und „Jloros del rey" genarnit werden.
Das Ansehen und die Macht des Sultans von Marokko stehen also im Rif
auf sehr schwachen Füssen. Obgleich nominell zu diesem Reiche gehörig,
sind die Rutifa thatsächlich unabhängig, sie stellen keine Soldaten und
zahl(»n (»ntweder gar keine Steuern od(»r nur gelegentlich solche in der
Form von freiwilligen Abgaben oder (ieschenken. Mulai Hassan hat auch
nur au w(»nigen Punkten dieses ganzen Küstendistrikts Käids oder Gou-
verneure, welche, wo sie vorhand(Mi sind, so gut wie Nichts zu sagen haben.
Di(»se Spuren einer Verwaltung Seitens der marokkanischen Regierung finden
sich in den östlichen Theilen des (Jebietes, im Gart, bei den Beni
Snass(?n u. s. w. Meist sind es die Schechs früherer unbotmässiger Stämme,
welche nach einigen glücklichen „Harka^s"* oder Zügen des Sultans mit
bewafiTneter Macht zu ihrer Unterwerfung als Käids installirt wurden. Seit
dem R(»gierungsantritte des jetzigcMi Sultans 1873 hat derselbe drei
Expedition(»n nach dem nördlichen Küstengebiete in Scene gesetzt. Die
erste, im Jahre 1875 unternommene, hatte den eigentlichen Rif, zwischen
Uäd Lau und Uad Nekür, zum Ziel. Ein auf diese Expedition bezügliches
Soldatenlied, „el-harka hT-Rif**^) betitelt, wird noch gegenwärtig von den
*Askar viel gesungen. Mulai Hassan trat bei dieser Gelegenheit sehr milde
und versöhnlich auf. Er ging nicht in das unwegsame liniere des Gebietes,
benahm sich überall vorsichtig und erreichte so, dass der ganze Zug,
so viel ich wenigstens darüber erfahren konnte, unblutig verlief. Der
Eindruck, den er auf die Rif- Berber machte, soll ein sehr günstiger
gewissen sein. Man (»rzählte, dass an einzelnen Orten die Verehrung
und der Enthusiasmus sogar einen solchen Grad erreicht habe, dass das
Volk den Bernüs d(»s Sultans, den ihm dieser willig überliess, in kleine
Stücke zerrissen und diesellx'ii als (»ine Art Talisman heimgetragen habe.
Seit diesem „Antrittslx^suche"*, den Mulai Hassan nur unternommen hatte,
um seinem Volke und den (europäischen Mäc]it(»n zu zeigen, dass er auch
in diesem Theile seines Gebiet(»s Herr sei, und der ohne jede practische
1) Correct: el-häraka iV er-rif, die Harka nach dem Rif.
Eintheilung und Vorbreitling dor BerberboTolkening in Marokko. 113
Polgen bliob, ist der Sultan nicht wieder in den eigentlichen Rif g(»gangen,
wohl aber 1876 nach der Nordostgrenze s(»ines Reiches. Hier unterwarf
er die Ben! Snassen und fieni Bu-Segu, sowie die Kibdäna. Mit IFulfc?
der letzteren bekriegte er dann auf dem Rückwege die (iijata*), welche ihm
auf dem Hinmärsche eint» arge» Schlappe beigebracht hatten. Die Armee
wurde an einer Schlucht am Ufer des Uad Bu-t5erba überfallen; man
sagt, die» (iijata hatten Schleusen g(»baut, die sie» plötzlich einrissen, un<l
durch die auf die Marschkolonne her(»inbrech(Miden Wiisser <l(»s Bergstromes
wurde dieselbe erschüttert. Die üijata hatten in der allgem(»inen Verwirrung
leichtes Spiel. Sie todteten i»ine grosse Anzahl der Truppen des Sultans,
diesem selbst wurde das Pferd unter «lem Leibe erschossen, und selbst ein
Theil seiner Frauen war nahe daran, g(»fangen zu werd(Mi. Die Beute der
<tijata, die u. a. auch v<»rschiedene Geschütze nahmen, war s(»hr gross,
<lie Niederlage der Truppen vollständig. Ich will über diesen unbot-
massigsten aller Stämme, der, wie die Marokkaner sagen, „nicht (üott,
nicht Sultan fürchtet und mir das Pulver kennt", hier einige Notizen,
nach FOUCAULD-), geb<»n. Die Verfassung des Stammes, der im (lanzen
etwa 3000 Fussganger und 200 Reiter aufstellen kann, ist eine durchaus
demokratische. Sie haben wed(»r Schechs, noch sonst Cliels irgend welch(»r
Art, — jeiler für sich mit seiner Waffe. Trotzdem giebt es unter ihnen,
wie überall, einige Persöidichkeiten, die» durch Klugheit, Tapferkeit, Wohl-
habenheit einen dominirenden P^influss erworben haben. (f(»genwärtig ist
ein gewisser Bei Chadir, Bewohn(»r des Dorfes Negert, die einflussnMchst«»
Persönlichkeit. Ausserdem geniessen einige ndigiöse Chefs: Mulai Edris
Serben, Mnlai Abd-er-Rahman u. s. w., und Schürfa aus d(»ren Descendenz
Hinfluss und Ansehen bei ihnen, besonders der erstgenannte Heilige. Un-
zweifelhaft von berberischer Abstammung, sprechen die (iijata geg(»nwärtig
fast durchgehends arabisch. Si(» bewohnen vorwi(»gend rauhes Gebirgslaml
und th(»ilen sich in i\ Fractionen. Die Männer sowohl wie die Frauen
dieses St^immes sind im Durchschnitt von hohem Wuchs: die Weiber sind
ste^ unverschleiert, «lie Manner gehen barhäuptig, eine dünne Schnur
von Kameelwolle oder weisser Baumwolle um Stirn und Kopf gewmnlen.
Beide Geschlechter schnupfen — eine Leidenschaft, der in Marokko sonst nur
ältere Leute, Tolba oder Schriftgelehrte, meist in den Städten, fröhnen.
Die Männer der (iijata sind überdies starke Kifraucher.
Die Beni Snassen wunlen ganz unabhängig bis 187G von ihren erb-
lichen Schechs regiert: d(»s h»tzten «lerselben, des Iladj Mimun Ren (d-
Baschir. der sehr angesehen und bcdiebt bei seinem Stamme war, bemäch-
tigte sich der Sultan mit List und warf ihn ins (lefängniss. In dem
genannten Jahre theilte der Sultan diesen Stamm in vier Theile, d(»ren
jedem er einen Kaid v(»rsetzte, welchem sie indessen nur einen sehr
1) Anch bei diesem Worte, wie bei Fuss. Mikiiuss, Beräbir, Snata u. 8. w., tritt in der
Tulgftren Sprache eine Wandlunf^ des langen A in a oder u ein, also gespr. (*jijata(Riäta).
2) A. a. 0. S. S3 und 34.
114 M. Quedenfeldt:
bedingten Gehorsam entgegenbringen. Bei den Beni Bu-Segii wurde
deren früherer Schech, Hamädu, vom Sultan zum Käid ernannt.
Im Jahre 1880 schickte Mulai Hassan seinen Onkel, Mulai el-Amin,
nach dem Gart; derselbe untenvarf nach einer sehr langen Harka die
Geläia, die sich seitdem in einem gleich lockeren abhängigen Verhaltniss
zur marokkanischen Regierung befinden. Damit ist die Taste der tribu-
tären Rif- Stämme erschöpft.
Ein gebildeter und unterrichteter Tetäuni (Bewohner von Tetuan),
mit welchem ich mich einmal über die Unbotmässigkeit der Rif- Berber
unterhielt, sprach sich dahin aus, dass der Sultan und die gesammto
Bevölkerung des Landes im Grunde gar keine Ursache hätten, mit diesem
Status quo besonders unzufrieden zu sein. Die wilden Ruäfa in ihren
unzugänglichen Gebirgen, überhaupt die unbotmässigen kriegerischen
Stämme im ganzen östlichen Theile des Landes seien der beste Wall gegen
eine Occupation Marokkos durch die Franzosen von Algerien aus.
Die gleichen Gründe haben bisher nicht nur eine wissenschaftliclie
Erforschung, sondern selbst jede Bereisung des Rif-Gebietes durch Euro-
päer unmöglich gemacht, so dass man dasselbe mit Fug und Recht
als einen der am wenigsten bekannten Punkte des gesammten
afrikanischen Continents bezeichnen kann.
Als der beste Kenner des Rif konnte der mehrfach erwähnte, jetzt
verstorbene französische Ministerresident TiSSOT gelten. Doch beruhten
auch TlSSOTs Kenntnisse von diesen Landestheilen Marokko's nur in
sehr geringem Maasse auf eigener Anschauung, sondern allermeist auf sehr
sorgsam gesichteten und zuverlässigen Informationen durch Eingeborene.
Vor einigen Jahren machte ein anderer Franzose, der Vicomte MAURICE
DE CHAVAGNAC^), den Versuch, von Ruäfa in Tanger ein grösseres, mitten
im Rif gelegenes Stück Land käuflich zu erworben, oder er erwarb dasselbe
sogar in aller Form. Es liandelte sich damals, unter der Amtsführung
des intriguanten französischen Ministerresidenten ORDEGA, wohl um ein
politisches Manöver, darum, einen Druck auf den Sultan auszuüben, oder
zum mindesten um eine Spi^culation auf die Börse Sr. Scherifischen Majestät.
Man hatte, so wurde mir von glaubwürdiger Seite in Tanger erzählt, auf
Grund älmlicher PräcedtMizfälh» gehofft, «ler Sultan werde, bei seiner
bekannteu Sclieu vor Complicationen mit Euro])ä(»rn, durch die Festsetzung
eines solchen im Rif sicli sofort V(»ranlasst sehen, das betreffende Grund-
stü(»k für einen weit höheren Kaufpreis in seinen Besitz zu bringen.
Dies geschah jedoch nicht. Die Angelegenheit staiul vor Kurzem noch so,
dass Hr. V. CHAVAGNAr zwar „Grossgrundbesitzer" im J{if ist, aber weder
zur See noch auf ileni Landeswege sein Eigenthum erreichen kaini. Gegen
1) CuAVAONAC ist einer der wenigen Eur()j)Her, welche die Tour von Fäss nach
üdjda (über Tessa) gemacht hahen. Ea war ihm durch Empfehlungen des Scherif von
Uasan möglich. Ich triif in Tetuan und Tanger wiederholt mit (yHAVAONAC zusammen;
derselbe hat in letzterer Stadt seinen bleibenden Aufenthalt.
Eintheihmg und Verbreitung der Berherbevolkorung in Marokko. Hö
eine Landung von dor S(M>seito aus erhebt der Sultan l^rotest, da sieh an
der Rif- Küste keine Duane, überhaupt an der ganzen Nordknste Marokko"«
keine dem Verkehr geöffnete» Landungsstelle befindet, und der Landweg
ist zu gefährlich.
Das Wenige, was wir also über die Ilif-Berber wissen, ist nicht in
«leren (lebiete selbst erkundet, sondern durch Beobachtung an ausserhalb
«lesselben lebend(»n Ruafa und Informationen bei denselben in Krfahrung
gel)raeht. (tanz bes(>nd(»rs in Tanger liiilt sich stets eine grosse Anzahl
dieser Leute auf, die theils d(»r Folgen der Blutrache wegen, th(»ils um
Arbeit zu suchen, ihre H<»imath verlassen haben. Ujus „jus talionis** wird
bei allen nnirokkanischen Berbern und Arabern nach bekanntem moham-
nunlanischem Brauch ausgeübt, bei dcMi Rif- Berbern in der strengsten Form;
die Sache wird dort höchst selten, man kann sagen nie. mit Geld in Ord-
nung gebracht. Auch in Tetuan, der dem Rif zunächst gelegenen marok-
kanischen Stadt, findet man viele Leute von dort. Ueberhaupt sind dic»-
selben, — und das ist eine Eigenschaft, die sie, nach meiner Beobsichtung,
mit d(»n Schlöh, nicht aber mit den Berbern der mittlenui üruppe theilen, —
sehr wanderlustig. Sii» entschliessen sich leicht, auf längere oder kürzere
Zeit in die Nachbarschaft, nach Algerien oder Tunis, auf Arbeit zu gehen.
Ich traf ganze Trupps der Leute in Algier und Medea, wo sie mi»ist als
Enlarbeiter thätig waren und für fleissig und tüclitig angesehen wurden.
Im Allgemeinen präsentiren sicli die Rif-Berber, wie jeder Reisende,
der Tang(»r besucht, Geh»genheit hat, sich zu überzeugen, als mittelgrosse,
kräftige, breitschulterige Gestalten. Sehr häufig beg(»gnet man unter
ihnen Individuen mit flachsblondem oder röthlichem Haar und
blauen Aug(Mi, von <lenen viele auch dun^li ihren kurzen Hals, das bn^ite,
runde oder massig ovale Gesiclit mit hervortretenden Backenknochen u. s. w.
vollkommen an <len gewöhnlichen Typus unserer norddeutschen Landleute
erinnern.
U(d)er diese oigenthümliche Ersch(»inung, welche sich auch in der
algerischc^n Kabylie find(»t, ist vitd geschrieben und gestritten worden, —
ich citire nur: AUCAPITAINE, BRUCE, GAKETTE, IL DUVEYRIER, FAIDüERBE,
Gi:yon,0. lIouDAs. Henry Martin, Masqueray', Perier, I'laifair, Shaw,
TiSSOT, Tul*lNARD, — jetloch bisher ohm» jedes b(»stimnit(» Krgebniss. Die
einen behaupten, dieses theilweise Blondsein s(»i ein Attribut aller vorwiegend
in höheren Gebirgen lebentlen Völker, auch in südlichen Breiten, und 8(»i
«laher bei den Berbern gar nicht besonders merkwürdig. Andere führen
es auf frenub' F/uiflüsse un«l Vermischungen in historischer Zeit zurück.
Noch and«»n' halten dit» blonden Berber für Ueberbleibsel jener Rasse,
welchr in |>rähistorischer Z(Mt ilie vorgefundc»nen megalithischen Denk-
mäler errichtet habe und welch«? nordischen Ursprungs gew(»s(»n sei. So
lange ki'int' eingehenden anthropologischen und linguistischen Unter-
HUchungiMi nach dies(»r Richtung angestellt wenlen können, wird die Frage, wie
so manrht' and«Tt». ung«döst l)leiben, - wenn sie überhaupt noeh zu lösen i.st.
116 M. QUEDENFEI^DT :
Meine Ansieht bezüglich der Rif- Bewohner ist die, dass die in Rede
stehende Erscheinung auf eine Vermischung mit nordischen Elementen und
zwar mit den 429 n. Chr. von der pyrenäischen Halbinsel ausgewanderten
Vandalen zurückzuführen sei. Wenn wir auch wissen, dass das Gros der
Vandalen viel weiter östlich auf afrikanischem Boden gelandet ist, so ist
doch ein üebertreten kleinerer Partien in den Rif durchaus möglieh,
sogar wahrsclieinlich, und hier, in diesen abgeschlossenen Gebirgsthälem,
in dem gewiss schwacli bevölkerten Gebiete, konnten sie ihre Rasse in
sich fortpflanzen oder docli sehr integrirend auf die schon vorhandenen
Elemente einwirken. Als Nordlander kam ihnen bei ihrer Acclimatisirung
das rauhe Klima der Rif- Gebirge zu statten. Ein Umstand scheint mir
jedenfalls für die Richtigkeit dieser Theorie zu s])rechen. Wir können,
da wir doch ursprünglich bei allen Berbern einen gemeinsamen Grund-
stamm «innehmen müssen, die gegenwartig unter ihnen vorhandenen grossen
Verschiedenheiten in Typus, Spraclie, Sitten und Gebräuchen nur auf
fremde Einflüsse zurückführen, denen sie mehr oder minder ausgesetzt
waren. Warum findet sich nun unter den Schlöh, Berbern der Gruppe 3,
die docli zum Theil in noch hölieren Gebirgen, im Grossen Atlas, leben,
nicht eine Spur von blonden Elementen? Das ist eine Thatsaehe,
die jeder, der im Gebiet der Schlöh gereist ist, zugeben muss. Ich selbst
habe unter Tausenden dieser Berber nicht ein blondes Individuum gesehen,
während bei den Rif- Berbern in Tanger, Tetuan u. s. w. das Verhältniss
zwischen Blonden und Dunkelhaarigen etwa wie 2 : 5 ist. Die blonde
Bevölkerung der Kasba Agurai im Gebiete «der Beiii Mtir (Gruppe 2) ist,
wi(> wir sehen werden, auf andere Ursachen zurückzuführen. Da alle In-
vasionen, w(»lche in Marokko' stattgefunden haben, von den Phönicieni
bis zu den Arabern, von Norden oder NordostcMi her gekonmien sind, so
hatte der Rif stets den ersten Anprall auszuhaken; nach den Gebirgs-
gegenden des Landinnern gelangten fremde Einflüsse «»ntweder gar nicht
oder nur auf Umwegen und dann in sehr abgeschwächtem Maasse. In
ähnliche^ Weise mag das Vorkommen blonder Elemente unter den kana-
rischen Guanches, den westlichsten Repräsentanten des grossen Berber-
volkes, durch dorthin verschhigene nordische Elemente zu erklären sein.
Uebrrhaupt hab(^n hier, auf den abgeschlossenen Inseln, wohl alle fremden
Vermischungen intensiver, nachhaltiger gewirkt, wi(» auf dem benachbarten
Festlande, wo sie sich mehr zerstreuten. Wir können also annehmen,
dass lange vor dem Einbruch der Araber in den Mairib schon wesent-
liche Verschiedenheiten zwischen den berberischen Insulaueni und ihren
continentalen Verwandten bestanden.
U(»ber di(? blonden Berber in Algerien wird in einem kurzen Resume
bei E. ReOLUS*) Folgendes mitgetheilt: Sie sind zahlreich im Auresgebirge
und namentlich bei Chenschela und im Djebel Scheschar; in der gesammten
1) A. a. 0. S. 880 u. f.
Eintheilung und Verbreitung der Berber bey öl kerung in Marokko. 117
Provinz Coiistantino nuichon sio, nach FaidHERBE, . etwa ein Zehntel der
(.losaninitbovölkerung aus. Die Denhadja, welche in einem zum FIuks-
gobiete de« Ssafssaf *) gehörigen kleinen Thah», südöstlich von Philippe-
ville, wohnen, behaupten, von blonden Vorfahren abzustammen, obgleich
Kreuzungen mit ihren Nachbarn vielfach dunkle Aug(>n und llaaro bei
ihnen h(»rvorg(d)racht hätten. Sie nennen sich selbst „Uled el-l)juhala",
„Söhne von Hei(h»n'^, un<l bis vor nicht langer Zeit errichteten sie noch
auf den Uegräbnissstätten ihrer Todten massive Blöcke, bei welchen
sie religiöse Ceremonien begingen. Diese Thatsache giebt der Hypothese
verschiedener (lehdirten einen Rückhalt, wtdche den Bau der algerischen
Megalithen blonden, vom Norden her über die iberische Halbinsel durch
die Meerenge von (fibralt4ir gekommenen Völkern zuschreiben. Man hat
auch in diesen blonden Afrikanern Abkönmilinge römischer Söldner, speciell
der Gallier und (iermaneu, sehen wollen, welche von den Römern zur
Yertheidigung ihrer Sfl<lgrenze hier stationirt waren. Nach anderen Autoren
wilren die von Belisar um 533 in's Auresgebirge zurückgeworfenen Yan-
dalen nicht völlig verschwunden. Dank der Höhe der Gebirge hätten
sich diese nordischtm Einwanderer dem afrikanischen Klima gefügt, und
die Brüder der Scandinavier ligurirten jetzt unter den algerischen Berbern.
Es wird weiter nachgewiesen, wie sich bei einigen kabylischen Triben,
z.B. den Uled el-Askar, auch der römische Typus ^') und die Tradition
aus d(T Römerzeit vollkommen erhalt(»n hat. Bekannt ist, dass vor der
Besitznahme Nordafrika's durch di<^ Araber viele d(»r dortigen Bewohner
sich zur christlichen od(»r zur jüdischen Religion bekannten. Aus jener
späteren römischen p]i)Oche, wo die Bergbewohner der Provinz Afrika ihre
Bischöfe zum Coucil schickten, glaubt man, schreibt» sich der noch heute
bestehende Brauch, dass im Aures die Berber sich am 1. Januar (innar'))
besuchen, sich beglückwünschen u. s. w.
Sj>eciell in Bezug auf die blonden Berber des Sultanats Marokko wird
auf S. 688 nur gesagt, dass, ebenso wie unter den Schauija und Kabylen
Algeriens, sich auch unter den Imasi^en Marokko's Individuen mit blonden
Haaren und blauen Augen befiinden. Aber in den mittleren und südlichc^n
Geg(»nden scheine der blonde Typus sehr selten zu sein. ROHLFS sagt,
er habe auf sc»inen zahlreichen Touren in jtMien Gegenden nur ein Indi-
viduum bemerkt, welches sich von den anderen durch helle Färbung des
Haares unterschieden habe. Im Rif, d. h. in der Küstengegend, wo öfter
Einbrüche oder Einwanderungen von der pyrenäischen Halbinsel her
stiittgefunden haben, bemerkt man die blonden Berber in grösster Anzahl.
1) räd Ssafssaf = Weisspappellluss.
2) Worin die charakteristischen Merkmale dieses «römischeu Typus" bestehen sollen,
ist leider nicht anjregehen.
3; Anch in Marokko, bei der arabischen und noch mehr bei der berberischen Beviil-
kenin^;, sin<l die christlichen Monatsnamen, wenn auch in sehr verstümmeIt<T Form (z. H.
.ruscht- fiir Auj^ust, „8chut<Mnbir" für September u. s. w.), nicht unbekannt.
118 M. Quedenfeldt:
TiSSOT war, als er in der Nähe des Rif reiste, erstaunt, einem so starken
Proccmtsatze von Leuten mit vollständig nordischen Gesichtszügen unter
den Rif-Berbern zu begegnen. Hat man in ihnen, mit FAIDHERBE, die
mehr oder minder vermischten Nachkommen derer zu sehen, welche die
megalithischen Denkmäler der Gegend errichtet haben?
Was den Charakter der Ruäfa betrifft, so suchen die Araber wahre
Monstra an Schlechtigkeit aus ihnen zu machen, während Andere, z. B.
Spanier, welche sie vielfach in Dienst nehmen, sie im Durchschnitt für
ganz treue und zuverlässige Leute erklären. Die Wahrheit mag wohl in
der Mitte liegen. Jedenfalls sind viele ihrer Eigenschaften, die wnr von
unserem Standpunkte verdammen, das Resultat von Yerhältnisseu und
An8chauung(»n, in denen das Volk seit undenklicher Zeit lebt.
Lnierhalb des Rif- Gebietes dürfen wohlhabende Araber ebenso wenig
reisen, wie Christen, wenn sie nicht (lefahr laufen wollen, ausgeplündert
oder ermordet zu werden, und selbst ein einmal zugesicherter Schutz
(anäia) soll bei d«Mi Rif-Berbern oftmals gebrochen werden. Der religiöse
Fanatismus spielt dabei eine sehr geringe Rolle, — deini die Ruäfa sind
keine eifrigcMi Muslemin; — sondern mehr unbegrenzte Raublust imd
Abn(»igimg gogen alles Fremdi». Die Araber sagen: Traue einem Rifi
niemals; bist du mit ihm auf dem Marsche, so lasse ihn, und sei er dein
eigen(»r VerwandtiT, stets vorangehen, um nicht unversehens seiner Tücke
zum Opfer zu fallen.
Die Behandlung der Juden bei den Ruafa ist eine sehr schlechte;
es sind in Folge dessen auch sehr wenige dort, die UKMsten in Taferssit.
Die Rif- Berber sind, vielleicht in J'olge ihrer oftmals bösen eigenen
Intentionc^n, auch g(»gen Andere sehr misstrauisch. Sie gi^statten z. B.
ni(^rnals, dass Jemand bei der Besichtigung ihrer stets scharf geladenen
Feuerwaffen mit dem Finger in die Nähe des Abzuges fasst, sehen es
überhaupt sehr ungern, wenn ein Fremd(»r ihre Waffen in die Hand nimmt.
Der (Jrund ist lediglich der, dass sie fürcht(Mi, (»s könne der Betreffende
den Moment ilnvr Wehrlosigk(»it benutzen nn<l die Waffe gegen sie selbst
gebrauchen. Die ewigen Fehden und Kämpfe, nicht allein der verschie-
denen Kabilen, sondern oftmals auch der einzelnen Familien untereinander,
hab(Mi den Leuten diest^s unb(»siegbare Misstranen gegen Alle und Jeden
eingeimpft. A^)n den Ruafa in Tanger haben, wie ich schon erwähnte,
viele aus Furcht vor der Blutrache ihre HeimatJi verlassen, und sie leben
in der steten Furcht, dort von einem Mitgli(Ml(» der feindlichen Partei auf-
gesucht und getödtet zu werden.
xVls ich im Jahn? 1880 zum ersten Male in Tanger war und diese
Verhältnisse noch nicht kannte, hätte ich l)einahe Gelegenheit gehabt, sie
in sehr wenig angenehmer Weise practisch zu erproben. Ich ging eines
Tages ausserhalb <ler Stadt mit einem schw(»izer Maler, welcher mit mir
das gleicln» Hotel bewohnte, sp{izi(Ten. Wir beg»»gneten einem Rifi, dessen
Kinth<«ilun|? und Verbreitun^f der BerlMTbcvölkoriing in Marokko. 1 19
freni<Uirtige Ersclieimmg, Kleiduiij^ und Bowaffnuiij»; inicli imgcMiieiii inter-
oHsirteii. Wir näliortoii uns ihm, boten ihm Cigarrotton an und der Maler
sprach einige» Worte in gebroch(»n(»m Arabisch mit ihm. Während dessen
streckte idi unwillkürlich den Arm aus, wie um den Kolben einer der
grossen Steinschlo8sj)istol(Mi, die er im Gürtel trug, zu ergreifen. Da
sprang der Mann mit ein(»ni so droli(»nd(»n Au8<lrucke zurück und legte
selbst die Hand an d(»n Kolben 8(»iner Waffe, dass ich ganz erstaunt war
und zuerst gar nicht wusste, womit ich seinen Unwillen erregt hatte. Der
Schweizer, der schon ein halbes Jahr in Tanger leb'te, klärte mich dann
darüber auf.
Die Kuafa z(»icliiien sich durdi besondere Tracht und Bew^affnung
aus, welche von der d(»r bt^iden Jinderen trrui>]>en verschieden ist, dagegen
<ler Tracht der Djc^bela sehr nahe st(»ht. Aus diesem (irunde ver-
wechseln Fremde, welche nur wenige Tage oder Wochen in Tanger bleiben
und keinen scharfen Blick für dergleichen Unter8chi(»dc» haben, diese beiden
Kat(*gorien stets. D(»r Djibeli trägt b(»ispi(»lsweise mit Vorliebe das
rothtuchene, oft mit einer (ioldborde besetzte FutttTal seiner langen Stein-
schlossflinte turbanartig um den Koj)f gewunden, während der achtem Rif-
Berb(»r stets barhäuptig geht und nur bei ungünstiger W^itterung die
Kapuze seiner Djelläba^) über den Kopf schlägt. Dieses Kleidungsstück,
ein weiter, sackartiger Ueberziedier mit weiten, kurzidn Aermeln und nie
fehlend(jr Kapuze», ist tyj>ise'h für elas nemlatlantische Marokko. Es variirt
im Se'hnitt nie», wohl aber in ele»r Art und ele»r Färbung <le»s Stoffes, je» nach
eli»r Localität und eleu Mitte»ln se»in<»s Be»sitze»rs. Der fe»ine Stäelte»r z. B.
trägt eine Djelläba von the»ure'm, aus Kure)pa importirte'ui, dunke»lblaueni
Tuche, währe»nel de»r Rifi und eler Djibeli meist einfarbig braune oder graue,
schwarz o<le»r braun ge»streifte Dje»llaben. se»hr stark un<l daue^rhaft aus
Wolle» ge»webt, tragen. Be'ide» lie»])e»n e's, mit bunten Stickereien in Tueh,
oft aue'h in Se»iele», ihre» Dje»lläben zu verzieren.
Der Rifi trägt ste»ts <»ine»n kh'ine'U gefloehtene»n Zopf an der rechten
Se»ite des Hinte»rkopfe»s, währenel de»r Djibeli elies nur in jünge»re»n tJahren
thut unel späte»r, ele»r allgemeinen muse»hnanise'he»n Sitte» folgend, sie'h eleu
Kopf ganz rasirt.
Aue'h be»i de»m se)ge»nannte'n Pulverspit»l. lab e»l-baruel, habe»n elie Rif-
Berber ande»re (ie'wohidi«»iteMi, als elie» arabise-h reele»nde»n Dje'be*»la. In Tanger
kann man dieseMi Brnuch, ele»r be»i lIoe*hze»ite»n, Be»schneielunge'n, re»ligie»se»n
Fe»8ten geübt wird, fast täglich be»obachten. Me»i8t kommen die Leute»
1) In manchen Gt»jrt*nd<*n hört man aurh elie Bezoichnunj? «Djollabia" für <lioscs
Kleidim^sstfirk. — Horcit.s I.Ee) Afkicanus Ca. a. O. S. 318) thut dessolhon in soincr
li«»schn'il»unj; «1*t Lan<lschaft -Krrif'* mit den Worten Krwahnunjr: -Die Kinwuhner trajren
alle Wollt^nsacktnch, w^dclies von der Art der Bettdecken, eli«» man in Italien sifht, ist
nnel schwarz** und weisse Streifen hat. Sic haben Kapuzen daran. di<* sie üIht «leu Kopf
xiehin, so das^ man sie heim ersten Anldick eher für Thiere. wie für Men>rhen halte»n muss."
1 20 M. QUEDENFELDT :
bei solchen Gelogeiilieiten aus ilireii Bergdörforn nach der Stadt, die Mehr-
zahl natürlicli aus dem umliegenden Distrikte von Andjera, aber auch von
weiter her. Man versammelt sich an einer bestimmten Stelle, gewöhnlich
auf dem grossen Ssok (Marktplatze) vor dem oberen Stadtthore. Jeder
Mann hat sein langes Gewehr bei sich, welches mit einer so starken Pulver-
ladung ge8])eist wird, dass man bei dem jedesmaligen Abfeuern glaubt,
einen BöUerschuss zu hören, und in Begleitung einiger Musikanten wird
in die Studt gezogen, in einer Formation, für die wir den sehr bezeich-
nenden vulgären Ausdruck „Ormseniarsch" haben. Die Musik bildet den
Schluss; sie besteht unweigerlich — in allen solchen Bräuchen sind die
Marokkaner in hohem Grade conservativ — aus zwei Instrumenten: einer
„geita" genannten Ciarinette, welcher mit aufgeblasenen Backen die lau-
testen, quiekendsten und näselndsten Töne entlockt werden, und einer grossen,
schmucklosen Tronmiel oder eigentlich Pauke, „tebel** (tbiil), deren obere
Seite mit der rechten Hand mittelst eines hölzernen Paukenschlägels bear-
beitet wird, während die linke Hand, mit einem dünnen Stäbchen bewaffnet,
die Unterseite schlägt. In bestimmten Reprisen wird nun Halt gemacht, ein
Kreis formirt und es werden möglichst gleichzeitig die Gewehre, nachdem sie
vorher V(»r8chiedeutlich balancirt worden sind, nach dem Boden zu ab-
gefeuert. So geschieht es bei den Djebela; die Buäfa hingegen stellen sich
nicht im Kreise, sondern in zwei Reihen, etwa wie wir beim Contrc-
tanz, einander gegenüber auf, „chassiren" dann einige Mal durch-
einander, wobei sie ein eigenthümlich gellendes, trillerndes Geschrei aus-
stossen, ähnlich den bekannten Lauten der mohamm(>danischen Frauen bei
Freud(Mi- oder Trauerbezeugungen, und feuern ihre Gewehre ab. Bei
diesem Durcheinanderchassiren halten sie ihre (Jewehre in einer ähnlichen
Position, wie unsere Soldaten beim Bajonetfechten.
Die Bewaffnung der Rif-Berber besteht, ausser der bekannten langen
Steinschlossflinte von arabischer Form, mit breitem Kolben, wie sie viel-
fach in Tetuan gef(»rtigt werden (Fig. 1), noch aus sogenannten Reiter-
pistolen, gleichfalls mit Feuersteinschlössern. Ausser diesen beiden, nicht
im Rif allein gebräuchlichen Schusswaffen haben die Ruäfa noch ein
langes DolchuK^aser mit gera<ler, sehr dünner und spitzer Klinge und
ein(»m eigenthümlich g(»formt(^n Griffe» in Gebrauch. Diese Waft'e, welche
eine Lange von 2 — 2.J Fuss hat, ist dem Rif ausschliesslich eigen und sie
wird nuch von den Arabern „ssebüla rif ia", „Rif- Dolch **, genannt (Fig. '2).
Ein sehr sond(Tbar(»s, dudelaackartig(»s Musikinstrument, „sammer**
(sammara, Flöte), zwei Hörner durch eine Tliierhaut verbunden, ist gleich-
falls dem Rif eigenthümlich (Fig. 3).
Die Rif-Berb(T sind in ihrer Heimath nicht ohne eine gt^wisse rohe
Industrie, wcdche zwar d(»r bei den Schlöli bestechenden, hoch entwickelten,
nicht entfernt nah(» kommt, andererseits aber die der „Breber" übertrifft.
Sie beschränkt sich vornehmlich auf die Fertiginig von groben Wollstoffen
Eintheflang und Verbreitiuig der Berberbevölkenmg in Marokko.
121
zu ihrer Bekloidunj^ und des einfachBten Ackerbau- und Hausgeräthes.
Im (lart fertigt man vortreffliche Mühlsteine. Die berühmten Teppiche,
«leren Herstellung man gewöhnlich den Beni Snassen zuschreibt, kommen
nicht von diesi^n, sondern von den Beni Bu-Segu. Die in Tanger lebenden
Kit-Leute gelten als geschickte Maurer. Die Rif-Berber sind keine Nomaden,
sondern sie sind sesshaft und leben demgemäss, mit Ausnahme einiger
weniger Kabilen im ilussersten Osten des Gebietes, auch nicht in Zelten,
sondern in zu kh^inen Dörfern vereinten Stein-
und Holzhäusern. Fischfang wird von ihnen
an der Küste viel getrieben, desgleichen
Bienenzucht in den niederen Gebirgen. Als
Straiulräuber waren die Ruäfa früher sehr
berüchtigt und sie w^ürden auch heute noch
kein Bedenken tragen, ein Schiff und die
Mannschaft desselben auszuplündern, welches
«las Unglück haben sollte, an ihrer Küste zu
s<'heitern. Aggressive Piraten in dem Maasse,
wie etwa die von Rabat und Sselä, sind sie
nie gewesen.
Thatsache ist, dass die Rif-Berber vielfach,
— entgegen der gerade in Marokko sonst so
sehr streng beobachteten mohammedanischen
Satzung, — das Fleisch vom wilden Schwein
«»äsen. Nach LEO AFRICANUS^) sollen sie (im
16. Jahrhundert) auch dem Weingenusse in
stark(»m Maasse gefröhnt haben. Dass aber,
wie» einzelne Reisende
behaupten, verschiedene
Tribus der Ruäfa die Be-
8chnei<lung nicht übten,
ist mir im Lande selbst
von allen Seiten bestritten
worden, sogar von Ara-
bern, die sonst jede Ge-
legenheit benutzen, um
denselben üebles nachzusagen.
Fig. 2.
1) A.a.O. S. i^. «Die Bewohner (des Rif) sind auch tapfere Leute; allein dem
Tninkf iinjr'^mpin pr^reben und schlocht gekleidet. Man findet ausser Ziegen und Eseln
wr*ni^'»* 'l'lii**rc: dnrh .Affen sind in grosser Menge vorhanden. Städte giebt es nur wenige;
die ('astrlb* und DörtVr bestehen aus elenden Häusern von einem Stockwerke, gleich den
Stulb*n in Kuropa. Die Dächer sind mit Stroh und schlechten Baumrinden gedeckt u. s. w."
Auch weitorhiu spricht Leo bei der Beschreibung verschiedener ^Berge" der ^Landschaft
Errif* — er versteht unter „Berg" immer das von einem Stamme bewohnt« Gebiet —
stets von dem Weinbau, der damals im Rlf getrieben wurde.
Z«it*clirift für Bthnologi«. Jahrg. 1888. 9
1 22 M. QUEDENPELDT :
Nach Mittheilungen, die TiSSOT und DUVEYKIER gemacht wurden,
deren Richtigkeit aber sehr zu bezweifeln ist, sollen sich in den
abgeschlossenen Thälern des Rif noch einzelne Koran -Exemplare, in alten
berberischen Lettern ^ ) geschrieben, vorfinden. Mir selbst wurde von glaub-
würdigen Schlöh erzählt, dass im Ssüss einzelne Exemplare des Koran in
Schilha (Sprache der Schlöh) übersetzt, aber mit arabischen Buchstaben
geschrieben, vorhanden seien. Es wäre das gleichfalls eine grosse Seltenheit.
Der Hauptgebirgsstock im Süden des Gebietes führt von dem histo-
rischen Berberstamme Ssenhadja seinen Namen und gliedert sich in zwei,
Ssenhadja-SsoAir und Ssenhadja -Rdradu genannte Ketten.
Die sonst charakteristische berberische Stammbezeichnung „Ait" -)
scheint bei den Ruäfa eigenthümlicher Weise gar nicht oder nur sehr spo-
radisch vorzukommen, vielmehr überall durch die arabischen Worte von
gleicher Bedeutung, „Beni" oder „Uled", ersetzt zu werden.
GREY Jackson«) schätzt die Bevölkerung des Rif, ganz willkürlich,
auf 200 000 Köpfe.
U. Mittlere Gruppe. Brßber.
Die Stämme, welche diese Gruppe bilden, bewohnen das Centrum von
Marokko, d. h., allgemein gesagt, das Gebiet, welches sich südlich der Städte
Miknäss (Miknässa) und Fäss bis an die östliche Hälfte des grossen Atlas
und über diesen hinaus bis zur Oase Tafilelt und zum oberen Draaflusse
erstreckt, und so, im Südosten und Süden, in das Gebiet der stark mit
nigritischen Elementen durchsetzten berberischen oder arabischen Bevölke-
rung übergeht. Im Nordwesten gehen einige Breber-Kabilen, die Geruän
und Semür-Schilh*), weit über Miknäss hinaus; sie occupiren das Gebiet
fast auf die halbe Entfernung zwischen dieser Stadt und den Küstenplätzen
Rabat und Sselä.
Im Norden wird das Gebiet, und zwar in der Reihenfolge von Westen
nach Osten, durch die arabisch redenden Kabilen der LHed Aissa ( Issa),
Schraga und üled Djemma, Uled el-TIadj, Hiaina und Gijäta begrenzt. Im
Osten dürfte etwa eine Linie, welche man sich von Tafilelt nach Norden über
Kssäbi-esch-Schürfa nach Tessa gezogen denkt, die Grenze beider Sprach-
gebiete bilden, indem östlich von dieser Linie „el-arbia", westlich der-
selben „el-berberia" gesprochen wird. Die üled el-Hadj, Uled Chaua,
Hauuära u. s. w. sind die benachbarten, arabisch sprechenden Tribus. Im
1) Die einzigen berberischen Schriftzeichen, die man gegenwärtig kennt, sind die bei
den Tuareg gebräuchlichen. Vergl. die Grammatiken dieser Sprache von Staniiopb-
Freebcan, Hanoteau u. 8. w.
2) Ait = Söhne, Nachkommen. Der Sing. = U.
3) A. a. 0. S. 26.
4) Correct müsste esheissen: Semür-Schlöh, wenn wir von der Mehrheit sprechen
(Schlöh - Plnr. von Schilh); doch sagen die Araber im Lande selbst Semür-Schilh, und
ich habe daher diese Bezeichnung beibehalten.
EintheiluDg nDd Verbmtang der Berberbevölkening in Marokko. 123
Südon stosson dio Breb<T mit den Schlöh zusammon, und zwar in
d<»r Richtunp; von Osten nach Westen mit den „Harätin" von Tafilelt und
Perkla, dann mit den ^Draua" von Mesfi;ita (Imsgitten). Im Südwesten,
zwischen Atlas und Anti- Atlas und in diesen Gebirgen, bilden die Ait
'Amr, die Ait Tigdi-Ãœschschen, die Ait Sineb im Distrikt Imnii die Grenze.
Im Westen, in der Richtung von Süden nach Norden, wird das Breber-
(lebiet zunächst nördlich vom Atlas von den Distrikten Denmät und Entifa
begrenzt, Distrikte mit Schlöh -Bevölkerung, welche der Regierung
(Machsin) unten^'orfen sind'). In dem an Kntifa und den hohen Atlas
grenzendtMi Sü(lw(»sfvvinkel des Gebietes wohn<m mehrere Stämme, z. B. die
Ait Madjin, di(» Ait b üulli u. s. w.. welche einen vom ^el-berberia" et^'as
abweichen<len Dial<»kt, einen Uebergang zum ^esch-schilha**, sprechen.
Von hier ab bihlen wieder arabisch redende Stamme die Grenze, zu-
nächst die den westlichen Theil des Distrikts von Tadla (Tedla) bewoh-
nend<»n: der östliche Theil des Tedla wird von einigen „el-berberia" spre-
chenden Stämmen occupirt. Die ersteren heissen: Beni Mussa, Beni 'Amir,
Beni Meskin (diese gehören zum Beled el- Machsin und wohnen am wei-
t<»sten westlich), Urdira, Beni Semür, Beni Chiran, Ssmahla (oder Ssmala).
Von Tetlla nördlich gr(»nzt ein kleiner Theil des Nordostens der Provinz esch-
Schauija) an das Breber-Gebiet, hieran schliesst sich das Gebiet der Kabila
Sair, und endlich im äussersten Nordwesten begrenzt das Land, welches die
1) Man mnss in dpm Territorium, welches wir als Sultanat Marokko bezeichnen, das
sogenannte „Beled el- Machsin** und das „Beled ess-Ssiba" unterscheiden. Das erstere ist
von Steuern zahlenden, der Regierung völlig unterworfenen Stämmen bewohnt; das «Beled-
ess-Ssiha" bewohnen unabhängige oder nur nominell unterworfene Stämme.
2) Diese grosse, vorzugsweise ebene und sehr fruchtbare Provinz ist von (meist noma-
disirenden^ Araberstämmen bewohnt. Es sind mir 16 derselben bekannt, welche wiederum
in zahlreiche Unterabtheilungen zerfallen. Die Zusammensetzung ist folgende: üled Bu-
Siri. Ulrd Ssaid, Mssamssa, Uled Ssidi Ben Daud, Uled Mhammed (lled Sireg, Uled Chaib,
el-rh»'lot. Uled *Amäma), Chesassra (Uled Bu-Bekr. IHed el- Assri, Brassiin, U16d Menissf),
el Aulad, Uled Bu-*Arif, Beni Iman, Msäb (Hamdaua, Beni Sketen, el Alf, Beni Brahim,
Menia. Djemu'a, Uled Ferss, Uled Ssendjedj), Uled Harris, Medakra, Uled Sian, Mediüna,
Sialda (Sia!da-rg-öaba und Sia!da-el-Lota). Snata. Der Distrikt von Schauija war früher
unter dem Namen «Temssna" oder ^Temessna" bekannt. Auf der vor etwa 30 Jahren
erschienenen englischen Karte von James Wyld und auf der von £. Kekou findet sich
diese Bezeichnung noch. Leo Apricanus (übersetzt von ]x)R.sbacii) giebt uns eine höchst
interi'ssant«' Schilderung der Schicksale dieser Provinz und ihrer Bewohner. Sie wurde
von Jussif Ben Taschfin verwüstet und die Bewohner fast sämmtlich getödt^t; unter dem
Sultan Jakub el-Manssur (f llVf*.») wurde, etwa 100 Jahre später, die heutige Provinz esch-
Schauija durch aus Tunesien dorthin verpflanzte Araberstämme aufs Neue bevölkert.
Spater sind, nach Leo. wieder Berber, Zeneter und Hauuära eingewandert, von denen
ein Uiberbleibsel die noch in Schauija wohnende Kabila «Snata* (vergL 8.110 Note 8)
ist. Ihu'h ist nur der Name ein altberberischer : die Sprache ist, wie die aller gegen-
wärtig in esch - S<hauija lebender Stämme, arabisch. Diese Wiedereinwanderung ber-
berischtT Kb'mcnt»'. die nur in ganz geringem Maasse stattgefunden haben kann
(denn Leo spricht auch nach dieser Periode immer nur von den „Arabern in Temessna")^
»teht also zu der von mir auf S. 105 gemachten Mittheilung über die Abstammung der
Nomadenbevölkerung der westmarokkanischen £benen in keinem Widersprach.
124 M. Quedemfeldt:
Beni Hassin bewohnen, das Gebiet der Breber. — Das Centrum von Marokko
ist, mit alleiniger Ausnahme seines südöstlichen Theiles, durchgehends
Gebirgsland, meist sehr hoch und rauh. Es umfasst einen der höchsten
Bergcomplexe der Atlaskette, den Djebel Aiaschi, und alle grossen Ströme
des Sultanats haben in ihm ihren Ursprung.
Dieses grosse, an Unzugänglichkeit dem Rif kaum nachstehende Gebiet
ist gleichwohl von einigen Reisenden durchkreuzt und auch, so gut dies
bei einer derartig schwierigen und gefahrvollen Reise angeht, erforscht
worden. Abgesehen von RENfi CAILLEß, dessen Beschreibungen von diesem
Theile seiner Reise sehr lückenhaft und dürftig erscheinen^), ist hierbei
in erster Linie unser berühmter Landsmann GERHARD ROHLPS, der Alt-
meister der deutschen Marokko-Erforschung, zu nennen. Seine im Jahre 1864
ausgeführte Durchquerung des Breber-Gebietes (von NNW. nach SSO.) wird,
verbunden mit den weiteren Erfolgen dieser Reise, für alle Zeiten eine
der grossartigsten Leistungen auf dem Gebiete der Explorationsreisen
bleiben 2). Es bedarf kaimi der Erwähnung, dass dergleichen Touren nur in
der Verkleidung als Muslem oder als einheimischer Jude ausführbar sind.
Während alle bisherigen Reisenden die erstere Form gewählt hatten, ist
in neuester Zeit der in dieser Arbeit bereits mehrfach erwähnte Vicomte
Charles de FOÃœCAÃœLD im Beied ess-Ssiba als marokkanischer Jude
verkleidet gereist und zwar mit überraschendem Erfolge. Die Leistungen
dieses französischen Officiers können von jedem Kenner marokkanischer
Verhältnisse gar nicht hoch genug anerkannt und bewundert werden.
FOUCAÃœLD hat, was wissenschaftliche Resultate anbelangt, alle
seine Vorgänger bei weitem übertroffen. Er hat im Laufe von
11 Monaten nicht nur fast 3000 km in nahezu gänzlich unbekannten
Landestheilen zurückgelegt, bei jedem Schritte von Gefahren umgeben,
sondern er hat dabei astronomische und meteorologische Beobachtungen,
Höhenbestimmungen, Pläne und Croquis der durchwanderten Gegenden
gemacht — und Alles in einer so enormen Anzahl (Höhenbestimmungen
z. B. einige Tausend), mit einer solchen Correctheit und Vorzüglichkeit in
der Ausführung, dass es kaum fassbar erscheint, wie Herr DE FOUCAULD
unter den obwaltenden Verhältnissen dies hat möglich machen können.
Selbstverständlich sind hier, wie überall, einzelne Irrthümer nicht aus-
geschlossen, weiche sich bei FOUCAÃœLC, diesem geographischen Reisenden
par excellence, wo sie sich finden, meist auf ethnologische Verhältnisse
1) Journal d'un voyage k Temboctou et ä Jenii6 etc., Paris 1830, Bd. III. — Cailliä
passirte im Somiper 1828 auf der Rückkehr von seinen mehrjährigen Reisen im westlichen
Ssudan Marokko in einer so traurigen Verfassung, krank, ermattet, von allen Mitteln ent-
blösst, dass hierin eine sehr triftige Erklärung für die Lücken und Mängel in seiner
Beschreibung liegt.
2) Reise durch Marokko, Uebersteigung des grossen Atlas, Exploration der Oasen
Ton Tafilet, Tnat und Tidikelt und Reise durch die grosse Wüste über Rhadames nach
Tripolis von Gbrbabd Rom:<F8, Bremen 18G8.
Eintheilang and Verbreihuig der Berberbeyölkening in Marokko. 125
beziohen. Bezüglich der Details, auf welche ich hier nicht näher eingehen
kann, sei auf das Studium des prilchtig ausgestatteten Werkes selbst ver-
wiesen, dessen Titel ich auf Seite 105 angegeben habe. H. DUVEYRIEE,
der berühmte Kenner der Tuareg, konnte in der Generalversammlung der
Pariser (Tr(»ogra])hi8chen Gesellschaft vom 24. April 1885 mit Recht sagen,
dass unserer geographischen Kenntniss von Marokko durch die Forschungen
FoUOAULD's eine vollständig neue Aera eröflPnet sei.
DE FOIK^AULD machte seine Reise. — und das hat wohl wesentlich
mit zu deren glücklicher Durchführung beigetragen, — in der Gesellschaft
des Rabbiners MARDOCHAI ABI SSERtlR (Ssejjir) aus Akka, bekannt in
wissenschaftlichen Kreisen durch seine, im Auftrage der Pariser Geogra-
phischen Gesellschaft unternommenen Reisen im westlichen Saharagebiete.
Der franzosische Reisende war in der Verkleidung als eingeborener Jude
in mancher Beziehung viel sicherer und weniger der Gefahr des Erkannt-
werdens ausgesetzt, als er es in der als Muslem gewesen wäre. Und selbst
im Falle einer Entdeckung würde der Zorn der Muslemin nicht so gross
gewesen sein, als wenn er in der Maske als ihresgleichen ihre heiligen
Orte betreten hätte, obgleich im Grossen und Ganzen der Hass der
Mohammedaner in Marokko stets mehr dem Fremden als dem Christen
gilt. Femer hatte DE FOUCAULD in der Abgeschlossenheit der Judenviertel
viel mehr Gelegenheit, unbeobachtet zu arbeiten, mit seinen Instrumenten
zu operiren, als es ihm in der steten Gesellschaft von Mohammedanern
möglich gewesen wäre.
Alle diese Vortheile hatte der Reisende vorher wohl erwogen, und
der Erfolg hat gezeigt, w(>lchen guten Griff er in der Wahl seiner Ver-
kleidung gethan. Andererseits gehört jedenfalls ein nicht geringer Gh-ad
von S<^lbstverleugnung und Selbstbeherrschung dazu, bei den zahlreichen
Verhöhnungen und Beschimpfungen, denen die Juden in diesen Ländern
täglit'h ausgesetzt sind, seiner Rolle treu zu bleiben, — eine harte Probe,
welcher sich der junge Officier gleichfalls vollauf gewachsen gezeigt hat.
Das zu Anfang dieses Jahres erfolgte Erscheinen des FoUGAULD'schen
Werkes * ) ist mir bei der vorliegenden Arbeit von grossem Nutzen gewesen.
I<*h war dadurch in den Stand gesetzt vieles bisher nirgends Publicirte
und auch mir selbst Neue in die hier versuchte Monographie der marok-
kanisclion Berber mit aufzunehmen. Ferner konnte ich manche meiner
schriftlich(»n Notizen, welche ich im Lande selbst von Eingeborenen gesam-
melt hatte, nach den FOUCAULD 'sehen , an Ort und Stelle gemachten
Beobachtungen berichtigen oder ergänzen. Hieraus erklären sich auch
manch** kleine Abweichungen in der Angabe des Textes von denen der
Karte; diese letztere war bereits fertig gestellt, als mir das Werk FüUCAÜLD's
1) In dem hier mehrfach citirten RsCLüS^schen Werke (1886) waren bereits ans dem
Manu Script Ton FouCAULD verschiedene, besonders interessante Mittheilungen publicirt.
126 M. QüEDEKFEtjyr:
knrz nach seinem Erscheinen zu Händen kam. Es sind daher stets die Mit-
theilungen des Textes maassgebend. Bei dieser Gelegenheit möchte ich
betonen, dass die beigegebene Karte nur eine ganz allgemeine Anschau-
ung von der Verbreitung der berberischen Bevölkerung in Marokko und
von den Gebietsthoilen, welche jede der einzelnen Gruppen bewohnt, geben
soll. Eine absolute Genauigkeit in den ethnologischen Details, — beispiels-
weise ganz zutreffende Angaben über die Lage und Grenzen der Terri-
torien einzelner Stamme, — kann aus mehrfachen Gründen nicht gegeben
und nicht erwartet werden. Abgesehen von dem Hauptgrunde: unserer
zur Zeit noch nicht erschöpfenden Kenntniss derselben, besonders deshalb
nicht, weil bei der hier in Rede stehenden Bevölkerung vielfach Gebiets-
verschiebungen vorkommen. Fast unausgesetzt giebt es Fehden benach-
barter Stämme; viele derselben sind Nomaden und suchen ihre Nachbarn
aus ergiebigen Weidegründen zu verdrängen. So hatten, nach ROHLFS*),
die Beni Mtir früher das Terrain inuo, welches jetzt die Beni Mgill
bewohnen. Die Ait Atta haben sich in ähnlicher Weise nach Süden bis
Ertib und Tafilelt hin, ja darüber hinaus, ausgebreitet und führen blutige
Kriege mit den zurückgedrängten Stämmen. In den wasserarmen Gegenden
sind meist Streitigkeiten um dieses belebende Element die Ursache end-
loser Kämpfe. —
Andererseits hat mir das Erscheinen des FoUCAULD'schen Werkes im
gegenwärtigen Momente die Priorität mancher Mittheilungen genommen,
die Resultate zuverlässiger Informationen und Beobachtungen, die sich von
meinen verschiedenen Reisen her in meinen Aufzeichnungen finden und
welche ich, als bisher noch nirgends veröffentlicht, in der vorliegenden
Arbeit zu verwerthen gedachte. In verschiedenen Fällen, wo meine eigenen
Informationen mit denen DE FOUCAÃœLD's in Widerspruch stehen, habe ich
die ersteren beibehalten, wenn ich der Ueberzeugung war, dass jeder Irr-
thum ausgeschlossen erschien, selbst da, wo es sich um Gegenden handelt,
die FOUCAÜLD selbst besucht hat. Es bezieht sich dies selbstverständlich
nur auf Mittheilungen ethnologischen Inhalts. Einige Bedenken habe
ich bezüglich der Zahlenangaben FOUC'AULD's über die Bevölkerung der
Dörfer (Kssor's) verschiedener von ihm bereister Distrikte, über die jüdische
Bevölkerung mancher Ortschaften u. s. w. Wenn man weiss, wie unend-
lich schwierig es ist, in einem Lande wie Marokko einigermaassen zu-
verlässige Zahlenangaben zu erhalten, — und dies im Boled el-Machsin, —
so kann man sich gewisser Zweifel an der Richtigkeit der von FOUCAULD
mit anscheinend so grosser Genauigkeit gegebenen Zahlen aus den der
Regierung nicht unterworfenen Landestheilen schwer erwehren. Eine
Statistik, gleich viel nach welcher Richtung, ist in Marokko absolut unbekannt.
Ausser CAILLlfi, ROHLFS und FOUCAULD hat sich in den Jahren
1880—1882 ein Deutscher, Namens JACOB SCHAÜDT, in dem uns hier
1) A. a. 0. 8. 31.
EinthciloDg nnd Verbreitung der Berberbevolkt'ning in Marokko. 127
interessiriMuIen Brober-Gobiete aufgehalten. SCHAUDT, wenn ich nicht
irre, Badenner, ein früherer Telegraphenbeamter, war aus Furcht vor der
Strafe filr eine von ihm an einem Unterofficier begangene thatliehe Belei-
digung aus deutschem Militärdienste desertirt. Er war nach Marokko
gekommen, hatte scheinbar den Islam angenommen, und nach verschie-
denen Irrfahrten in anderen Theilen des Sultanats hat er wahrend der
genannten Zeit vorwiegend die östlichen Partien des Breber- Gebietes
durchwandert, seinen Lebensunterhalt «lurch djis Anfertigten und Verkaufen
von zinnernen Fingerringen und Armspangen sich erwerbend. Um später
leichter reisen zu können, war SCHAUDT für einen Monat ins Kloster der
Derkaua in (Jaus in Mettiara otler Medajira, einc^m Distrikte am Uäd Sis,
gegang(Mi. Hi<»r lebt der eiuHussreiche Schech <ler Derkaua, Ssidi Moham-
med el-'Arbi, (dn hochbetagter Greis, der unter die fünf mächtigsten reli-
giösen Häupter des Landes zu zählen ist*). Durch den Aufenthalt in der
Sauia der Derkaua (»rwarb SCHAUDT das Recht, den grünen Turban zu
tragen. dc»r in Marokko nicht (»in Attribut der Schürfa oder Nachkommen
des Propheten, sondern ausschliesslich der Derkaua ist.
In Kssabi-esch- Schürfa hatte SCHAUDT, ein nicht ungebildeter Mensch
uml aUcm Anscheine nach ein scharfer Beobachter, das Unghick, bei einem
Ueberfalh» des Ortes durch die Ait Scherroschen seine geringe Habe nebst
tien Notizen, welche er sich im V<»rlaufe seiner Kreuz- und Querzüge über
Land und Leute gemacht hatte, zu V€»rlieren. Er hat aber dennoch, nach
Tanger zurückgekehrt, aus dem Gedächtnisse eine nicht uninteressante
kurze Schilderung seiner Erlebnisse niedergeschrieben, welche, durch Ver-
mittelung eines «leutschen Kaufmanns, Herrn EDUARD HÄS8NEK. und
unseres «lamaligen Ministerr(»sid(»nten in Tanger. Herrn Th. WebER, in
der Zeitschrift der (Jesellschaft für Erdkunde zu Berlin veröffentlicht worden
ist-). Durch Geldspenden des genannten Herrn HÄSSNER und des zu
1) Dio vier anderen sind: 1. Der Scrherif von Uasan oder Dar-demana, aus der Des-
zendenz von Mulai Kdriss (die Sc-hurfa von Uasan sind alle Schürfa Drissiin). Das ge^en-
wärtijre Haupt der Familie ist der bekannte Mulai *Abd-ess-Ssalani. 2. Der Scherif von
Tanie;,'rut 'l'ud Draa), Descendenz von Ssidi Mohammed Ben Nasser. Der jifegenwärtige
erste liepräsentant der Familie heisst Ssidi Mohannned-u-Bu-Bekr. 3. Der Scherif von
Bu-»d-Djad 'sprich Bejad), Tadla, aus der Familie der Scherkaua .Descendenz vom
Khalifen 'Omar Ben el (liattab). Das jü:egenwarti«,'e Haupt der Familie ist der hoch-
bi'tairfe S>idi B«n Daud Ben Ssidi el-'Arld. 4. Der Scherif von Ta^semalt. Nachkomme
des Merabid Ssidi Hammed- u-Miissa. Getrenwärtiffes Haupt der Familie ist einer der
Sölme des IS-^O v»T>torbenen Ssidi Hussein Ben Hasch<'m, Hadj Taher. — Der erwähnte
Ssidi Mohammed el-'Arld Derkaui ist Scherif aus der Famili«* der 'Alauin oder *Alauia
Descendenz vi>n Mulai 'Ali aus .Janbo in Arabien, ju:e>torben in Tafilelt), der u. a. auch
die jetzt in Marokko reperende Dynastie anjrehört.
2 Band IK 1>.^3. 4 — (i. Heft. — Trotz der vieb»n Män^'el der Arbeit, unter denen
am auirenfälli^rsten eine die einheimischen Bezeichnun«:en bis zur Unkenntlichkeit ent-
stellende Sclireibweise ist, hatte die damali{;e Redaction der Zeits<:hrift dennoch in An-
betracht des l'mstandes, dass jeder Beitrag zur Kenntuiss dieser noch so wenig durch-
forschten <iellit.•t^theile Von Nutzen sei, die Arbeit aufgenommen.
118 M. QUEDBNFELDT:
TiSSOT war, als er in der Nähe des Rif reiste, erstaunt, einem so starken
Procentsatze von Leuten mit vollständig nordischen Gesichtszügen unter
den Rif-Berbern zu begegnen. Hat man in ihnen, mit PaIDHERBE, die
mehr oder minder vermischten Nachkommen derer zu sehen, welche die
megalithischen Denkmäler der Gegend errichtet haben?
Was den Charakter der Ruäfa betrifft, so suchen die Araber wahre
Monstra an Schlechtigkeit aus ihnen zu machen, während Andere, z. B.
Spanier, welche sie vielfach in Dienst nehmen, sie im Durchschnitt für
ganz treue und zuverlässige TiCute erklären. Die Wahrheit mag wohl in
der Mitte liegen. Jedenfalls sind viele ihrer Eigenschaften, die wir von
unst^rem Standpunkte verdammen, das Resultat von Verhältnissen und
Anschauungen, in denen das Volk seit undenklicher Zeit lebt.
Innerhalb des Rif- Gebietes dürfen wohlhabende Araber ebenso wenig
reisen, wie Christen, wenn sie nicht (lefahr laufen wollen, ausgeplündert
oder ermordet zu werden, und selbst ein einmal zugesicherter Schutz
(anaia) soll bei den Rif-Berbern oftmals gebrochen werden. Der religiöse
Fanatismus 8])ielt dabei eine sehr geringe Rolle, — denn die Ruäfa sind
keine eifrigen Muslemin; — sondern mehr unbegrenzte Raublust und
Abneigimg gegen alles Fremde. Die Araber sagen: Traue einem Riß
niemals; bist du mit ihm auf dem Marsche, so lasse ihn, und sei er dein
eig(»ner Verwandter, stetö vorangehen, um nicht unversehens seiner Tücke
' zum Opfer zu fallen.
Die Behan<llung der Juden bei den Ruäfa ist eine sehr schlechte;
es sin<l in Folge dessen auch sehr wenige <lort, <lie meisten in Taferssit.
Die Rif- Berber sind, vielleicht in Folge ihrer oftmals bösen eigenen
Intention(»n, auch gegen Andere sehr misstrauisch. Sie gestatten z. B.
ni(*ma1s, dass Jemand bei der Besichtigung ihrer stets scharf geladenen
Feuerwaften mit dem Finger in die Nähe des Abzuges fasst, sehen es
überhaupt sehr ungern, wenn ein Fremder ihre Waffen in die Hand nimmt.
Der Grund ist lediglich der, dass sie fürchten, es könne der Betreftende
den Moment ihrer Wehrlosigkeit benutzen und die» Waffe gegen sie selbst
gebrauchen. Die ewigen Fehden und Kämpfe, nicht allein der verschie-
denen Kabilen, sondeni oftmals auch der einzelnen Familien untereinander,
hab(4i den Lc»ut(Mi dieses unbesiegbare Misstrauen gt^gen Alle und JcmIcu
eing(Mmpft. Von <len Ruäfa in Tanger haben, wie ich schon erwiihnte,
viele aus Furcht vor d(?r Blutrache ihre Heimatli verlassen, und sie leben
in der steten Furcht, dort von einem Mitglicule der feindlichen Partei auf-
gesucht und getödtet zu werden.
Als ich im Jahn? 1880 zum ersten Male in Tanger w^ar und diese
Verhältnisse noch nicht kannte, hätte ich beinahe Gelegenheit gehabt, sie
in sehr wenig angen(»hmer Weise» practisch zu (^proben. Ich ging eines
Tages ausserhalb fl(»r Stadt mit einem schweizer Maler, welcher mit mir
das gleiche Hotel bewohnt«», si)azieren. Wir begegneten eiuem Rifi. dessen
Kinthoiluri); und Verliroitun^r der Borborbovölkorung in Marokko. 1 19
frt»nniartio;e Krscheimin«;^, KleiJiinji; und Bewaftnun*; midi ung(»inoin inter-
eHsirteii. Wir nJiherttMi uns ihm, botiMi ihm Cigiirn^tten an und der Maler
sprach einij^(^ Worte in gebrochenem Arabisch mit ihm. Während dessen
streckte icli unwilikilrlich den Arm aus, wie um den Kolben einer der
grossen Steinsclilosspistolen, die er im Gürtel trug, zu ergreifen. Da
8|)rang der Mann mit einem so «lroh(»nden Ausdrucke zurück und legte
selbst <lie Hand an den KoHxmi 8ein<»r Waffe, dass ich ganz erstaunt war
und zu(»r8t gar nicht wusste, womit ich seinen Unwillen erregt hatte. Der
Schweizer, <ler schon ein halbes Jahr in Tanger lebte, klärte mich dann
(larüber auf.
Die Huafa z<Mchn(Mi sich durch l)t»8onden» Tracht und Bewaffnung
aus, welche von der tler bei<len anderen Cfruj)i)en verschieden ist, dagegen
der Tracht der Djebela stdir naht» stecht. Aus diesem Grun<le v(»r-
wechseln Fremde, welche nur wenige Tage oder Wochen in Tanger bleiben
un<l keint»n scharfen Blick für «lergleichen Unterschiede hab<Mi, diese beiden
Kategorien stets. D(»r Djibeli trägt b<»ispitdsweise mit Vorliebe das
rothtuchene, oft mit ein<T (foldl)orde besetzte Futteral seincT langen Stein-
Schlossflinte turbanartig um den Kopf gewunden, während der ächte Kif-
Berber stets barhäuptig geht und nur bei ungünstigtjr Witt^»nnig di(»
Kapuze seiner Djelläba*) über den Ko])f schlägt. Dieses Kleidungsstück,
ein weiter, sackartiger Ueberzieher mit weiten, kurzein Aermeln und nie
fehlender Kapuze, ist typisch für das nordatlantische Marokko. Es variirt
im Schnitt ni(», wohl aber in der Art und der Färbung des Stoftes, j<» nach
der Localität und i\on Mitteln s(»in(»8 Besitzers. Der feine Städter z. B.
trägt eine Djellal)a von theurem, aus Kuro])a importirtem, dunkelblauem
Tuche, währen<l der Kifi und der Djibeli meist (»infarbig braune oder graue,
schwarz od(»r braun g(»streift(» Djelläben. stdir stark und «lauerhaft aus
Wolle gewebt, trag(»n. Beid(» lieben es, mit bunt<'n Stickerei(Mi in Tuch,
oft auch in S(»ide, ihre Djelläben zu verzi<T(Mi.
Der Kifi trägt stets einen kleinen gt»flocht(Mien Zopf an d(T rechten
Seite des Hinterkopfes, während dvr Djil>eli dies nur in jüngeren .bihren
thut und s]>ät(»r, d(T allgemeinen muselmanischen Sitte folgend, sich <len
Kopf ganz rasirt.
Auch l)ei dem sogenannten Pulvers])iel, lab el-bärnd, haben tue Rif-
Berber andere (lewohnlieiten, als «lie arabisch redenden DJelx'da. Jn Tanger
kann man diest»n Brauch, der bei ll()chzeit<»n. Beschneidungen, religiösen
Festen gt»ül)t wird, fast täglich beobachten. Meist kommen die Leute
1) In man<hen Go^'ond«'n liö'rt man aurli du* Bozf^ichnunjr •Djollabia" für dieses
Kh'idunjrsstück. — Hor('it.> Leo African!*8 fa. a. O. S. 318) thut desselliiMi in seiner
Hfsrhff'ilmnjr der Lan<Urhaft «Kirif** mit den Worten Erwähnunj^; «Dit* Kinwolnier tragen
alle Wollrnsarktiicli, welches von der Art der H<'ttderk«*n, di»» man in Italien .si«*ht, ist
nn<l srliwar/.«* und weissi* Streifen hat. Sic haben Kapuzi'U daran, die sie über den Kopf
zielh'M. si> da-«:-* man sie houn ersten Anblirk «duT für Tliifr»*. wie für M^'U^dii'U lialten muss.'*
1 20 M. QUEDENFELDT :
bei solchen Gelegenheiten aus ihren Bergdörfern nach der Stadt, die Mehr-
zahl natürlich aus dem umliegenden Distrikte von Andjera, aber auch von
weiter her. Man versammelt sich an einer bestimmten Stelle, gewöhnlich
auf dem gi'ossen Ssok (Marktplatze) vor dem oberen Stadtthore. Jeder
Maini hat sein langes Gewehr bei sich, welches mit einer so starken Pulver-
ladung gespeist wird, dass man bei dem jedesmaligen Abfeuern glaubt,
einen Böllerschuss zu hören, und in Begleitung einiger Musikanten wird
in die Stadt gezogen, in einer Formation, für die wir den sehr bezeich-
nenden vulgären Ausdruck „Gänsemarsch" haben. Die Musik bildet den
Schlnss; sie besteht unweigerlich — in allen solchen Bräuchen sind die
Marokkaner in hohem Grade conservativ — aus zwei Instrumenten: einer
„geita" genannten Clarinette, welcher mit aufgeblasenen Backen die lau-
testen, quiekendsten und näselndsten Töne entlockt werden, und einer grossen,
schmucklosen Trommel oder eigentlich Pauke, „tebel" (tbäl), deren obere
Seite mit der rechten Hand mittelst eines hölzernen Paukenschlägels bear-
beitet wird, während die linke Hand, mit einem dünnen Stäbchen bewaffnet,
die Unterseite schlägt. In bestimmten Reprisen wird nun Halt gemacht, ein
Kreis formirt und es werden möglichst gleichzeitig die Gewehre, nachdem sie
vorher verschiedentlich balancirt worden sind, nach dem Boden zu ab-
gefeuert. So geschieht es bei den Djebela; die Buäfa hingegen stellen sich
nicht im Kreise, sondern in zwei Reihen, etwa wie wir beim Contro-
tanz, einander gegenüber auf, „chassiron" dann einige Mal durch-
einander, wobei sie ein eigenthümlich gellendes, trillerndes Geschrei aus-
stossen, ähnlich den bekannten Lauten der mohammedanischen Frauen bei
Freudt^n- oder Trauerbezeugungen, und feuern ihre Gewehre ab. Bei
diesem Durcheinanderchassiren halten sie ihre Gewehre in einer ähnlichen
Position, wie unsere Soldaten beim Bajonetfechten.
Die BewaflTnung der Rif- Berber besteht, ausser der bekannten langen
Steinschlossflinte von arabischer Form, mit breitem Kolben, wie sie viel-
fach in Tetuan gefertigt wenlen (Fig. 1), noch aus sogenannten Reiter-
pistolen, gleichfalls mit Feuersteinschlösseni. Ausser diesen beiden, nicht
im Rif allein gebräuchlichen Schusswaflfen haben die Ruäfa noch ein
langes Dolchmesser mit g(»rad(»r, sehr «lünner und spitzer Klinge un<l
einem eigcuithümlich geformten Griff'e in Gebrauch. Diese Wafl^e, welche
eine Länge von 2 — 2|Fus8 hat, ist <l(»m Rif ausschliesslich eigen und sie
wird auch von den Arabern „ssebiila rif ia", „Rif- Dolch '^, genannt (Fig. 'j).
p]in sehr sonderban^s, dudelsackartiges Musikinstrument, „samnier*'
(sammära, Flöte), zwei llörner durch eine Thierhaut verbunden, ist gleich-
falls dem Rif eigenthümlich (Fig. 3).
Die Rif-Berber sind in ihrer Heimath nicht ohne eine gewisse rohe
Industrie, welche zwar der bei den Schlöh best(dienden, hoch entwickelten,
nicht entfernt nalu» kommt, andererseits aber die der „Breber" übertriflTt.
Sie beschränkt sich vornehmlich auf die F<»rtigung von groben WoUstofl^en
Eintheilung und Verbreitang der Berberbevölkenmg in Marokko.
121
zu ihrer Bt^kloidun^ und des einfachsten Ackerbau- und Hausgeräthes.
Im (Jart fertigt man vortreffliche Mühlsteine. Die berühmten Teppiche,
«leren Her8t(41ung man gewöhnlich den Beni Snassen zuschreibt, kommen
nicht von diesen, sondern von den Beni Bu-Segü. Die in Tanger lebenden
Rif-Leute gelten als geschickte Maun»r. Die Rif-Berber sind keine Nomaden,
8on<h»ru sie sin^l sesshaft und leben demgemilss, mit Ausnahme einiger
weniger Kabilen im aussersten Osten des Gebietes, auch nicht in Zelten,
8on(h»rn in zu kleinen Dörfern vereinten Stein-
und Holzhäusern. Fischfang wird von ihnen
an der Küste viel getrieben, desgleichen
ßi(Uienzucht in den niederen Gebirgen. Als
Strandräub<»r waren die Ruäfa früher sehr
berüchtigt, und sie würden auch heute noch
kein ße<lenken tragen, ein SchiflF und die
Mannschaft desselben auszuplündern, welches
das Unglück haben sollte, an ihrer Küste zu
scheitern. Aggressive Piraten in dem Maasse,
wie etwa die von Rabat und Sselä, sind sie
nie gewesen.
Thatsache ist, dass die Rif-Berber vielfach,
— entgegen der gerade in Marokko sonst so
sehr streng beobachteten mohammedanischen
Satzung, — das Fleisch vom wilden Schwein
essen. Nach LEO AFRICANUS^) sollen sie (im
U). Jahrhund(^rt) auch dem Weingenusse in
stark(»m Maasse gefröhnt haben. Dass aber,
wie einzelne Reisende
behaupten, verschiedene
Tribus der Ruäfa die Be-
schneidung nicht übten,
ist mir im Lande selbst
von allen Seiten bestritten
word(»n, sogar von Ara-
bern, die sonst jede Ge-
legenheit benutzen, um
denselben Uebles nachzusagen.
Fig. 2.
1} A.a.O. S. 3()8. ,])ie Bewohner (des Rif) sind auch tapfere Lente; allein dem
TniTikr* iinfr^iiK'in «Theben und schlecht gekleidet. Man findet ausser Ziegen und Eseln
woni^'«' Thi^TC : dorli Affen sind in grosser Menge vorhanden. Städte giebt es nur wenige;
diH ('a>t«ll«' und l)örf«T b«'stehen aus elenden Häusern von einen) Stockwerke, gleich den
Stallen in Kur(>i>a. Die Diwher sind mit Stroh und schlechten Baumrinden gedeckt u. s. w.**
Auch weiterhin spricht Leo bei der Beschreibung verschiedener 3<?r&^" der ^Landschaft
Errif" — er verst«»ht unter ^Berg" immer das von einem Stamme bewohnte Gebiet —
stets von dem Weinbau, der damals im Rif getrieben wurde.
Z«iUcbrift für Bthnologie. Jahrg. 188S. 9
1 22 ^- QURDENPEIiDT :
Nach Mittheilungen, die TiSSOT und DUVEYKIER gemacht wurden,
deren Richtigkeit aber sehr zu bezweifeln ist, sollen sich in den
abgeschlossenen Thälern des Rif noch einzelne Koran -Exemplare, in alten
berberischen Lettern ^ ) geschrieben, vorfinden. Mir selbst wurde von glaub-
würdigen Schlöh erzählt, dass im Ssüss einzelne Exemplare des Koran in
Schilha (Sprache der Schlöh) übersetzt, aber mit arabischen Buchstaben
geschrieben, vorhanden seien. Es wäre das gleichfalls eine grosse Seltenheit.
Der Hauptgebirgsstock im Süden des Gebietes führt von dem histo-
rischen Berberstamme Ssenhadja seinen Namen und gliedert sich in zwei,
Ssenhadja-Ssejiir und Ssenhadja- Rdradu genannte Ketten.
Die sonst charakteristische berberische Stammbezeichnuug „Ait" -)
scheint bei den Ruäfa eigenthümlicher Weise gar nicht oder nur sehr spo-
radisch vorzukommen, vielmehr überall durch die arabischen Worte von
gleicher Bedeutung, „Beni" oder „Uled", ersetzt zu werden.
GREY Jackson*) schätzt die Bevölkerung des Rif, ganz willkürlich,
auf 200 000 Köpfe.
U. Mittlere Gruppe. Br^ber.
Die Stämme, welche diese Gruppe bilden, bewohnen das Centrum von
Marokko, d. h., allgemein gesagt, das Gebiet, welches sich südlich der Städte
Miknäss (Miknässa) und Fäss bis an die östliche Hälfte des grossen Atlas
und über diesen hinaus bis zur Oase Tafilelt und zum oberen üraaflusse
erstreckt, und so, im Südosten und Süden, in das Gebiet der stark mit
nigritischen Elementen durchsetzten berberischen oder arabischen Bevölke-
rung übergeht. Im Nordwesten gehen einige Brebor-Kabilen, die Geruän
und Semür-Schilh*), weit über Miknäss hinaus; sie oecupiren das Gebiet
fast auf die halbe Entfernung zwischen dieser Stadt und den Küstonplätzen
Rabat und Sselä.
Im Norden wird das Gebiet, und zwar in der Reihenfolge von Westen
nach Osten, durch die arabisch redenden Kabilen der Uled Aissa (Issa),
Schraga und üled Djemma, Uled ol-Hadj, Hiaina und Gijäta begrenzt. Im
Osten dürfte etwa eine Linie, welche man sich von Tafilelt nach Norden über
Kssäbi-esch-Schürfa nach Tessa gezogen denkt, die Grenze beider Sprach-
gebiete bilden, indem östlich von dieser Linie „el-arbia", westlich der-
selben „el-berberia" gesprochen wird. Die Uled el-Hadj, Uled Ghana,
Hauuära u. s. w. sind die benachbarten, arabisch sprechenden Tribus. Im
1) Die einzigen berberischen Schriftzeichen, die man gegenwärtig kennt sind die bei
den Tuareg gebräuchlichen. Vergl. die Grammatiken dieser Sprache von Stanhope-
Freeman, Hanoteau u. 8. w.
2) Alt = Söhne, Nachkommen. Der Sing. = U.
3) A. a. 0. S. 26.
4) Correct müsste esheissen: Semür-Schlöh, wenn wir von der Mehrheit sprechen
(Schlöh - PluT. von Schilh); doch sagen die Araber im Lande selbst Semür-Schilh, und
ich habe daher diese Bezeichnung beibehalten.
EintheiluDg nnd VerbreitQDg der BerberbeTolkerung in Marokko. 123
Süden stossen die Breber mit den Rchlöh zusammen, und zwar in
der Richtung von Osten nach Westen mit den „Haratin" von Tafilelt und
F'erkla, dann mit <l(»n „Draua" von Mesj^ita (Imsj^itten). Im Südwesten,
zwischen Athis und Anti- Atlas und in diesen CJebirgen, bilden die Ait
'Amr, <lie Ait Tigdi-Uschschen, die Ait Sineb im Distrikt Imini die Grenze.
Im Westen, in der Kichtung von Süden nach Norden, wird das Breber-
(lebiet zunächst ni^rdlich vom Atlas von den Distrikten Denmät und Entifa
begrenzt. Distrikte mit Schlöh- Bevölkerung, welche der Regierung
(Machsin) unterworfen sind'). In dem an Kntifa und <len hohen Atlas
grenzenden Südwesfwinkel des Gebietes wohnen mehrere Stämme, z. B. die
Ait Madjin, die Ait b UuUi u. s. w.. welche einen vom „el-berberia" etwas
abw(»ichenden l)ial(»kt, einen Uebergang zum ^esch-schilha**, sprechen.
Von hier ab bilden wieder arabisch redende Stamme die Grenze, zu-
nächst ilie den westlichen Tlieil des Distrikts von Tadla (Tedia) bewoh-
nend<»n; der östliche Th<dl des Tedla wird von einigen „el-berberia" spre-
chend<»n Strimm(»n occupirt. Die ersteren heissen : Beni Müssa, Beni 'Amir,
Beni M<»skin (diese g(»hören zum Beled el-Machsin und wohnen am wei-
t<»sten wt»stlich), Urdira. Beni Semür, Beni Chiran, Ssmahla (oder Ssmala).
Von T<»dla nördlich grenzt ein kleiner Theil des Nordostens der Provinz esch-
Schauija) an das Breber-G(»biet, hieran schliesst sich das Gebiet der Kabila
Sair, und endlich im äussersten Nordwesten begrenzt das Land, welches die
1) Man muss in df^m Territorium, welches wir als Sultanat Marokko bezeichnen, das
sojjenannte «Boled el-Machsin** und das -Beled ess-Ssiba** unterscheiden. Das erstere ist
von Stt'uem zahlenden, der Repfierung völlig unterworfenen Stämmen bewohnt; das ^Beled-
ess-Ssiba" bewohn<*n unabhän^^e oder nur nominell unterworfene Stämme.
2) Diese grosse, vorzugsweise ebene und sehr fruchtbare Provinz ist von (meist noma-
disirenden) Araberstämmeu bewohnt. Es sind mir IB derselben bekannt, welche wiederum
in zahlreiche Unterabtheilungen zerfallen. Die Zusammensetzung ist folgende: Uled Bu-
Siri, nr-d Ss'aid, Mssamssa. Uled Ss'idi Ben Daud, lled Mhammed (llt'd Sireg, Uled Chaib,
el-rbelnt. Uled *Amäma), ('hesassra (Uled Bu-Bekr. Uled el- Assri, Brassiin. Uled Menissf),
el .'Vulad, Uled Bu-'Arif. Beni Iman, Msäb (Hamdaua, Beni Sketen, el Alf. Beni Brahim,
Menia, Djemu'a. Uled Ferss, Uled Ssendjedj), Uled Harris, Medakra, Uled Sian, Mediüna,
Siania (SiaTda-rg-(jaba und Siaida-el-Lota), Snäta. Der Distrikt von Schanija war früher
unter dem Namen «Temssna** oder ^Temessna" liekannt. Auf der vor etwa 30 Jahren
erscbi«>nen*'n englischen Karte von James AVyld und auf der von £. Kkkou findet sich
di«*se M»^zeicbnung noch. Leo Apricanus (übersetzt von Ix)RSI}ACh) giebt uns eine höchst
iuteri'ssanto Schilderung der Schicksale dieser Provinz und ihrer Bewohner. Sie wurde
von Jussif Ben Taschfin verwüstet und die Bewohner fast sämmtlich getödtet; unter dem
Sultan Jakub ol-Manssur (f lllJ'.O wurde, etwa 100 Jahre später, die heutige Provinz esch-
Srhauija dnnh aus Tunesien dorthin verj)flanzte Araberstämme aufs Neue bevölkert.
Spator sind, nach Leo. wieder Berber. Zeneter und Hauuära eingewandert, vrm denen
Hn U»bcrbleib>el die noch in Schanija wohnende Kabila «Snäta" (vergL S. 110 Note 8)
ist. Doch ist nur der Name ein altberberischer : die Sprache ist, wie die aller gegen-
wärtig' in »'sch- Schanija lebender Stämme, arabisch. Diese Wiedereinwanderung ber-
berix'hcr Eb-nunto. die nur in ganz geringem Maasse stattgefunden haben kann
(denn \.KO sj»richt auch nach dieser Periode immer nur von den „Arabern in Temessna*')^
»teht also zu der von mir auf S. 105 gemachten Mittheilung über die Abstammung der
Nomadenl)evölkerung der westmarokkanischen Ebenen in keinem Widerspruch.
9*
124 M. Quedemfeldt:
Beni Hassin bewohnen, das Gebiet der Breber. — Das Centrum von Marokko
ist, mit alleiniger Ausnahme seines südöstlichen Theiles, durchgehends
Gebirgsland, meist sehr hoch und rauh. Es umfasst einen der höchsten
Bergcomplexe der Atlaskette, den Djebel Aiaschi, und alle grossen Ströme
des Sultanats haben in ihm ihren Ursprung.
Dieses grosse, an Unzugänglichkeit dem Rif kaum nachstehende Gebiet
ist gleichwohl von einigen Keisenden durchkreuzt und auch, so gut dies
bei einer derartig schwierigen und gefahrvollen Reise angeht, erforscht
worden. Abgesehen von Ren6 CAILLEß, dessen Beschreibungen von diesem
Theile seiner Reise sehr lückenhaft und dürftig erscheinen^), ist hierbei
in erster Linie unser berühmter Landsmann GERHARD ROHLPS, der Alt-
meister der deutschen Marokko-Erforschung, zu nennen. Seine im Jahre 1864
ausgeführte Durchquerung des Breber-Gebietes (von NNW. nach SSO.) wir<l,
verbunden mit den weiteren Erfolgen dieser Reise, für alle Zeiten eine
der grossartigsten Leistungen auf dem Gebiete der Explorationsreisen
bleiben 2). Es bedarf kaum der Erwähnung, dass dergleichen Touren nur in
der Verkleidung als Muslem oder als einheimischer Jude ausführbar sind.
Während alle bisherigen Reisenden die erstere Form gewählt hatten, ist
in neuester Zeit der in dieser Arbeit bereits mehrfach erwähnte Vicomte
Charles de FOUCAÃœLD im Beled ess-Ssiba als marokkanischer Jude
verkleidet gereist und zwar mit überraschendem Erfolge. Die Leistungen
dieses französischen Officiers können von jedem Kenner marokkanischer
Verhältnisse gar nicht hoch genug anerkannt und bewundert werden.
FOUCAULD hat, was wissenschaftliche Resultate anbelangt, alle
seine Vorgänger bei weitem übertroffen. Er hat im Laufe von
11 Monaten nicht nur fast 3000 km in nahezu gänzlich unbekannten
Landestheilen zurückgelegt, bei jedem Schritte von Gefahren umgeben,
sondern er hat dabei astronomische und meteorologische Beobachtmigen,
Höhenbestimmungen, Pläne und Croquis der durchwanderten Geg(»nden
gemacht — und Alles in einer so enormen Anzahl (Höhenbestimmungon
z. B. einige Tausend), mit einer solchen Correctheit und Vorzüglichkeit in
der Ausführung, dass es kaum fassbar erscheint, wie Herr DE FoUCAULD
unter den obwaltenden Verhältnissen dies hat möglich machen können.
Selbstverständlich sind hier, wie überall, einzelne Irrthümer nicht aus-
geschlossen, w^oiche sich bei FOUCAULI?, diesem geographischen Reisenden
par excellence, wo sie sich finden, meist auf ethnologische Verhältnisse
1) Journal d'un Toyage ä Tcmboctou et k Jenn^ etc., Paris 1830, Bd. III. — CxiLLife
passirte im Somiper 1828 auf der Rückkehr von seinen mehrjährigen Reisen im westlichen
Ssudän Marokko in einer so traurigen Verfassung, krank, ermattet, von allen Mitteln ent-
blösst, dass hierin eine sehr triftige Erklärung für die Lücken und Mängel in seiner
Beschreibung liegt.
2) Reise durch Marokko, Uebersteignng des grossen Atlas, Exploration der Oasen
Ton Tafilet, Tnat und Tidikelt und Reise durch die grosse Wüste über Rhadames nach
Tripolis von Gerhabd Rom:<F8, Bremen 18G8.
Ointheilnng nnd Verbreitung der Berberbevölkerung in Marokko. 125
beziehen. Bezüglich der Details, auf welche ich hier nicht näher eingehen
kann, sei auf das Studium des prächtig ausgestatteten Werkes selbst ver-
wiesen, dessen Titel ich auf Seite 105 angegeben habe. H. DUVEYRIEE,
der berühmte Kenner der Tuareg, konnte in der Generalversammlung der
Pariser Geographischen Gesellschaft vom 24. April 1885 mit Recht sagen,
dass unserer geographischen Kenntniss von Marokko durch die Forschungen
FOUCAULD's eine vollständig neue Aera eröffnet sei.
DE FOUCAÜLD machte seine Reise, — und das hat wohl wesentlich
mit zu deren glücklicher Durchführung beigetragen, — in der Gesellschaft
<les Rabbiners MaRDOCHAI ABI SseRÃœR (Ssepir) aus Akka, bekannt in
wissenschaftlichen Kreisen durch seine, im Auftrage der Pariser Geogra-
phischen Gesellschaft unternommenen Reisen im westlichen Saharagebiete.
Der französische Reisende war in der Verkleidung als eingeborener Jude
in mancher Beziehung viel sicherer und weniger der Gefahr des Erkannt-
werdens ausgesetzt, als er es in der als Muslem gewesen wäre, und selbst
im Falle einer Entdeckung würde der Zorn der Muslemin nicht so gross
gewesen sein, als wenn er in der Maske als ihresgleichen ihre heiligen
Orte betreten hätte, obgleich im Grossen und Ganzen der Hass der
Mohammedaner in Marokko stets mehr dem Fremden als dem Christen
gilt. Ferner hatte DE FouCAüLD in der Abgeschlossenheit der Judenviertel
viel mehr Gelegenheit, unbeobachtet zu arbeiten, mit seinen Instrumenten
zu operireu, als es ihm in der steten Gesellschaft von Mohammedanern
möglich gewesen wäre.
Alle diese Vortheile hatte der Reisende vorher wohl erwogen, und
der Erfolg hat gezeigt, welchen guten Griff er in der Wahl seiner Ver-
kleidung gethan. Andererseits gehört jedenfalls ein nicht geringer Gh-ad
von Selbstverleugnung und Selbstbeherrschung dazu, bei den zahlreichen
Verhöhnungen und Beschimpfungen, denen die Juden in diesen Ländern
täglich ausgesetzt sind, seiner Rolle treu zu bleiben, — eine harte Probe,
welcher sich der junge Officier gleichfalls vollauf gewachsen gezeigt hat.
Das zu Anfang dieses Jahres erfolgte Erscheinen des FOUCAULD''schen
Werkes *) ist mir bei der vorliegenden Arbeit von grossem Nutzen gewesen.
Ich war dadurch in den Stand gesetzt vieles bisher nirgends Publicirte
und auch mir selbst Neue in die hier versuchte Monographie der marok-
kaui8('h(»n Berber mit aufzunehmen. Ferner konnte ich manche meiner
schriftlichen Notizen, welche ich im Lande selbst von Eingeborenen gesam-
melt liatte, nach den FOÃœCAULD 'sehen, an Ort und Stelle gemachten
Beobachtungen berichtigen oder ergänzen. Hieraus erklären sich auch
manche* kleine Abweichungen in der Angabe des Textes von denen der
Karte: diese letztere war bereits fertig gestellt, als mir das Werk FüüCAULD's
1) In dem hier mehrfach citirten RsCLUS^schen Werke (1886) waren bereits aas dem
Manuscript von Foucauld yerschiedene, besonders interessante Mittheilungen publicirt.
126 M. Quedekfeldt:
kürz nach seinem Erscheinen zu Händen kam. Es sind daher stets die Mit-
theilungen des Textes maassgebend. Bei dieser Gelegenheit möchte ich
betonen, dass die beigegebene Karte nur eine ganz allgemeine Anschau-
ung von der Verbreitung der berberischen Bevölkerung in Marokko und
von den Gebietstheilen, welche jede der einzelnen Gruppen bewohnt, geben
soll. Eine absolute Genauigkeit in den ethnologischen Details, — beispiels-
weise ganz zutreffende Angaben über die Lage und Grenzen der Terri-
torien einzelner Stämme, — kann aus mehrfachen Gründen nicht gegeben
und nicht erwartet werden. Abgesehen von dem Hauptgrunde: unserer
zur Zeit noch nicht erschöpfenden Kenntniss derselben, besonders deshalb
nicht, weil bei der hier in Rede stehenden Bevölkenmg vielfach Gebiets-
verschiebungen vorkommen. Fast unausgesetzt giebt es Fehden benach-
barter Stämme; viele derselben sind Nomaden und suchen ihre Nachbarn
aus ergiebigen Weidegründen zu verdrängen. So hatten, nach ROHLFS^),
die Beni Mtir früher das Terrain inne, welches jetzt die Beni Mgill
bewohnen. Die Ait Atta haben sich in ähnlicher Weise nach Süden bis
Ertib und Tafilelt hin, ja darüber hinaus, ausgebreitet und führen blutige
Kriege mit den zurückgedrängten Stämmen. In den wasserarmen Gegenden
sind meist Streitigkeiten um dieses belebende Element die Ursache end-
loser Kämpfe. —
Andererseits hat mir das Erscheinen des FOÃœCAULD'schen Werkes im
gegenwärtigen Momente die Priorität mancher Mittheilungen genommen,
die Resultate zuverlässiger Informationen und Beobachtungen, die sich von
meinen verschiedenen Reisen her in meinen Aufzeichnungen finden und
welche ich, als bisher noch nirgends veröffentlicht, in der vorliegenden
Arbeit zu verwerthen gedachte. In verschiedenen Fällen, wo meine eigenen
Informationen mit denen DE FoUCAÃœLD's in Widerspruch stehen, habe ich
die ersteren beibehalten, wenn ich der Ueberzeugung war, dass jeder Irr-
thum ausgeschlossen erschien, selbst da, wo es sich um Gegenden handelt,
die FOUCAÜLD selbst besucht hat. Es bezieht sich dies selbstverständlich
nur auf Mittheilungen ethnologischen Inhalts. Einige Bedenken habe
ich bezüglich der Zahlenangaben FOÜCAULD's über die Bevölkerung der
Dörfer (Kssor's) verschiedener von ihm bereister Distrikte, über die jüdische
Bevölkerung mancher Ortschaften u. s. w. Wenn man weiss, wie unend-
lich schwierig es ist, in einem Lande wie Marokko einigermaassen zu-
verlässige Zahlenangaben zu erhalten, — und dies im Beled el-Machsin, —
so kann man sich gewisser Zweifel an der Richtigkeit der von FOUCAULD
mit anscheinend so grosser Genauigkeit gegebenen Zahlen aus den der
Regierung nicht unterworfenen Landestheilen schwer erwehren. Eine
Statistik, gleich viel nach welcher Richtung, ist in Marokko absolut unbekainit.
Ausser CaiLLIE, ROHLFS und FOUCAULD hat sich in den Jahren
1880 — 1882 ein Deutscher, Namens JACOB SCHAUDT, in dem uns hier
1) A. a. 0. S. 31.
Eintheilung and Verbreitung der Berbcrbevölkerung in Marokko. 127
interessircnden Brober- Gebiete aufgehalten. SCHAUDT, wenn ich nicht
irre, Bad(»n8(?r, ein früherer Tel<»gra])henbeamter, war aus Furcht vor der
Strafe für eine von ihm an eintmi Unterofficier begangene thätliche Belei-
digung aus deutschem Militärdienste desertirt. Er war nach Marokko
gekommen, hatte scheinbar den Islam angenommen, und nach verschie-
denen Irrfahrten in anderen Theilen des Sultanats hat er während der
genannten Zeit vorwiegend die östlichen Partien des Breber- Gebietes
durchwandert, seinen Lebensunterhalt durch das Anfertigen und Verkaufen
von zinnernen Fingerringen und Armspangen sich erwerbend. Um später
leicht(»r reisten zu können, war SCHATDT für einen Monat ins Klostor der
Derkaua in (iaus in MetOrara oder Meda^xra, einem Distrikte am Uad Sis,
gegangen. Hier lebt der einflussreiche Schech der Derkaua, Ssidi Moham-
med el- Arbi, ein hochb(»tagter Greis, der unter die fünf mächtigsten reli-
giösen Häupter des Landes zu zählen ist^). Durch den Aufenthalt in der
Sauia der Derkaua (»rwarb SCJHAUDT das Recht, den grünen Turban zu
tragen, i\rv in Marokko nicht ein Attribut der Schürfa oder Nachkommen
des Propheten, sondern ausschliesslich der Derkaua ist.
In Kssäbi-esch-Schürfa hatte SCHAUDT, ein nicht ungebildeter Mensch
und aUom Anscheine nach ein scharfer Beobachter, das Unglück, bei einem
Ueberfalh? des Ort(»s durch die Ait Scherroschen seine g(»ringe Habe nebst
den Notizen, welche er sich im V(»rlaufe seiner Kreuz- und Querzüge über
Land und Leute gemacht hatte, zu verlieren. Er hat aber dennoch, nach
Tanger zurückgekehrt, aus dem Gedächtnisse eine nicht uninteressante
kurze Schilderung seiner Erh?bniss(? niedergeschrieben, welche, durch Ver-
mittelung eines deutschen Kaufmanns, Herrn EdUAKD HÄSSNEK, und
unseres damaligen Ministerresidenten in Tanger, Herrn Th. WebeR, in
der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin veröif entlicht worden
ist-). Durch Geldspenden des genannten Hf^rn HÄSSNER und des zu
1) Dio vier anderen sind: 1. Der Scherif von Uasän <»der l)ar-demäna, aus der Des-
cpndenz von Mulai K<lriss (die Schurfa von Uasan sind alle Schürfa Drissiin). Das gej^en-
wärti^^e Haupt der Familie ist der >»ekannte Mulai 'Abd-ess-Ssalani. 2. Der Scherif von
Tanu*j:nit Uad Draa), Descendenz von Ssidi Mohaniined Ben Nasser. Der ^gegenwärtige
erste Repräsentant der Familie heisst Ssidi Mohammed -u-Bu-Bekr. 3. Der Scherif von
Bu-el-J)jad (sprich Bejad), Tadla, aus der Familie der Scherkaua ij)escendenz vom
Klialifeii 'Omar Ben el ('hattab). Das gegenwärtige Haupt der Familie ist der hoch-
lietagte S>idi Ben l)aud B<*n Ssidi el-'Ar!)i. 4. Der Scherif von Ta^serualt, Nachkomme
des Merald«! Ssidi Hammed- u-Müssa. Gegenwärtiges Haupt der Familie ist einer der
Söhne ih':> 18^^<> verstorbenen Ssidi Hussein Ben Haschern, Hadj Taher. — Der erwähnte
Ssi«li Mohammed el-'Arhi Derkaui ist Scherif aus der Familie der 'Aläuin oder *AlauTa
Descendenz von Mulai 'Ali aus Janho in Arabien, gestorben in Tafilelt), der u. a. auch
die jetzt in Marokko regierende Dynastie angehört.
2 Band IK l.'-Ki. 4 — (>. Heft — Trotz der vielen Mängel der Arbeit, unter denen
am au;;enfälligsten eine die einheimischen Bezeichnungen bis zur Unkenntlichkeit ent-
stellende Schreibweise ist, hatte die damalige Redaction der Zeitschrift dennoch in An-
betracht des Umstandes, dass jeder Beitrag zur Kenntniss dieser noch so wenig durch-
forschten Gebict^theile von Nutzen sei, die Arbeit aufgenommen.
128 M. QUEDJENF^LDT:
jener Zeit in Tanger anwe8enden Herrn F. KRUPP in Essen unterstützt,
brach SCHAUDT im Frühjahr 1883 zu einer neuen Reise auf, vornehmlich
mit der Absicht, in den noch unerforschten Gebirgen des Landes Gestein-
und Erzproben zu sammeln. Auf dieser Reise ist er verschollen; man hat
seither nie wieder etwas von ihm gehört.
Schliesslich verdanke ich meinem verehrten Freunde Frhm. MAX VON
Oppenheim aus Cöln, Mitglied unserer Gesellschaft, einige interessante
Mittheilungen über die Positionen einzelner Stämme. So hat u. a. dieser
Reisende auf einer „Djebel Behalil" („Bu-Hellül" oder „-Hellöl") genannten
Bergkette zwischen Fäss und Ssefrü einen von den Ait Scherroschen
erbauten Tschar (Häuserdorf) gleichen Namens, wie der Berg, angetroffen —
ein Zeichen, dass dieser jetzt weiter östlich wohnende Stamm früher bis
hierher seine Wohnsitze erstreckte 0- —
Ich schliesse hieran eine Aufzählung der Breber- Stämme und deren
hauptsächlichsten Fractionen, so weit mir die letzteren bekannt geworden
sind. In einem der folgenden Hefte dieser Zeitschrift denke ich Mit-
theilungen über Typus, Sitten, Bräuche u. s. w. der Breber zu machen, die
Schlöh (Gruppe 3) eingehend zu besprechen uud im Anschlüsse hieran das
geringe, mir zur Verfügung stehende vergleichende linguistische Material
zu geben.
A. Stämme im westlichen Theile des Gebietes, in der ungefähren
Reihenfolge von Norden nach Süden.
1. Nördlich vom Atlasgebirge.
Geruän. Eine Fraction dieser Kabila, die Ait Imur, wurde von einem
der früheren Sultane zwangsweise in der Nähe von Marrakesch (Stadt
Marokko) angesiedelt. Vergl. die Karte.
Semür-Schilh. Eine Fraction derselben bilden die Ait ilakim. Wie
die Geruän nominell der Regierung unterworfen.
Saian. Zerfallen in vier Fractionen: Beni Hessussen, Ait el Harka,
Hebbaren, Ait ess-Ssidi *Ali-u-Brahim. Die Saian bilden eine der mäch-
tigsten Vereinigungen, sie sollen 18 000 Krieger (Berittene) stellen können.
Akebab, eine kleine, wenig bekannte Kabila.
Ketaia und Ait Rbli. Zwei Breber- Stämme im östlichen Tadla, die
viel mit arabischen Elementen gemischt sind. Es ist bei den Stämmen
von Tadla, welche alle stark von arabischen Einflüssen iuficirt sind,
1) Herr von Oppenheim hat 18bG, nach voraufgegangenen Touren in Algerien und
Tunis, eine mehrmonatliche Reise im nördlichen Marokko auf theilweise wenig von Euro-
päern betretenen Pfaden gemacht, u. a. den kleinen Ort Ssefrü, eine Tagereise südlich
von F&88, besucht, die Route von Miknäss nach Rabat auf dem gleichen Wege, wie seiner
Zeit Dr. 0. Lenz, zurückgelegt und die Reise von Rabat nach Tetuau auf einem ziemlich
directen Wege, d. h. ohne Tanger zu berühren, gemacht. In gleicher Weise hat Herr
VON Oppenheim auch die direkte Route von Uasan nach Fäss gemacht. Icli traf mit
ihm in Rabat zusammen.
Eintheilong und Yerbreitang der Berberbeyölkening in Marokko. 129
noch 8C'hwierig(»r, als anderswo, die Rassen genau auseinander zu halten.
Ich hahe die beiden genannten Kabilen aus sprachlichen Gründen zu
den Brebern gestellt, allenfalls würden dahin noch die Beni Somur
gehören, von denen einzelne Fractionen ^el-berberia*' sprechen, während
andere, gleich d(»n nuM'sten Stämmen, die das Tadlagebi(»t bewohnen, ara-
bisch sprechen. Die Ketaia zerfallen in folgende Fractionen: Ssemgei,
Ait*Ala, Ait Hrahim, Ait Kerkait; die Ait llbä in üled Said, Uled Jussif,
Suair, Beni Millal.
Ischkern. Diese Ka]>ila kann c^twa 8()00 Reiter ins Feld stellen.
Ait Sseri. Z(»rfallen in acht Han])tfractionen : Ait Uirra, Ait Mham-
med, Ait 'Abd el-Uali, Friata, Ait el-IIabibi, Ait Maha, Ait *Abd en-Nür,
Ait 'Said. Der Stiunm besitzt wenig Pferde, doch stellt er zahlreiche
Krieger zu Fuss.
Ait Atta Umalu. Der kleine .Stamm kann etwa 800 Krieger zu Fuss
und 150 Reiter stellen. Der berberische Name „Umalu", eine Genitivform,
bedeut(»t: Die Ait Atta, welche im Schatten wohnen, d. h. auf der Nord-
seite des (Atlas-) Gebirges.
Ait Bu-Sid. Gleichfalls ein kleinerer St^imm, der ungefähr 1000
Krieger zu Fuss und 3(K) Reiter aufbringen kann.
Ait ' Aiad. Kleiner Stamm mit etwa KXK) Kriegern, worunter 100 Reiter.
Ait'Atab. Können etwa 1500 Bewaifnete aufbringen, unter ihnen
300 Reiter.
Ait Messat. Eine grosse Tribus, die gegen 4500 Krieger aufstollen
kann, worunter 500 Reiter. Sie theilt sich in fünf Fractionen: Ait Ishak,
Ait Mohammed, Ait Ugudid, Ait Abd -Allah, Ibara^en.
Ait Madjin (Masen bei FoUCAULD).
Ait b Uulli. Diese Schreibweise des Wortes ^) dürfte der auf der Karte
angegebenen arabisirten vorzuziehen sein'-*).
2. Südlich vom Atlasgebirge.
Imeiran. Ein grosser, unabhängiger Stamm, welcher gegen 3500
Bewaffnete stellen kann.
Askiirn (Ilaskura. Skura). Eine starke Tribus mit über 200 Kssor s.
Ait Ssedrat. I)ieselb(»n theilen sich in zwei Hauptfractionen : Ait Suli
und Ait Mehelli, d(»ren jede etwa 2000 Krieger ins Feld stellen kann.
Die Ait Ssedn'it hd)en, ausser in ihrem eigenen Distrikte, auch verstreut
am oberen Draa und am Uad Dadcs.
1, Borliorischc Geuitivforin, ^rebildot durch Voraiisetzung der Präposition h vor das
abhänjpgi? Suhstantivuin. Vergl. Hanoteau, (Iraniinaire Kabyle. S. 38.
"J. Id <l»^in bfiiachbartfii Distrikte von Kntifa wohnen drei kleine, der Regierung
Dominell untvrworfeue Kabilen: Ait Abbas, Inktu, Ait Bu-Harasen, welche aber, nach
meinen Informationen, schilha sprechen.
1 30 M. QuEDEKFEi jyr : Eintheilnng und Verbreitung der Berberbeyölkerung in Marokko.
B. Stämme im Centrum des Gebietes.
Beni Mtir.
Beni Mgill (Mgild). Zwei mächtige Stämme, von welchen nach
ROHLPS — wohl zu niedrig angegeben — jeder etwa 2000 Bewaffiiete ins
Feld stellen kann.
Ait lussi. Diese starke Kabila zerfällt in drei Hauptfractionen:
RejJraba, Ait Helli, Ait Messäud-u- Ali. Der Name „lussi" ist corrumpirt
aus „lussifi"; der Gründer des Stammes hiess lussif Ben Daud.
C. Stämme im östlichen Theile des Gebietes.
Ait Scherroschen (Tschogruschen, Sto^uschen u. s. w.), auch Imer-
muschen (Mermuscha) oder Uled Mulai 'Ali Ben *Amer genannt. Zerfallen
in zwei Gruppen, die durch das Mlu'ia-Thal getreimt werden. Die nörd-
liche Gruppe bewohnt die Südabhänge des mittleren Atlas, die andere
den Nordabhäng des grossen Atlas und die Dahra, ein ausgedehntes, nur mit
Haifa (Esparto-G ras) bestandenes, wasserarmes Hochplateau, welches sich bis
nach der algerischen Provinz Oran hinüberzieht. Die nördliche Fraction ist
sesshaft und kann gegen 2000 Krieger stellen; die südlichen Ait Scherro-
schen sind vorwiegend Nomaden und verfügen über weit mehr als 3000
Bewaffnete. Diese letztere Gruppe theilt sich in neun Fraetionen: Ait
Said, Ait Bu-Ussäun, Ait Said-u-el- Hassin, Ait Heddu-u-Bel-Hassiu,
Ait Bu- Mirjam, Ait 'Ali Bu- Mirjam, Ait Bu-Uadfil, Ait Hussein, Ait
I lammu - Bei - Hassin.
Ait Atta und Ait lafelman. Diese beiden mächtigen Kabilen werden
unter der Bezeichnung „Breber" („Beräbir") zusammengefasst, worüber
uns FOUCAULD S. 362 u. a. interessante Aufschhisse giebt. Der Name
ist, wie ich bereits erwähnte, auf die ganze Gruppe mit gleichem
Dialekt übergegangen. Diese „Breber" im engeren Sinne bilden die
mächtigste Vereinigung in ganz Marokko; sie mögen an 30 000 Krieger
aufstellen können. Die Ait Atta theilen sich in zwei Hauptfractionen,
die Ait Semrui und Ait Haschu, deren jede wieder in zahlreiche kleine
Gruppen zerfällt. Die Ait lafelman bilden gleichfalls eine Anzahl von
Hauptfractionen mit vielen Unterabtheilungen. Ausser den von FoUCAULD
aufgeführten: Ait Isdigg, Ait Hadidu, Ait lahia, Ait Mejirad, Ait * Ali -u-
Brahim, Ait *Issa-Bu-Hamar, Ait Kratichssen, Ait Aiasch, sind mir noch
die Ait Sechömän angegeben worden. Die Ait Uafella sind eine Unter-
fraction der Ait Isdigg. Die grosse Mehrzahl dieser Stämme bewohnt das
weite Gebiet zwischen dem Atlas und Tafilelt u. s. w., etwa mit dem oberen
Draa als Westgrenze. Wandernd, auf Raubzügen oder auch als Escorte
von Karawanen streifen sie bis in die westlichen Sudanländer, Timbuctu,
Ualäta u. s. w. Nördlich vom Atlas und in diesem Gebirge sind sie spär-
licher vertreten.
Besprechungen. 131
Besprechungen,
Intornationalos Archiv für Ethnographie, herausgegeben von Dr. KrisT.
BaHNSON in Copenhagen, Prof. GUIDO CORA in Turin, Dr. O. J. DOZY
in Noordwijk bei Leiden, Prof. Dr. K. PeTRI in St Petersburg,
J. I). K. SCHMKLTZ in Leiden und Dr. L. SeRRURIER in Leiden.
Redartion: J. D. E. SCHMELTZ, Conservator am ethnographischen
Reichsmuseum in Leiden. Verlag von P. W. M. Trap, Leiden; Emest
Leroux, Paris: Trübner & Co., London: C. F. Winter'sche Verlags-
handlung, Leipzig. 1888. 4to.
Nur wt'iiij^e Wissensrhafteii sind in einem solchen Maasse auf die gemeinsame Arbeit
aller gebildeten Nationen anji^ewiesen, als die Ethnographie. Ist es doch nicht Vielen
vergönnt die Schätze fremder Sammlungen durch eigenen Augenschein und zeitraubendes
Studium genauer kennen zu lernen, ganz abgesehen davon, dass manches Stück, welches
weitgehende ethnographische Ausblicke j^estattet, überhaupt aus dem Besitze fremder
Völker nicht loszulösen ist. Wollen wir also unsere ethnographischen Kenntnisse zu mög-
lichster Abrundung bringen, so bedürfen wir getreuer Schilderungen in Wort und Bild,
denn in keinem Museum der Welt finden sich die Erzeugnisse irgend eines Volkes in einer
solchen Vollständigkeit vertreten, dass nicht das eine oder das andere Stück aus anderen
Sammlungen als nothwendiges und erklärendes Bindeglied dazwischen zu treten hätte.
Was aber bisher auf diesem Gebiete veröffentlicht worden ist, das unterlag naturgemäss
einer unendlichen Zersplitterung; es fand sich in einer endlosen Zahl von Zeitschriften
und Monographieen zerstreut, von denen dem einzelnen Forscher viele nur mit grosser
Muhe, andere überhaupt gamicht zugänglich wurden. Mit grosser Freude und mit voll-
berechtigten Hoffnungen müsjjen wir daher die Gründung eines internationalen Archivs
für Ethnographie begrüssen, in welchem jeder wissenschaftliche Arbeiter je nach seinem
Belieben in deutscher, holländischer, französischer oder englischer Sprache die Ergebnisse
seiner Forschungen niederlegen kann.
Für die (iediegenheit und Lebensfähigkeit des neuen Unternehmens bürgen einerseits
die Herausgeber und namentlich der durch den classischen Catalog des Museums Godeffroy
bekannt^» Redacteur, andererseits die ausserordentlich grosse Anzahl derjenigen, welche
der neuen Zeitschrift ihre Mitarbeiterschaft zugesagt halien und von denen ein nicht
geringer Theil durch seine Lebensstellung so recht mitten in der Fülle des wissenschaft-
lichen Materials steht Dass es gerade Leiden ist, von wo das internationale Archiv für
Ethnographie seinen Ausgang nimmt, das hat auch seine volle, man möchte sagen, seine
geschichtliche Berechtigimg. War es doch J^eiden, von wo in den 40er Jahren durch die
AiifstelluTig der japaniseben Sammlung v. Siebold's der Anstoss gegeben wurde zu that-
kräftiger ethn<»graphis(her Forschung: begann man doch jetzt erst allmählich die Einsicht
zu gewinnen, dass nicht philosophische Speculationen, sondern nur ein ernstes, syste-
matisches Sammeln und ein genaues, man kann wohl sagen, naturwissenschaftliches Studium
d«'r einzelnen (iegenstände unsere Kenntniss der Ethnographie zu fordern vermag. Diese
-analytische Ethnographie- ist es gerade, welche die in zweimonatlichen Quartheften
erscheinende n«*ue Zeitschrift zu pflegen !)eal>sichtigt. Das erste Heft führt uns auf seinen
3'J Seiten mit 2M Figuren im Texte und i\ sehr schön ausgeführten, reichen Farbentafeln
eintn Versuch einer Systematik der Neu -Guinea -Pfeile von Hm. Serrurier und Mit-
theilungen üi»er d4*n Mandau, die eigenthümliche Hiebwaffe der Dajaken von Koctci, seine
Verfertigung, seine Ausschmückung und seine Rangesabzeicben von Hrn. Tromp, dem
früheren Resident en von Koetei, vor. Dann folgen kleinere Abschnitte unter den Titeln:
132 Besprechimgen.
Kleine Notizen und Correspondenz, Sprechsaal, Museen und Sammlungen, Bibliographische
Uebersicht, Büchertisch, Reisen u. s. w. Für die nächsten Hefte sind Abhandlungen in
Aussicht genommen von Büttikofer (Leiden): lieber die eingeborenen Stämme der Neger-
republik Liberia; Langkavel (Hamburg). Pferde und Naturvölker; Martin: R^sumd des
acquisitions du musee d^Ethnographie a Stockholm pendant les annöes 1881 — 87; Bahnson:
Das Königl. ethnographische Museum in Kopenhagen; Schmeltz: Nachträge zu: Die
ethnographisch -anthropologische Abtheilung des Museum Godeffroy; Schmeltz: Südsee-
Reliquien; Woldt 'Berlin): die Cultusgegenstände der Golden und Giljaken; von Luschan:
die Sanmilungen von Cook und Forster im Berliner Museum für Völkerkunde; von
Luschan: Das türkische Schattenspiel; Ten Kate: Ethnographische Gegenstände aus
Surinam; Harmsen: lieber einige Battah- Kalender; Helfrich, Winter und Schiff:
het Hassan- Hussein of Taboetfeest te Benkoelen; Parkinson: Beiträge zur Ethnologie
der Gilbert- Insulaner; Schoor (Leeuwarden) : M6moires sur Porigine des terpes Frisones
(Habitations lacustres). Es werden diese Angaben genügen, um die Reichhaltigkeit des
gebotenen Stoffes zu ermessen. Wir wünschen dem neuen Unternehmen eine recht rege
Theilnahme und ein recht glückliches W^eitergedeihen. Max Bartels.
Oscar Baumann. Eine afrikanischo Tropen -Insel: Fernando P6o und
die Bube. Mit 16 Illustrationen und einer Originalkarte. Wien 1888.
VI. 145. (M. 5.)
„Das dritte Zeitalter der Entdeckungen naht sich seinem Ende'', so äusserte sich der
Vorsitzende der Gesellschaft für Erdkunde in deren ersten diesjährigen Sitzung. Dieser
Satz ist gewiss richtig, wenn man unter ^Entdeckungen" das zufällige oder beabsichtigte
Auffinden von Festlanden und Inseln, von bisher unbekannten Hochgebirgen Strömen,
Seen u. s. w. versteht. Mit demselben Recht darf aber wohl auch behauptet werden, dass
gerade heute das Zeitalter der intensiveren, der auf begrenzte grössere oder kleinere
Länder und Inseln sich beschränkenden Entdeckungsreisen gekommen ist. Die Periode
der Weltumsegelungen, Durchquerungen u. s. w. liegt hinter uns, wir nähern uns dem Zeit-
alter der Einzeiheschreibungen.
Dass es noch Vieles in der Welt zu entdecken giebt, und zwar durchaus nicht etwa
im centralen Australien oder Afrika allein, sondern auch in Ländern, bezw. Inseln, die
von Europa aus in wenigen Tagen auf Dampfern zu erreichen sind, dafür liefei-t die vor-
liegende, bei gediegenstem Inhalte flott geschriebene und sehr gefällig ausgestattete Arbeit
des österreichischen Forschers Dr. Oscar Bau mann den besten Beweis.
Fernando Po ist seit 416 Jahren von Europäern entdeckt und steht seit ungefähr der-
selben Zeit unter europäischer Herrschaft und Verwaltung. Dennoch leben heut*, nur wenige
Meilen von der Küste entfernt^ Tausende von Eingeborenen, die nicht nur nichts von dem
Vorhandensein eines Königs von Spanien wissen, sondern die nie in ihrem Leben jemals
einen Weissen gesehen haben. Wie der Verfasser sagt, hat er auf dieser kleinen Insel
des dampferdurchfurchten Guineameeres des Neuen und Interessanten in anthropologischer,
ethnographischer, geographischer, kurz in jeder Beziehung viel mehr gefunden, wie jemals
im ceutralafrikanischen Kongogeliiete.
Wir können uns beglückwünschen, dass Dr. Bau mann sich an den Stanleyfällen von
Prof. Lenz trennte und, statt denselben auf der in mancher Beziehung vielleicht dank-
bareren, jedenfalls aber ruhmreicheren Afrikadurchkreuzung zu begleiten, sich von der
Westküste nach Sta. Isabel, dem Hafen- und Hauptorte von Fernando Po, einschifl'te, um
von dort während einer beinahe zwei Monate langen Fussreise, bei beschränkten Mitteln
recht bescheiden ausgerüstet, die bisher beinahe vollkommen unbekannte Insel zu erforschen.
Ein nie versiegender Humor und ein ausserordentliches Talent, mit Eingeborenen zu ver-
kehren, haben ihm über alle Gefahren und Beschwerden hinweggeholfen.
In den ersten drei Kapiteln schildert uns Bau mann seine Route, auf welcher er die
Insel von Norden nach Süden und von Westen nach Osten in ihrer ganzen Ausdehnung
durchkreuxte, st^ts bestrebt, durch Besteigung von Berggipfeln sich möglichst zu orientiren.
Besprechungen. 133
Das geographische Ergebniss der Reise, die dem Buche beigegebene Karte, ist jedentalla
die bente, die heute von Fernando Po vorhanden ist.
Vom vierten Abschnitte an wird die Stellung der Insel in der Vulkankette des Gninea-
nieeres, die Fauna. Flora derselben, sowie ihr so übel berüchtigtes Klima besprochen.
Ueber letzteres bemerkt der Verfasser: ..Im Allgemeinen l&sst sich sagen, dass Fernando
P(5o, wenn auch nicht viel besser, so doch unbedingt nicht schlechter für die Gesundheit
des Europäers ist^ als andere Plätze an der Westküste Afrika^. Ich selbst war auf dem
viel gepriesenen oberen Kongo durch Dysenterie dem Tode nahe und habe mir bei ruhiger
Lebensweise in Kamerum ein schweres hämaturisches Fieber geholt.. Während meiner
Wanderungen in Femando Poo dagegen, W(» ich täglich durchnässt wurde, oft im Freien
campiren nmsste und auf eingeborene Nahrung beschränkt war. erfreute ich mich, kleine
rnwohlsein abgerechnet, der besten Gesundheit "
Das fünfte und sechste Capitel beschäftigen sich ausschliesslich mit den eigenartigen
Eingeborenen der Insel, den Bube. Verfasser bet4>nt deren Gegensatz zu den Dualla von
Kamerun und hält es für fast zweifellos, dass die ersten Entdecker schon Vertreter der-
selben Rasse auf der Insel vorfanden. Er schätzt deren Zahl heute auf 20—25 000; der
Sprache nach gehören sie zu den Bantuvölkem, ein Negertjpus ist bei ihnen kaum hervor-
tretend. Das Anfertigen von Zeugen oder Matten ist ihnen unbekannt, ebenso wie die
Cultur des Maniok. Sie verstehen es, sich durch Signale auf einer Pfeife auf weite Ent-
fernungen zu verständigen.
Ueber die religiösen Anschauungen der von ihm besuchten Stämme enthält sich der
Verfasser, im Gegensatz zu manchen anderen ^ Afrikareisenden *", ausdrücklich jeglichen
Urtheils.
In den beiden Schlussabschnitten werden die Geschichte der Insel, die gesellschaft-
lichen Verhältnisse ihrer heutigen, «civilisirten" Bewohner u. s. w. behandelt. Auch diese
Kapitel werden dem jugendlichen Verfasser, - vielleicht abgesehen von einigen Betbrüdern,
Prohibitionisten , Anti-Slavery- Schwärmern und ähnlichen Herren, — nur Freunde
gewinnen. —
Zum Schlüsse möchte sich Referent noch eine kurze Bemerkung über die Schreib-
weise ..Fernando Pöo" erlauben. Dr. Baumann hat dieselbe gewählt, weil sie die heute
officielle spanische ist Demnach müssten die Spanier das W^ort .Pö-o*^ aussprechen.
Das thun sie aber nicht, sondern sie nennen die Insel wie Jedermann ^Fernando Pö", und
darum dürfte die Schreibart «Poo** unrichtig sein, trotzdem sie officiell ist. Der Ent-
decker hiess, so viel Referenten bekannt ist, Femam do Po (..Ferdinand Staub*' oder ^von**
Staub). Dass hieraus sehr bald „Fernando Po*" wurde, ist leicht erklärlich. Ramusio
(1ÖG3 I. p. 13) schreibt allerdings ^Fernando da Poo", indess dürfte ^da" auf jeden Fall
unrichtig sein. Die englischen Karten verzeichnen durchgehend „Pö'S vielleicht um zu
verhüten, dass der Engländer das Wort „Poo" wie „Pub" ausspräche. Jedenfalls liegt die
Sache heute so, dass entweder die Herren der Insel einen Fehler machen, indem sie
,P<So" schreiben, oder aber die Söhne der Insel sprechen deren Namen falsch aus.
Auch der von Dr. Baumann gewählte Name „S'/o Thome'* erscheint nicht unanfecht-
bar. Der Venezianer Ramusio J. p. 113 E. F.) schreibt zwar ebenfalls ,,San Thome".
Welcher Nation soll aber dieser „heilige Thome" angehören? feiner europäisch -romanischen
wohl schwerlich, denn „Thomas", wie die Engländer wiederum ganz richtig Schreibern
heisst auf spanisch: „Tomas'*, portugiesisch: „Thomas", italienisch: „Tommaso" u. s. w.
Die portugiesischen Behörden schreiben und drucken allerdings auch „S. (d. h. S'/o) Thome",
indess wird dadurch noch nicht bewiesen, dass diese Schreibart richtig ist. „Anno bon"
(S. 71 und 111) ist jedenfalls nicht richtig; das Wort muss .^nno bom" geschrieben
werden. W. J.
Joachim Graf Pfeil. Vorschläge zur praktischen Kolonisation in Ost-
Afrika. Berlin, Rosenbaum & Hart. 1888. 8. 79 S.
Die kleine Schrift stellt sich als das colonialjjolitische Testament des Verfa.sser8,
wenigstens in Bezug auf Ostafrika, dar. Angesichts des neuen Landes, in welchem er
von jetzt an seine colonisatorischen Fähigkeiten entfalten boU, aus der Torres- Strasse, hat
134 BesprechongeD.
er die Vorrede geschrieben. In 3 längeren Kapiteln bespricht er den deutschen
Besitz in OstÄfrika, die verschiedenen möglichen Formen der Kolonisation, die Leistungs-
fähigkeit des afrikanischen Bodens und die Verwerthung der Neger zur Arbeit in recht
nüchterner, objektiver Weise. Ein Zweifler könnte daraus ungezwungen den Schluss
ziehen, dass die Kolonisation von Ostafrika ein unmögliches Problem sei. Indess im
letzten Kapitel bringt der Verfasser «Vorschläge zur praktischen Kolonisation Ostafrikas."
Ob er diesen Titel al>8ichtlich gewählt hat statt der zu erwartenden «praktischen Vorschläge
zur Kolonisation Ostafrikas", wird je nach dem Standpunkte der Leser verschieden beant-
wortet werden. Verfasser ist der Ansicht, dass der Neger ohne Zwang nicht zum Arbeiter
zu erziehen ist; da er sich aber überzeugt hat, dass eine stiiatliche Verwaltung für Ost-
afrika nichts taugen und die Unterhaltung einer eigenen Militärmacht unausführbar sein
würde, dass namentlich durch Schutzzölle ein genügendes finanzielles Aequivalent für die
erforderlichen Ausgaben zur Unterhaltung einer «Exekutivmacht** nicht zu erzielen wäre,
die förmliche Sklaverei aber auszuschliessen ist, so gelangt er zu einem sehr complicirten
Systeme von Vorschlägen, von denen in der That schwer anzunehmen ist, dass sie sich
als praktisch bewähren würden. An die Spitze stellt er die Forderung, dass die Arbeits-
kraft des Negers gegen entsprechenden Lohn in Anspruch genommen werde. Zu diesem
Zwecke soll dem Neger ein bestimmter Aufenthaltsort (Location) vorgeschrieben werden,
in dem er seinem eigenen Feldbau nach Gewohnheit obliegen kann, aber zugleich unter
Controle (Oberaufsicht) gestellt wird. Für den Fall «sonst nicht mit Erfolg zu bekämpfen-
der dauernder Widersetzlichkeit** will Verfasser sich der Hülfe von Stämmen, welche wegen
ihrer Kriegstüchtigkeit in Ansehen stehen, versichern. Endlich sollen für die Locationen
Handelsconcessionen ertheilt werden unter der Bedingung, dass nur Handelsartikel deut-
schen Ursprunges eingeführt werden, und es soll den in Arbeit befindlichen Schwarzen
eine Abgabe auferlegt werden. Wie leicht ersichtlich, culminirt dieses System in der
Constituirung kriegstüchtiger Stämme als ^Exekutivmacht". Verfasser theilt in dem Vor-
wort mit, dass er auf diese Idee durch seine Berührung mit den Mahenge gekommen ist,
welche ihn «fortwährend aufforderten, ihnen zu helfen, andere Stämme zu bestrafen, wofür
sie sich erboten, ihm nach Unterwerfung derselben eine Anzahl Sclaven zu geben, um in
ihrem Lande einen permanenten Wohnsitz einzurichten.** Von diesem Plane bis zu der
hoffnungsvollen Schwärmerei des Verfassers, .ein kriegsfreies Gebiet zu schaffen, in
welchem wir solche Dörfer, welche sich unseren Maassnahmen unterwerfen, ansiedeln",
ist freilich kein weiter Schritt, aber wodurch sich die Bewohner dieser Dörfer von Sclaven
unterscheiden würden, möchte schwer zu sagen sein. Denn der „kriegsfreie* Zustand
würde wohl nicht anders herzustellen sein, als durch bluti'ge Kriegs- und Raubzuge, und
die «Unterwerfung unter unsere Maassnahmen** würde sicherlich nichts weniger als ein
Akt der Freiwilligkeit sein. Ob ein derartiger Vorchlag jemals zur Grundlage eines prak-
tischen Versuchs, die ostafrikanische Frage zu lösen, gemacht werden wird, steht sehr
dahin. Jedenfalls dürfte die Lektüie des Buches, das von einem lange in Ostafrika thätig
gewesenen und der Colonisationsidee in höchstem Maasse zugeneigten Manne geschrieben
ist, manchen Enthusiasten abkühlen. Rud. Virchow.
Emil Schmidt. Die ältesten Spuren des M(»n8cheii in Nordamerika. Samm-
lung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge von R. VJRCHOW
Fr. V. HOLTZENDORFF. Hamburg, J.F.Richter, 1887. Neue Folge,
zweite Serie, Heft 14/15.
Rasmus B. Anderson. Die erste Entdeckung von Amerikii, übersetzt von
M. Mann. Ebendaselbst 1888. Dritte Serie, Heft 49/50.
Vorstehend genannte beide Vorträge beziehen sich auf die vorkolumbische Zeit des
neuen Kontinents, denn die von Hm. Anderson erörterte erste Entdeckung betrifft die
Seefahrten der Skandinavier, welche nach der Auffassung des Verfassers Columbus bekannt
waren und die Grundlage seiner Plftne bildeten. Die einzelnen Vorgänge werden aus-
führlich geschildert und die Orte der damahgen Landungen möglich pr&cisirt.
Besprechungen. 1 35
V(m besonderem Werthe ist die sorgfältige Arbeit des Hm. E.Schmidt, der mit
philologischer Genauigkeit Alles gesammelt hat, was bis jetzt' an Zeugnissen für die
Hest'haffenheit des prähistorischen (nicht des präcolunibischen) Menschen in Nordamerika
vorhanden ist. Die unsicheren und zweifelhaften Funde werden zurückgewiesen; trotzdem
bleibt ein reiches Material, welches die Existenz des Menschen in der Quartärzeit (Diluvium)
bewiist. .Aber der Verfasser geht weiter. Er vertheidigt au<'h die Richtigkeit der An-
«rabon über die Existenz des tertiären Menschen, namentlich unter den vulkanischen Tuften
(Kaliforniens. Sicherlich sind seine Mittheilungen in hohem (rrade beachtenswerth. Das
Hinzige, was man gegen ihre Beweiskraft anführen kann, ist der Umstand, dass alle diese,
wie es scheint, dem Pliocen angehörigen Funde zufällig gemacht worden sind und meist
in die Hände unachtsamer oder mangelhaft vorbereiteter Männer fielen. Es ist gewiss
sehr zu bedauern, dass an den genügend bekannten Fundstellen keine planmässig geleiteten
Nachforschungen veranstaltet worden sind, aber auch so wird man zugestehen müssen
dass unter allen, der Tertiärzeit zugeschriebenen Funden von menschlichen Resten oder
Erzeugnissen menschlicher Arbeit die califomischen den ersten Rang einnehmen.
RuD. VmCHOW.
Jakob HeieRLI. Pfahlhautou. Neunter Bericht. Mittheilungen der Anti-
quarischen Gesellschaft in Zürich. Leipzig 1888. 4. 66 S. mit 21 Tafeln.
Der vorliegende Bericht schliesst sich den berühmten 8 Heften an, in welchen
F. Keller die älteren Pfahlbanfunde in mustergültiger und für alle Zeit bedeutungsvoller
Weise geschildert hat. Der Verfasser hat sich in ausgiebigster Ausdehnung der Mit-
wirkung der erfahrensten und zuverlässigsten Forscher versichert, wie des Hm. Leiner
für die Stationen des Bodensees, des Hm. v. Fellen berg für die Gebiete der Jurawasser-
Korrektion und den Bieler See, des Hrn. V. Gross für den letzteren und einige Nachbar-
stationen, des Hm. Forel für den Genfer See, u. A. m. Es ist damit eine authentische
üebersicht dieser wichtigen Funde hergestellt worden, die um so mehr als dankenswerth
bezeichnet werden muss, als wenigstens ein grosser Theil der Stationen als erschöpft oder
doch für lange Zeit nicht mehr zugänglich bezeichnet werden muss. Der Gedanke, dass
dieser Bericht überhaupt der letzte sein werde, ist trotzdem vielleicht nicht ganz zutreffend,
denn auch die letzten Jahre haben wieder manche neue Fundstelle kennen gelehrt, so
namentlich am Bodensee, bei Zürich und am Murtener See, — eine Erfahrung, die um
so tröstlicher erscheint, als jede spätere Untersuchung mit neuen Gesichtsjmnkten an die
Forschung herantritt und positive Erweiterungen des Wissens an bisher unbeachtetem
Material ergiebt. Es mag zur Erläuterang dieses Satzes nur an die zahlreichen Kupfer-
funde erinnert werden, von denen der vorliegende Bericht vortreffliche Beispiele in grosser
Zahl }>eibringt. Dadurch gewinnt die chronologische Klassifikation der einzelnen Stationen
nach und nach eine früher ungeahnte Sicherheit^ und es wird immer mehr ermöglicht,
die Parallelen un<l die inneren Beziehungen der schweizerischen und süddeutschen Pfahl-
bauten mit gewissen Landansiedelungen und Gräberstätten, sowie mit den Pfahlbauten der
Nachbarländer aufzusuchen.
Ein empfindlicher Mangel in dem Berichte ist die rein archäologische Methode der
Darstellung, welche von den schönen Vorbildern, welche Keller geliefert hat, erheblich
abweicht. Von der doch so zahlreichen Fauna der Pfahlbauten ist nur gelegentlich, von
den menschlichen Ueberresten eigentlich gar nicht die Rede, und doch ist davon nicht
nur ein recht erheldirhes Material gesammelt worden, sondem es hat auch die Bearbeitung
desselben wichtige Gesichtspunkte für die damaligen Völkerbewegungen ergeben. Aber
es wird wolil norli lange dauern, ehe die Bedeutung der zoologischen und anthrop<do-
gischen Fnndstücke in das Bewusstsein selbst der eigentlichen Forscher übergeht.
Trotz dieses Mangels wird das Erscheinen des so reich ausgestatteten Berichtes aller-
seits mit Freude und Anerkennung begrü.^st werden. Möge es den schweizer Forschem
beschieden sein, recht bald einen neuen Bericht dem jetzigen folgen lassen zu können.
KUD. ViRCHOW.
136 Besprechungen.
Baron WiLH. V. LANDAU. Travels in Asia, Australia and America. P. I.
New York, London 1888. 16. 80 S.
Verfasser giebt in der kleinen Schrift eine gedrängte üebersicht seiner 8jährigen
Reisen „in verschiedenen Theilen unseres Planeten", welche sich meist nicht über die
kürzesten Aufzeichnungen eines Notizlmches erheben, welche aber zahlreiche, für den
Touristen recht nützliche Angaben über Oertlichkeiten und namentlich über Personen ent-
halten. Der einzige Abschnitt, widcher etwas mehr ins Einzelne geht, behandelt die auf
Veranlassung von Berliner Gelehrten unternommene Reise in die nördlichen Provinzen
von Luzon (p. 53 — 80), die freilich keine entscheidenden Ergebnisse geliefert hat, da dem
Verfasser, wie er angiebt. die Ethnologie bis dahin eine terra incognita war. Er machte
die Reise in Gesellschaft des Hm. A u und mit besonderen Empfehlungen des Commandeurs
der Guardia civil, Hm. Scheidnagel, dessen Schriften über die Philippinen und speciell
über Benguet er lobend hervorhebt. Im Laufe von 4 Monaten dehnte er seine Reise über
den ganzen Nordosten von Luzon, namentlich über die Provinzen Nueva Ecija, Nueva
Viscaya, Isabel, Saltan und Cagajan aus. Die verschiedenen Stämme, welche diese Pro-
vinzen bewohnen, schildert er abweichend von den Angaben des Hm. Blumentritt, dem
gegenüber er auch wesentliche Abweichungen in den Wohnsitzen der einzelnen Stämme
bezeichnet. Negritos sind hier ü!)erall zerstreut, jedoch, wie es scheint, in geringer
Anzahl. Er erwähnt speciell einen Stamm derselben, genannt Balugas oder Dumagas,
südlich und westlich von Buler an der Ostküste, Provinz Principe; eine andere Negrito-
Gegend ist bei Maines und Apagaos im Südwesten der Provinz Cagajan, wo er speciell
angiebt, dass sie sich mit Igorroten nicht verheirathen. Zu beiden Seifen des Carabalho
Sur (auf der Grenze der Provinzen N. Ecija und N. Viscaya) sitzen Ibilaos oder Ilongotes
bis zur Ostküste, wo sie (in Cassiguran) Ipogaos genannt werden. Die Ibilaos sind ein
wilder, nur hier und da mehr harmloser Stamm, der Ackerbau treibt und in Monogamie
lebt und dessen Glieder häufig schöne, klassische Gestalt und imponirende Körperkraft
besitzen. Sie begraben ihre Todten in der Nähe ihrer Häuser, an dem Ufer eines Flusses.
Ihre Sitze reichen bis in die Nähe von Bombang. Hier, in San Nifio, machte der Verfasser
Ausgrabungen und sammelte einige Schädel und Knochen, welche an den Referenten
geschickt wurden. Letzterer hat darüber in der Sitzung der Berliner anthropologischen
Gesellschaft vom 21. Juli 1883 (Verhandl S. 395; berichtet, glaubte sie aber damals als
Schädel von Igorroten ansprechen zu müssen. Dies wäre also nunmehr zu corrigiren, wobei
jedoch zu bemerken ist, dass auch nach dem Verfasser die Sitze der Igorroten gleichfalls
bis in diese Gegend reichen. ^Die Ibilaos tragen ihr langes Haar in einem Zopf (switch)
um den Kopf, wie die Chinesen: ihre Gesichtstypen variiren von dem ächten breiten
Gesicht des Chinesen mit vortretenden Wangenbeinen bis zu der ovalen Form der kau-
kasischen Rasse** (p. 69). Bombang ist nach der Ansicht des Verfassers der Mittelpunkt
des grossen Erdbebens gewesen, das 1881 einen grossen Theil der Provinz N. Viscaya
erschütterte. Schon südlich von dieser Stadt beginnen die Ansiedelungen der eigentlichen
Igorrotes, welche von der grossen Cordillere im Westen und vom Rio Agno eingewandert
sein sollen; sie seien den Igorroten des Benguet durch die Breite der GesicJiter und die
Flachheit der Nasen sehr ähnlich. Eine andere Gruppe der Igorrotes, die Gaddanes,
welche im letzten Jahrhundert von Saltan her einwanderten, sitzt in der Ebene bis zu den
Bergen von Quiangan und Silipan; eine dritte, etwa 30 00() Köpfe stark, wohnt in Quiangan,
Silipan und Mayoyaos. Ihre nördlichen Nachbam, die Perugianes, ein anderer Igor-
roten-Stamm, lebt mit ihnen in steter Fehde. Auch die Namen Ifugaos (im Gaddan-
Dialekt) und Calinga bedeuten wilde, nicht getaufte Igorrotes. Entgegen Blumentritt
behauptet der Verfasser, dass das ganze linke Ufer des Rio Cagayan von Igorroten
bewohnt werde, die in 20 oder 22 Unterstämme zerlegt würden. Von ihnen stammen die
Schädel, welche Hr. H. Meyer von seiner Reise zurückgebracht hat (a. a. 0. S. 391).
RUD. ViRCHOW.
III.
Der Ursprung der Stadt Zürich,
von
JAKOB HFiIERLI
in Zürich.
(Hierzu Tafel II— V.)
Julius Cäsar spricht von Dörfom und Städten, wolche die Helvetier
verbrannt hätten bei ihrem Auszug nach Gallien. Sollte nicht auch Zürich
darunter gewesen sein? Es lassen sich ja zahlreiche Beweise für eine
vorrömische Bevölkenmg am unteren Ende des Zürichsees erbringen.
Dr. F. Keller zeigte, dass die Kuppe des Uetliberges schon vor der
B«»setzung Helvetiens durch die Römer als Refugium gedient hatte, und
zahlreiche Gräber weisen ebenfalls auf jene Vorzeit zurück, so die Hügel-
gräber im Burghölzli, deren Eröffnung Ursache zur Gründung der Anti-
quarischen (lesellschaft wurde (1832), so die Flachgräber im Gabler in
Enge und im Hard bei Altstetten. Wo haben aber die Leute gewohnt,
die ihre Todten in diesen Grrabstätten beerdigten? Alte Wohnstätten sind
schwer aufzufinden, da nachfolgende Generationen und Völker die Spuren
ihrer Vorgänger verwischen. Hier und da stösst man indessen doch auf
Spur(»n von Ansiedelungen der Vorzeit. Oft sind es metallene Geräthe,
WaflTeii und Schmucksachen, oft nur unscheinbare Scherben. Die Auti-
quarisclie Sammlung Zürich bewahrt in der That auch eine Menge vor-
röniischer Artefacte, welche in der Umgebung und in unserer Stadt dem
Grunde der Gewässer oder dem Schoosse der Erde enthoben wurden.
Vom ehemaligen Inselchen, auf welchem die altberühmte Wasserkirche
erbaut wurde, bis hinunter zur Webschule im Letten wurden im Bette
der Limmat zahlreiche Schätze aus der Vorzeit gefunden, und auch ausser-
halb d<»8 Flu8sbett(»8 kamen mehrere interessante Artefacte zum Vorschein.
Zwei St<»llen in der Limmat sind besonders ergiebig gewesen (vergl. Taf. H);
iVw (»ino liegt in der Stadt selbst, bei der Rathhausbrücke. Je näher die
Hnj^gcrmaschine dieser Brücke kam, um so zahlreicher wurden die Funde,
und als IHHl die Fundamentirungsarbeiten es ermöglichten, tief unter den
(irund des f^lusses zu dringen, da fanden sich neben mittelalterlichen
und römischen auch viele vorrömische Artefacte. Nur wenig weiter unten
/•iucbrlft für Ethnologie. Jahrg. 1888. 10
128 M. QUED£NF£LDT:
jener Zeit in Tanger anwesenden Herrn F. KRUPP in Essen unterstützt,
brach SCHAUDT im Frühjahr 1883 zu einer neuen Reise auf, vornehmlich
mit der Absicht, in den noch unerforschten Gebirgen des Landes Gestein-
und Erzproben zu sammeln. Auf dieser Reise ist er verschollen; man hat
seither nie wieder etwas von ihm gehört.
Schliesslich verdanke ich meinem verehrten Freunde Frhm. MAX VON
Oppenheim aus Cöln, Mitglied unserer Gesellschaft, einige interessante
Mittheilungen über die Positionen einzelner Stämme. So hat u. a. dieser
Reisende auf einer „Djebel Behalil" („Bu-Hellül" oder „-Hellöl") genannten
Bergkette zwischen Fäss und Ssefrü einen von den Ait Scherroschen
erbauten Tschar (Häuserdorf) gleichen Namens, wie der Berg, angetroffen —
ein Zeichen, dass dieser jetzt weiter östlich wohnende Stamm früher bis
hierher seine Wohnsitze erstreckte ^ ). —
Ich schliesse hieran eine Aufzählung der Brebor- Stämme und deren
hauptsächlichsten Fractionen, so weit mir die letzteren bekannt geworden
sind. In einem der folgenden Hefte dieser Zeitschrift denke ich Mit-
theilungen über Typus, Sitten, Bräuche u. s. w. der Breber zu machen, die
Schlöh (Gruppe 3) eingehend zu besprechen und im Anschlüsse hieran das
geringe, mir zur Verfügung stehende vergleichende linguistische Material
zu geben.
A. Stämme im westlichen Theile des Gebietes, in der ungefähren
Reihenfolge von Norden nach Süden.
1. Nördlich vom Atlasgebirge.
Geruän. Eine Fraction dieser Kabila, die Ait Imur, wurde von einem
der früheren Sultane zwangsweise in der Nähe von Marrakesch (Stadt
Marokko) angesiedelt. Vergl. die Karte.
Semür-Schilh. Eine Fraction derselben bilden die Ait Hakim. Wie
die Geruan nominell der Regierung unterworfen.
Salan. Zerfallen in vier Fractionen: Beni Hessussen, Ait el Harka,
Hebbaren, Ait ess-Ssidi 'Ali-u-Brahim. Die Sa'ian bilden eine der mäch-
tigsten Vereinigungen, sie sollen 18 000 Krieger (Berittene) stellen können.
Akebab, eine kleine, wenig bekannte Kabila.
Ketaia und Ait Rba. Zwei Breber -Stämme im östlichen Tadla, die
viel mit arabischen Elementen gemischt sind. Es ist bei den Stämmen
von Tadla, welche alle stark von arabischen Einflüssen iuticirt sind,
1) Herr von Oppenheim hat 18^6, nach voraufgegangenen Touren in Algerien und
Tunis, eine mehrmonatliche Reise im nördlichen Marokko auf theilweise wenig von Euro-
pftem betretenen Pfaden gemacht, u. a. den kleinen Ort Ssefrü, eine Tagereise südlich
von F&ss, besucht, die Route von Miknäss nach Rabat auf dem gleichen Wege, wie seiner
Zeit Dr. 0. Lenz, zurückgelegt und die Reise von Rabat nach Tetuan auf einem ziemlich
directen Wege, d. h. ohne Tanger zu berühren, gemacht. In gleicher Weise hat Herr
von Oppenheim auch die direkte Route von Uasan nach Fäss gemacht. Ich traf mit
ihm in Rabat zusanmien.
Eintheilung und Yerbreitung der BerberbeyÖlkenmg in Marokko. 129
noch 8ohwi(»rigor, als andcTswo, dio Rassoii f];oimu ausrinandor zu halten.
Icli hal)(» die» bt^idon genannton Kabilen ans spratdilit'hen Gründen zu
den Brebern gestellt, allenfalls würden dahin noch die Beni Semilr
gelleren, von denen einzelne Fraetion(»n ^el-berbcTia*' sprechen, während
anilere, gleich den meisten Stämmen, dit» das Tadlagebiet bewohnen, ara-
bisch sprechen. Die Ketaia zi^rfallen in folgende Fractionen: Ssemget,
Ait'Ala, Ait Hrahim, Ait Kerkait; die Ait l|])a in Uled Said, Uled Jussif,
Suair. Beni Millal.
Ischkern. Diese Kabila kann etwa WHH) Heiter ins Feld stellen.
Ait Sseri. Zerfallen in acht Manptfractionen: Ait üirra, Ait Mham-
med, Ait 'Abd el-Täli, Friata, Ait el-IIabibi, Ait Maha, Ait 'Abd en-Nür,
Ait 'Said. Der Stamm besitzt wenig Pfenh», doch stellt er zahlreiche
Krieger zu Fnss.
Ait Atta Umalu. Der kleine .Stamm kann etwa 800 Krieger zu Fuss
und 150 Reiter stelh^n. Der berberische Name ^Umalu'', eine Genitivform,
bedeutet: Die Ait Atta, w(dche im Schatten wohnen, d. h. auf der Nord-
seite des (Atlas-) Gebirges.
Ait Bu-Sid. Gleichfalls ein kleinerer Stiimm, der ungefähr 1000
Krieger zu Fuss und 300 Reiter aufbringen kann.
Ait ' Aiad. Kleiner Stamm mit etwa 1000 Kriegern, worunter 100 Reiter.
Ait'Atab. Können etwa 1500 Bewaffnete aufbringen, unter ihnen
300 Reiter.
Ait Messat. Eine grosse Tribus, die gegen 4500 Krieger aufstellen
kann, worunter 5(K) Reiter. Sie theilt sich in fünf Fractionen: Ait Ishak,
Ait MohamnuHi, Ait Ugudid, Ait 'Ab<l- Allah, Ibarajien.
Ait Madjin (Masen bcM ForCAüLD).
Ait b Lulli. Diese Schreibweise des Wortes^) dürfte der auf iler Karte
angegebenen arabisirten vorzuziehen sein -).
2. Südlich vom Atlasg«»birge.
Imeiran. Ein grosser, unabhängiger Stamm, welcher gegen 3500
Bewaffnete stellen kann.
Askurn (Ilaskura. Skura). Eine starke Tribus mit über HH) Kssor's.
Ait Ssedrät. Dieselben theilen sich in zwei Hauptfractionen : Ait Suli
und Ait Mehelli, deren jede etwa 20(M) Krieger ins Fidd stellen kann.
Di«» Ait Ssedrät leben, ausser in ihrem eigenen Distrikte, auch verstreut
am oberen Draa und am Uad Dades.
1 . l^orlHriscliP Gonitivfurin, jrpt»il»lot durch Voransetzunjf der I^räposition b vor das
al.häii^'i^'«' Siil»stantivuin. VtTj;l. IIanoteai:, «iranunaire Kal>yle, S. 3^<.
•J In d«iii bj'iiachliartrii I>istriklo von Kutifa wohnen drei kleine, der Regrierung
nt»ininell unterworfene Kahilen: Ait Abbas, luktu, Ait Bu-Harasen, welche aber, nach
meinen Informationen, schilha sprechen.
1 30 M. QuEDEKFEi jyr : Eintheilnng und Verbreitang der Berberbeyölkerung in Marokko.
B. Stämme im Centrum des Gebietes.
Beni Mtir.
Beni Mgill (Mgild). Zwei mächtige Stämme, von welchen nach
• ROHLFS — wohl zu niedrig angegeben — jeder etwa 2000 Bewaffnete ins
Feld stellen kann.
Ait lussi. Diese starke Kabila zerfällt in drei Hauptfractionen:
Rejiraba, Ait Ilelli, Ait Messäud-u- Ali. Der Name „lussi" ist corrumpirt
aus „lussifi"; der Gründer des Stammes hiess lussif Ben Daud.
C. Stämme im östlichen Theile des Gebietes.
Ait Scherroschen (TscheAruscheii, Stogruschen u. s. w.), auch Imer-
muschen (Mermuscha) oder Uled Mulai 'Ali Ben 'Amor genannt. Zerfallen
in zwei Gruppen, die durch das Mluia-Thal getrennt werden. Die nörd-
liche Gruppe bewohnt die Südabhänge des mittleren Atlas, die andere
den Nordabhäng des grossen Atlas und die Dahra, ein ausgedehntes, nur mit
Haifa (Esparto-Gras) bestandenes, wasserarmes Hochplateau, welches sich bis
nach der algerisclien Provinz Oran hinüberzieht. Die nördliche Fraction ist
sesshaft und kann gegen 2000 Krieger stellen; die südlichen Ait Scherro-
schen sind vorwiegend Nomaden und verfügen über weit mehr als 3000
Bewaflnete. Diese letztere Gruppe tlieilt sich in neun Fractionen: Ait
Said, Ait Bu-Ussäun, Ait Said-u-el-Uassin, Ait Ileddu-u-Bel-Hassin,
Ait Bu-Mirjam, Ait *Ali Bu-Mirjam, Ait Bu-Uadfil, Ait Hussein, Ait
I lammu - Bei - Hassin.
Ait Atta und Ait lafelman. Diese beiden mächtigen Kabilen werden
unter der Bezeichnung „Breber" („Beräbir") zusammengefasst, worüber
ims FOUCAULD S. 362 u. a. interessante Aufschlüsse giebt. Der Name
ist, wie ich bereits erwähnte, auf die ganze Gruppe mit gleichem
Dialekt übergegangen. Diese „Breber" im engereu Sinne bilden die
mächtigste Vereinigung in ganz Marokko; sie mögen an 30 000 Krieger
aufstellen können. Die Ait Atta theilen sich in zwei Hauptfractionen,
die Ait Semru'i und Ait Haschu, deren jede wieder in zahlreiche kleine
Gruppen zerfallt. Die Ait lafelman bilden gleichfalls eine Anzahl von
Hauptfractionen mit vielen Unterabtheilungen. Ausser den von FOUCAULD
aufgeführten: Ait Isdigg, Ait lladidu, Ait lahia, Ait Mejirad, Ait 'Ali -u-
Brahim, Ait 'Issa-Bu-Hamar, Ait Kratichssen, Ait Aiasch, sind mir noch
die Ait Sechöman angegeben worden. Die Ait Uafelhi sind eine Unter-
fraction der Ait Isdigg. Die grosse Mehrzalil dieser Stämme bewohnt das
weite Gebiet zwischen dem Atlas und Tafilelt u. s. w., etwa mit dem oberen
Draa als Westgrenze. Wandernd, auf Raubzügen oder auch als Escorte
von Karawanen streifen sie bis in die westlichen Sudauländer, Timbuctu,
Ualäta u. s. w. Nördlich vom Atlas und in diesem Gebirge sind sie spär-
licher vertreten.
Besprechungen. 131
Besprechungen.
[iitornatioiialeH Aroliiv für Kthiio^rapliie, herau8<i;(»geb(Mi von Dr. KrisT.
Bahnsen in Copenhaj^en, Prof. (lUIDO COKA in Turin, Ur. 0. .1. DOZY
in Xoonlwijk hv\ Leiden, Prof. Dr. K. PeTRI in St. Petersburg,
J. l). K. ScMIMELTZ in Leiden und Dr. L. SERRURIER in Leiden.
Redaction: .1. D. B. Si'HMELTZ, Conservator am ethnographischen
Keiehsniuseuni in Ijeiden. Verhig von P. W. M. Trap, Leiden; Emest
Leroux, Paris: Trübner & Co.. London: 0. F. Winter'sehe Verlags-
handlung. Lei])zig. 1S88. 4to.
Nur wcuipro Wissonsrhaften sind in einem solchen ^faasse auf die gemeinsame Arbeit
aller gebildeten Nation«*n angewiesen, als die Ethnographie. Ist es doch nicht Vielen
vergönnt, die Schätze fremder Sammlungen durch eigenen Augenschein und zeitraubendes
Studium >:enaiier kennen zu lernen, ganz abgesehen davon, dass manches Stück, welches
weitgeh«*nde ethnographische Ausblicke gestattet, überhaupt aus dem Besitze fremder
Vrdker nicht loszulösen ist. Wollen wir also unsere ethnographischen Kenntnisse zu mög-
lichster Abnindung bringen, so bedürfen wir getreuer Schildenmgen in Wort und Bild,
denn in keinem 3Iuseum der Welt finden sich die Erzeugnisse irgend eines Volkes in einer
solchen Vollständigkeit vertreten, dass nicht das eine oder das andere Stück aus anderen
Sammlungen als nothwendiges und erklärendes Bindeglied dazwischen zu treten hätte.
Was aber l>i>her auf diesem (jel)iete veröffentlicht wonlen ist, das unterlag naturgemäss
einer unendlichen Zersplitterung: es fand sich in einer endlosen Zahl von ZeitiSchriften
und Monographi(M>u zerstreut, von denen dt*m einzelnen F<>rscher viele nur mit grosser
Mühe, andere ülierhaupt gamiclit zugänglich wurden. Mit grosser Freude und mit voll-
berechtigten IIotTnungen müssen wir daher die Gründung eines internationalen Archivs
für Ethnographie l»egrüssen, in welchem jeder wissenschaftliche Arbeiter je nach seinem
Belieben in deutsrhtT. h«dlündischer, französischer oder englischer Sprache die Ergebnisse
seiner Forschungen niederlegen kann.
Für die (Jedie^enheit und Lebensfähigkeit des neuen Unternehmens bürgen einerseits
die Herausgeb»»r und nam»*ntlich der dunh den clas»isch«*n ('atah)g des Museums Godeffroj
bekannt'' Rfdarteur. andererseits die ausserord^'utlich grosse Anzahl derjenigi»n. welche
der neut'u Zfitscjjrift ihre Mitarbeitt-rschaft zugesagt habi'U und von denen ein nicht
geringer Theil tiurch seine Lebensstellung so recht mitten in der Fülle des wissenschaft-
lichen Materials steht Dass es gerade Leiden ist, von wo das internationale Archiv für
Ethn<»^ra])bie seiiu'U Ausgang nimmt, das hat auch seine volle, man möchte sagen, seine
g»*Nchirhtlirhe B«'re(htigun^'. War es doch Leiden, von wi> in den 40er Jahren durch die
A»fst«'lhmg drr jai)anis«hen Sammlung v. Siebold's drr Ansti»ss gegeben wurde zu that-
kräftigt'r ('tlin<>gra{)hisrb<'r Ftirschung; bc{>:ann man doch jetzt erst allmählich die Einsicht
zu ^«'winncn. dass nicht philosi»phisch(> Speculationen, sondern nur ein ernstes, syste-
matisches Sainineln und «'in genauem, man kann wohl sagen, naturwissenschaftliches Studiiun
der einzein«*u <n»grnNtlhide unsere Kenntniss der Ethnographie zu fordern vennag. Diese
«aiialytixh«* Kllmographi«*- ist es g«'ra«le, welche die in zweimonatlichen (.^uartheften
er.s«h»'in«'n«le neiu' Zeitschrift zu pflej^en l>ea}»sichtigt. Das erste Heft führt uns auf seinen
[\'2 Seiten mit 20 FigJiren im Tt*xte und l\ sehr s<*hön ausgeführten, reichen Farbentafeln
eint II Vefsiirb einer Sy>teniatik der Neu- Guinea -Ffeile von Hm. Serrurier und Mit-
theilungen über di'U Maudau, die eigenthümliche Hiebwaffe der Dajaken von Koetei, seine
Verfertigung, seine Ausschmmtkung und seine Rangesabzeichen von Hrn. Tromp, dem
früheren Residenten von Koetei, vor. Dann folgen kleinere Abschnitte unter den Titeln:
132 Bespreclrangeii.
Kleine Notizen und Correspondenz, Sprechsaal, Museen und Sammlungen, Bibliographische
TJebersicht, Büchertisch, Reisen u. s. w. Für die nächsten Hefte sind Abhandlungen in
Aussicht genommen von Büttikofer (Leiden): üeber die eingeborenen Stämme der Neger-
republik Liberia; Langkavel (Hamburg). Pferde und Naturvölker; Martin: Ri^sume des
acquisitions du musee d'Ethnographie a Stockholm pendant les ann6es 1881 — 87; Bahnson:
Das Königl. ethnographische Museum in Kopenhagen; Schmoltz: Nachträge zu: Die
ethnographisch -anthropologische Abtheilung des Museum Godeffroy; Schmeltz: Südsee-
Reliquien; Woldt (Berlin): die Cultusgegenstände der Golden und Giljaken; vonLuschan:
die Sammlungen von Cook und Forster im Berliner Museum für Völkerkunde: von
Luschan: Das türkische Schattenspiel; Ten Kate: Ethnographische Gegenstände aus
Surinam; Harmsen: lieber einige Battah- Kalender; Helfrich, "Winter und Schiff:
het Hassan- Hussein of Taboetfeest te Benkoelen; Parkinson: Beiträge zur Ethnologie
der Gilbert -Insulaner; Schoor (Leeuwarden) : Mdmoires sur Torigine des terpes Frisones
(Habitations lacustres). Es werden diese Angaben genügen, um die Reichhaltigkeit des
gebotenen Stoffes zu ermessen. Wir wünschen dem neuen Unternehmen eine recht rege
Theihiahme und ein recht glückliches Weitergedeihen. Max Bartels.
Oscar Baumann. Eine afrikanische Tropen -Insel: Fernando Pöo und
die Bube. Mit 16 Dlustrationen und einer Originalkarte. Wien 1888.
VI. 145. (M. 5.)
„Das dritte Zeitalter der Entdeckungen naht sich seinem Ende'', so äusserte sich der
Vorsitzende der Gesellschaft für Erdkunde in deren ersten diesjährigen Sitzung. Dieser
Satz ist gewiss richtig, wenn man unter ^Entdeckungen'' das zufällige oder beabsichtigte
Auffinden von Festlanden und Inseln, von bisher unbekannten Hochgebirgen Strömen,
Seen u. s. w. versteht. Mit demselben Recht darf aber wohl auch behauptet werden, dass
gerade heute das Zeitalter der intensiveren, der auf begrenzte grössere oder kleinere
Länder und Inseln sich beschränkenden Entdeckungsreisen gekommen ist. Die Periode
der Weltumsegelungen, Durchquer ungen u. s. w. liegt hint«r uns, wir nähern uns dem Zeit-
alter der Einzelbeschreibungen.
Dass es noch Vieles in der Welt zu entdecken giebt, und zwar durchaus nicht etwa
im centralen Australien oder Afrika allein, sondern auch in Ländern, bezw. Inseln, die
von Europa aus in wenigen Tagen auf Dampfern zu erreichen sind, dafür liefert die vor-
liegende, bei gediegenstem Inhalte flott geschriebene und sehr gefällig ausgestattete Arbeit
des österreichischen Forschers Dr. Oscar Baumann den besten Beweis.
Fernando Po ist seit 416 Jahren von Europäern entdeckt und steht seit ungefähr der-
selben Zeit unter europäischer Herrschaft und Verwaltung. Dennoch leben heute, nur wenige
Meilen von der Küste entfernt. Tausende von Eingeborenen, die nicht nur nichts von dem
Vorhandensein eines Königs von Spanien wissen, sondern die nie in ilirem Leben jemals
einen Weissen gesehen haben. Wie der Verfasser sagt, hat er auf dieser kleinen Insel
des dampferdurchfurchten Guineameeres des Neuen und Interessanten in anthropologischer,
ethnographischer, geographischer, kurz in jeder Beziehung viel mehr gefunden, wie jemals
im centralafrikanischen Kongogel)iete.
Wir können uns beglückwünschen, dass Dr. Baumann sich an den StanleyfTillen von
Prof. Lenz trennte und, statt denselben auf der in mancher Beziehung vielleicht dank-
bareren, jedenfalls aber ruhmreicheren Afrikadurchkreuzung zu begleiten, sich von der
Westküste nach Sta. Isabel, dem Hafen- und Hauptorte von Fernando Po, einschiffte, um
von dort während einer beinahe zwei Monate langen Fussreise, bei beschränkten Mitteln
recht bescheiden ausgerüstet, die bisher beinahe vollkommen unbekannte Insel zu erforschen.
Ein nie versiegender Humor und ein ausserordentliches Talent, mit Eingeborenen zu ver-
kehren, haben ihm über alle Gefahren und Beschwerden hinweggeholfen.
In den ersten drei Kapiteln schildert uns Bau mann seine Route, auf welcher er die
Insel von Norden nach Süden und von Westen nach Osten in ihrer ganzen Ausdehnung
durchkreuzte, stets bestrebt, durch Besteigung von Berggipfeln sich möglichst zu orientiren.
BesprAchnngen. 133
Das geographische flrgebniss der Reise, die dem Buche beigegebene Karte, ist jedenfalls
die beste, die heute von Fernando Po vorhanden ist.
Vom vierten Abschnitte an wird die Stellung der Insel in der Vulkankette des Guinea-
meeres, die Fauna. Flora derselben, sowie ihr so übel berüchtigtes Klima besprochen.
Ueber letzteres bemerkt der Verfasser: ..Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Fernando
P(So, wenn auch nicht viel besser, so doch unbedingt nicht schlechter für die Gesundheit
des Europ&ers ist, als andere Plätze an der Westküste Afrika^s. Ich selbst war auf dem
viel gepriesenen oberen Kongo durch Dysenterie dem Tode nahe und habe mir bei ruhiger
Lebensweise in Kamerum ein schweres hämaturisches Fieber geholt. Während meiner
Wanderungen in Femando Poo dagegen, wo ich täglich durchnässt wurde, oft im Freien
campiren musste und auf eingeborene Nahrung beschränkt war, erfreute ich mich, kleine
Unwohlsein abgerechnet, der besten Gesundheit "
Das fünfte und sechste Capitel beschäftigen sich ausschliesslich mit den eigenartigen
Eingeborenen der Insel, den Bube. Verfasser betont deren Gegensatz zu den Dualla von
Kamerun und hält es für fast zweifellos, dass die ersten Entdecker schon Vertreter der-
selben Rasse auf der Insel vorfanden. Er schätzt deren Zahl heute auf 20— '25 000; der
Sprache nach gehören sie zu den Bantuvölkem, ein Negertjpus ist bei ihnen kaum hervor-
tretend. Das Anfertigen von Zeugen oder Matti'n ist ihnen unbekannt, ebenso wie die
Cultur des Maniok. Sie verstehen es, sich durch Signale auf einer Pfeife auf weite Ent-
fernungen zu verständigen.
Ueber die religiösen Anschauungen der von ihm besuchten Stämme enthält sich der
Verfasser, im Gegensatz zu manchen anderen ^ Afrikareisenden*', ausdrücklich jeglichen
Urtheils.
In den beiden Schlussabschnitten werden die Geschichte der Insel, die gesellschaft-
lichen Verhältnisse ihrer heutigen, «civilisirten" Bewohner u. s. w. behandelt. Auch diese
Kapitel werden dem jugendlichen Verfasser, - vielleicht abgesehen von einigen Betbrüdern,
Prohibitionisten , Anti-Slavery- Schwärmern und ähnlichen Herren, — nur Freunde
gewinnen. —
Zum Schlüsse möchte sich Referent noch eine kurze Bemerkung über die Schreib-
weise «Fernando Pöo" erlauben. Dr. Bau mann bat dieselbe gewählt, weil sie die heute
officielle spanische ist. Demnach müssten die Spanier das Wort .,P6-o*^ aussprechen.
Das thun sie aber nicht, sondern sie nennen die Insel wie Jodermann ^Fernando Pö*", und
darum dürfte die Schreibart ,P6o" unrichtig sein, trotzdem sie officiell ist. Der Ent-
decker hiess, so viel Referenten bekannt ist, Femam do Po („Ferdinand Staub** oder „von"
Staub). Dass hieraus sehr bald ^Fernando Po"" wurde, ist leicht erklärlich. Ramusio
(1663 I. p. 13) schreibt allerdings «Femando da Poo-, indess dürfte ^da- auf jeden Fall
unrichtig sein. Die englischen Karten verzeichnen durchgehend „P6", vielleicht um zu
verhüten, dass der Engländer das Wort ,,Poo" wie ,,Puh" ausspräche. Jedenfalls liegt die
Sache heute so, dass entweder die Herren der Insel einen Fehler machen, indem sie
«P6o" schreiben, oder aber die Söhne der Insel sprechen deren Kamen falsch aus.
Auch der von Dr. Bau mann gewählte Name „S'/o Thomo" erscheint nicht unanfecht-
bar. Der Venezianer Ramusio J.. p. 113 E. F.) schreibt zwar ebenfalls „San Thome".
Welcher Nation soll aber dieser „lieilige Thome" angehören? Einer europäisch -romanischen
wohl schwerlich, denn ,,Thomas", wie die Engländer wiederum ganz richtig schreiben»
heisst auf spanisch: „Tomas", portugiesisch: „Thomas'*, italienisch: „Tommaso" u. s. w.
Die portugiesischen Behörden schreiben und drucken allerdings auch ,,S. (d. h. Soo) Thomö",
indess wird dadurch noch nicht bewiesen, dass diese Schreibart richtig ist. „Anno hon**
(S. 71 und 111) ist jedenfalls nicht richtig; das Wort muss .^nno bom" geschrieben
werden. W. J.
Joachim Graf Pfeil. Vorschläge zur praktischen Kolonisation in Ost-
Afrika. Berlin, Rosenbaum & Hart. 1888. 8. 79 S.
Die kleine Schrift stellt sich als das colonialpolitische Testament des Verfassers,
wenigstens in Bezug auf Ostafrika, dar. Angesichts des neuen Landes, in welchem er
von jetzt an seine colonisatorischen Fähigkeiten entfalten boll, aus der Torres- Strasse, hat
134 B^sprechnngeii.
er die Vorrede geschrieben. In 3 längeren Kapiteln bespricht er den deutschen
Besitz in Ostafrika, die verschiedenen möglichen Formen der Kolonisation, die Leistungs-
fähigkeit des afrikanischen Bodens und die Verwerthung der Neger zur Arbeit in recht
nüchterner, objektiver Weise. Ein Zweifler könnte daraus ungezwungen den Schluss
ziehen, dass die Kolonisation von Ostafrika ein unmögliches Problem sei. Indess im
letzten Kapitel bringt der Verfasser «Vorschläge zur praktischen Kolonisation OstÄfrikas."
Ob er diesen Titel absichtlich gewählt hat statt der zu erwartenden -praktischen Vorschläge
zur Kolonisation Ostafrikas", wird je nach dem Standpunkte der Leser verschieden beant-
wortet werden. Verfasser ist der Ansicht, dass der Neger ohne Zwang nicht zum Arbeiter
zu erziehen ist; da er sich aber überzeugt hat, dass eine staatliche Verwaltung für Ost-
afrika nichts taugen und die Unterhaltung einer eigenen Militärmacht unausführbar sein
würde, dass namentlich durch Schutzzölle ein genügendes finanzielles Aequivalent für die
erforderlichen Ausgaben zur Unterhaltung einer «Exekutivmacht** nicht zu erzielen wäre,
die förmliche Sklaverei aber auszuschliessen ist. so gelangt er zu einem sehr complicirten
Systeme von Vorschlägen, von denen in der That schwer anzunehmen ist, dass sie sich
als praktisch bewähren würden. An die Spitze stellt er die Forderung, dass die Arbeits-
kraft des Negers gegen entsprechenden Lohn in Anspruch genommen werde. Zu diesem
Zwecke soll dem Neger ein bestimmter Aufenthaltsort (Location) vorgeschrieben werden,
in dem er seinem eigenen Feldbau nach Gewohnheit obliegen kann, aber zugleich unter
Controle (Oberaufsicht) gestellt wird. Für den Fall -sonst nicht mit Erfolg zu bekämpfen-
der dauernder Widersetzlichkeit ** will Verfasser sich der Hülfe von Stämmen, welche wegen
ihrer Kriegstüchtigkeit in Ansehen stehen, versichern. Endlich sollen für die Locationen
Handelsconcessionen ertheilt werden unter der Bedingung, dass nur Handelsartikel deut-
schen Ursprunges eingeführt werden, und es soll den in Arbeit befindlichen Schwarzen
eine Abgabe auferlegt werden. Wie leicht ersichtlich, culminirt dieses System in der
Constituirung kriegstüchtiger Stämme als «Exekutivmacht**. Verfasser theilt in dem Vor-
wort mit, dass er auf diese Idee durch seine Berührung mit den Mahenge gekommen ist,
welche ihn ^fortwährend aufforderten, ihnen zu helfen, andere Stämme zu bestrafen, wofür
sie sich erboten, ihm nach Unterwerfung derselben eine Anzahl Sclaven zu geben, um in
ihrem Lande einen permanenten Wolmsitz einzurichten.** Von diesem Plane bis zu der
hoffnungsvollen Schwärmerei des Verfassers, .ein kriegsfreies Gebiet zu schaffen, in
welchem wir solche Dörfer, welche sich unseren Maassnahmen unterwerfen, ansiedeln"*,
ist freilich kein weiter Schritt, aber wodurch sich die Bewohner dieser Dörfer von Sclaven
unterscheiden würden, möchte schwer zu sagen sein. Denn der „kriegsfreie - Zustand
würde wohl nicht anders herzustellen sein, als durch blutige Kriegs- und Raubzüge, und
die -Unterwerfung unter unsere Maassnahmen** würde sicherlich nichts weniger als ein
Akt der Freiwilligkeit sein. Ob ein derartiger Vorchlag jemals zur Grundlage eines prak-
tischen Versuchs, die ostafrikanische Frage zu lösen, gemacht werden wird, steht sehr
dahin. Jedenfalls dürfte die Lektüie des Buches, das von einem lange in Ostafrika thätig
gewesenen und der Colonisationsidee in höchstem Maasse zugeneigten Manne geschrieben
ist, manchen Enthusiasten abkühlen. Rud. Virchow.
Emil Schmidt. Dio ältesten Spuren des M(»n8chen in Nordamerika. Samm-
lung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge von R. VJRCHOW
Fr. V. HOLTZENDORFF. Hamburg, J. F. Richter, 1887. Neue Folge,
zweite Serie, Heft 14/15.
Rasmus B. Anderson. Die erste Entdeckung von Amerika, übersetzt von
M.Mann. Ebendascdbst 1888. Dritte Serie, Heft 49/50.
Vorstehend genannte beide Vorträge beziehen sich auf die vorkolumbische Zeit des
neuen Kontinents, denn die von Hm. Anderson erörterte erste Entdeckung betrifft die
Seefahrten der Skandinavier, welche nach der Auffassung des Verfassers Columbus bekannt
waren und die Grundlage seiner Pläne bildeten. Die einzelnen Vorgänge werden aus-
führlich geschildert und die Orte der damaligen Landungen möglich präcisirt.
Besprechaof^en. 135
Von besonderem Werthe ist die sorgfaltige Arbeit des Hm. E.Schmidt, der mit
philologischer Genauigkeit Alles gesammelt hat, was bis jetzt' an Zeugnissen für die
Hesohaffenheit des prähistorischen (nicht des präcoiunibischen) Menschen in Nordamerika
vorhanden ist. Die unsicheren und zweifelhaften Funde werden zurückge¥ne8en; trotzdem
bl«»il>t ein reiches Material, welches die Existenz des Menschen in der Quartftrzeit (Diluvium)
bewiist. Aber der Verfasser geht weiter. Er vertheidigt auch die Richtigkeit der An-
gaben über die Existenz des tertiären Menschen, namentlich unter den vulkanischen Tuften
(Kaliforniens. Sicherlich sind seine Mittheiluugen in hohem Grade beachtenswerth. Das
Einzige, was man gegen ihre Beweiskraft anführen kann, ist der Umstand, dass alle diese,
wie es scheint, dem Pliocen angehörigeu Funde zufällig gemacht vorden sind und meist
in die Hände unachtsamer oder mangelhaft vorbereiteter Männer fielen. Es ist gewiss
sehr zu bedauern, dass an den genügend bekannten Fundstellen keine planmässig geleiteten
Nachforschungen veranstaltet worden sind, aber auch so wird man zugestehen müssen
dass unter allen, der Tertiärzeit zugeschriebenen Funden von menschlichen Resten oder
Erzeugnissen menschlicher Arbeit die califomischen den ersten Rang einnehmen.
RüD. ViRCHOW.
Jakob HEIERLI. Pfahlhauten. Neunter Bericht. Mittheilungen der Anti-
quarischen Gesellschaft in Zürich. Leipzig 1888. 4. 66 S. mit 21 Tafeln.
Der vorliegende Bericht schliesst sich den berühmten 8 Heften an, in welchen
F. Keller die älteren Pfahlbaufunde in mustergültiger und für alle Zeit bedeutungsvoller
Weise geschildert hat. Der Verfasser hat sich in ausgiebigster Ausdehnung der Mit-
wirkung der erfahrensten und zuverlässigsten Forscher versichert, wie des Hm. Leiner
für die Stationen des Bodensees, des Hm. v. Fellenberg für die Gebiete der Jurawasser-
Korrektion und den Bieler See, des Hrn. V. Gross für den letzteren und einige Nachbar-
stationen, des Hm. Forel für den Genfer See, u. A. m. Es ist damit eine authentische
Uebersicht dieser wichtigen Funde hergestellt worden, die um so mehr als dankenswerth
bezeichnet werden muss, als wenigstens ein grosser Theil der Stationen als erschöpft oder
doch für lange Zeit nicht mehr zugänglich bezeichnet werden nmss. Der Gedanke, dass
dieser Bericht überhaupt der letzte sein werde, ist trotzdem vielleicht nicht ganz zutreffend,
denn auch die letzten Jahie haben wieder manche neue Fundstelle kennen gelehrt, so
namentlich am Bodensee. bei Zürich und am Murtener See, — eine Erfahmng, die um
so tröstlicher erscheint, als jede spätere Untersuchung mit neuen Gesichtspunkten an die
Forschung herantritt und positive Erweitemngen des Wissens an })isher unbeachtetem
Material ergiebt. Es mag zur Erläutemng dieses Satzes nur an die zahlreichen Kupfer-
funde erinnert werden, von denen der vorliegende Bericht vortreffliche Beispiele in grosser
Zahl beibringt. Dadurch gewinnt die chronologische Klassifikation der einzelnen Stationen
nach und nach eine früher ungeahnte Sicherheit, und es wird immer mehr ermöglicht,
die Parallelen und die inneren Beziehungen der schweizerischen und süddeutschen Pfahl-
bauten mit gewissen Landansiedelungen und Gräberstätten, sowie mit den Pfahlbauten der
Nachbarländer aufzusuchen.
Ein empfindlicher Mangel in dem Berichte ist die rein archäologische Methode der
Darstellung, welche von den schönen Vorbildem, welche Keller geliefert hat, erheblich
abweicht. Von der doch so zahlreichen Fauna der Pfahlbauten ist nur gelegentlich, von
den menschlichen Ueberresten eigentlich gar nicht die Rede, und doch ist davon nicht
nur ein r»*cht erhebliches Material gesammelt worden, sondern es hat auch die Bearbeitung
dessellx'n wichtige (jesichtsj)unkte für die damaligen Völkerbewegungen ergeben. Aber
es wird wohl n<M"}i lange dauem, ehe die Bedeutung der zoologischen und anthropolo-
gischen Fundstücke in das Bewusstsein selbst der eigentlichen Forscher übergeht.
Trotz dieses Mangels wird das Erscheinen des so reich ausgestatteten Berichtes aller-
seits mit Freude und Au«»rkennung l)egrüsst werden. Möge es den schweizer Forschem
bescliii'den s«Mn. n-cht bald einen neuen Bericht dem jetzigen folgen lassen zu können.
KuD. ViRcnow.
136 BesprechnngeiL
Baron WiLH. V. LANDAU. Travels in Asia, Australia and America. P. 1.
New York, London 1888. 16. 80 S.
Verfasser giebt in der kleinen Sclirift eine gedrängte Uebersicht seiner 8jährigen
Reisen «in verschiedenen Theilen unseres Planeten", welche sich meist nicht über die
kürzesten Aufzeichnungen eines Notizbuches erheben, welche aber zahlreiche, für den
Touristen recht nutzliche Angaben über Oertlichkeiten und namentlich über Personen ent-
halten. Der einzige Abschnitt, welcher etwas mehr ins Einzelne geht, behandelt die auf
Veranlassung von Berliner Gelehrten unternommene Reise in die nördlichen Provinzen
von Luzon (p. 53 — 80), die freilich keine entscheidenden Ergebnisse geliefert hat, da dem
Verfasser, wie er angiebt. die Ethnologie bis dahin eine terra incognita war. Er machte
die Reise in Gesellschaft des Hm. A u und mit besonderen Empfehlungen des Commandeurs
der Guardia civil, Hm. Scheidnagel, dessen Schriften über die Philippinen und speciell
über Benguet er lobend hervorhebt Im Laufe von 4 Monaten dehnte er seine Reise über
den ganzen Nordosten von Luzon, namentlich über die Provinzen Nueva Ecija, Nueva
Viscaja, Isabel, Saltan und Cagajan aus. Die verschiedenen Stänmie, welche diese Pro-
vinzen bewohnen, schildert er abweichend von den Angaben des Hm. Blumentritt, dem
gegenüber er auch wesentliche Abweichungen in den Wohnsitzen der einzelnen Stämme
bezeichnet. Negritos sind hier überall zerstreut, jedoch, wie es scheint, in geringer
Anzahl. Er erwähnt speciell einen Stamm derselben, genannt Balugas oder Dumagas,
südlich und westlich von Buler an der Ostküste, Provinz Principe: eine andere Negrito-
Gegend ist bei Maines und Apagaos im Südwesten der Provinz Cagayan, wo er speciell
angiebt, dass sie sich mit Igorroten nicht verheirathen. Zu beiden Seifen des Carabalho
Sur (auf der Grenze der Provinzen N. Ecija und N. Viscaya) sitzen Ibilaos oder Ilongotes
bis zur Ostküste, wo sie (in Cassiguran) Ipogaos genannt werden. Die Ibilaos sind ein
wilder, nur hier und da mehr harmloser Stamm, der Ackerbau treibt und in Monogamie
lebt und dessen Glieder häufig schöne, klassische Gestalt und imponirende Körperkraft
besitzen. Sie begraben ihre Todten in der Nähe ihrer Häuser, an dem Ufer eines Flusses.
Ihre Sitze reichen bis in die Nähe von Bombang. Hier, in Sau Nino, machte der Verfasser
Ausgrabungen und sanmielte einige Schädel und Knochen, welche an den Referenten
geschickt wurden. Letzterer hat darüber in der Sitzung der Berliner anthropologischen
Gesellschaft vom 21. Juli 1883 (Vcrhandl. S. 395} berichtet, glaubte sie aber damals als
Schädel von Igorroten ansprechen zu müssen. Dies wäre also nunmehr zu corrigiren, wobei
jedoch zu bemerken ist, dass auch nach dem Verfasser die Sitze der Igorroten gleichfalls
bis in diese Gegend reichen. ^Die Ibilaos tragen ihr langes Haar in einem Zopf (switch)
um den Kopf, wie die Chinesen: ihre Gesichtstypen variiren von dem ächten breiten
Gesicht des Chinesen mit vortretenden Wangenbeinen bis zu der ovalen Form der kau-
kasischen Rasse*" (p. 6Ü). Bombang ist nach der Ansicht des Verfassers der Mittelpunkt
des grossen Erdbebens gewesen, das 1881 einen grossen Thcil der Provinz N. Viscaya
erschütterte. Schon südlich von dieser Stadt beginnen die Ansiedelungen der eigentlichen
Igorrotes, welche von der grossen Cordillere im Westen und vom Rio Agno eingewandert
sein sollen; sie seien den Igorroten des Benguet durch die Breite der Gesicliter und die
Flachheit der Nasen sehr ähnlich. Eine andere Gruppe der Igorrotes, die Gaddanes,
welche im letzten Jahrhundert von Saltan her einwanderten, sitzt in der Ebene bis zu den
Bergen von Quiangan und Silipan; eine dritte, etwa 30000 Köpfe stark, wohnt in Quiangan,
Silipan imd Mayoyaos. Ihre nördlichen Nachbarn, die Peru gianes, ein anderer Igor-
roten -Stamm, lebt mit ihnen in steter Fehde. Auch die Namen Ifugaos (im Gaddan-
Dialekt) und Calinga bedeuten wilde, nicht getaufte Igorrotes. Entgegen Blumentritt
behauptet der Verfasser, dass das ganze linke Ufer des Rio Cagayan von Igorroten
bewohnt werde, die in 20 oder 2*2 Unterstämme zerlegt würden. Von ihnen stammen die
Schädel, welche Hr. H. Meyer von seiner Reise zurückgebracht hat (a. a. 0. S. 3*.)1).
RuD. ViRCnow.
III.
Der Ursprung der Stadt Zürich,
von
JAKOB HEIERU
in Zürich.
(Hierzu Tafel II— V.)
Julius Cäsar spricht von Dörfern und Städten, welche die Helvetier
verbrannt hätten bei ihrem Auszug nach Gallien. Sollte nicht auch Zürich
darunter gewesen sein? Es lassen sich ja zahlreiche Beweise für eine
vorrömische Bevölkenmg am unteren Ende des Zürichsees erbringen.
Dr. F. Keller zeigte, dass die Kuppe des Uetliberges schon vor der
Bes(»tzung llelvetiens durch die Römer als Refugium gedient hatte, und
zahlreiche (iräber weisen ebenfalls auf jene Vorzeit zurück, so die Hügel-
ji^räber im Burghölzli, deren EröfiFhung Ursache zur Gründung der Anti-
quarischen (lesellschaft wurde (1832), so die Flachgräber im Gabler in
Enge und im Hard bei Altstetten. Wo haben aber die Leute gewohnt,
die ihre Todten in diesen Grabstätten beerdigten? Alte Wohnstätten sind
schwor aufzufinden, da nachfolgende Generationen und Völker die Spuren
ihrer Vorgänger verwischen. Hier und da stösst man indessen doch auf
Spuren von Ansiedelungen der Vorzeit. Oft sind es metallene Geräthe,
Waffen und Schmucksachen, oft nur unscheinbare Scherben. Die Anti-
iiuarische Sammlung Zürich bewahrt in der That auch eine Menge vor-
römischer Artefacte, welche in der Umgebung und in unserer Stadt dem
(irun<ie der Gewässer oder dem Schoosse der Erde enthoben wurden.
Vom ehemaligen Inselchen, auf welchem die altberühmte Wasserkirche
erbaut wurzle, bis hinunter zur Webschule im Letten wurden im Bette
der Limmat zahlreiche Schätze aus der Vorzeit gefunden, und auch ausser-
lialb des Flussbettes kamen mehrere interessante Artefacte zum Vorschein.
Zwei Stellen in der Limmat sind besonders ergiebig gewesen (vergl. Taf. 11);
(lio eine liegt in der Stadt selbst, bei der Rathhausbrücke. Je näher die
Bajrgeruiaschine dieser Brücke kam, um so zahlreicher wurden die Funde,
und als 1S81 die Fundamentirungsarbeiten es ermöglichten, tief unter den
(irund des Flusses zu dringen, da fanden sich neben mittelalterlichen
und röniisdien auch viele vorrömische Artefacte. Nur wenig weiter unten
/•iucbrift für Ethnoloi^le. Jahrg. 1888. IQ
138 Jakob Heierli:
fand man um 1870 bei Herstellung einer Wasserleitung zahlreiche prä-
historische Objecte. Zwischen diesen 2 Fundorten führte einst die römische
Brücke über die Limmat, von welcher man die Widerlager aufgefunden
hat. Die Menge der vorrömischen Artefacte, welche im Flussbette zum
Vorschein kamen, deutet darauf hin, dass hier schon in prähistorischer
Zeit ein Uebergang über die liimmat existirt habe und dass wir das älteste
Zürich wohl in der Nähe suchen müssen.
Die erwähnten Funde bestehen in Waffen, Geräthen und Schmuck-
sachen. Einige derselben verdienen eine specielle Erwähnung. Unter
den Lanzen erscheinen welche von der Form derjenigen, die wir aus den
Bronze -Pfahlbauten kennen. Auch Fig. 3 zeigt ungefähr dieselbe Form,
aber auf den Flügeln sind Spuren von Verzierungen, die wohl auf Bronze-
messern angetroffen werden, bis jetzt aber nie auf einer den Pfahlbauten
entstammenden Lanzenspitze beobachtet worden sind. Ebenfalls aus Bronze
besteht die Lanze, welche Fig. 4 darstellt. Ihre Eigenthümlichkeit liegt
in der spitzovalen ]?orm. Einen ganz anderen Tjrpus aber erblicken wir
in Fig. 7. Zwar bemerkt man die Einziehung in der Mitte des geflügelten
Theiles auch bei Pfahlbau -Lanzen, aber sowohl die Länge dieses Exem-
plares als auch die Art, wie die Flügel unten endigen, ist ganz eigenthüm-
lich. Diese Form kommt in Einzelfunden vor; so wurden bei Zürich, im
Sihlfeld, 3 Exemplare dieser Gattung, im Kies liegend, gefunden. (Vergl.
Anzeiger für schweizerische Alterthumskunde 1884, Taf.'VÜ, 12.) Unter
den Eisenlanzen, welche bei der Rathhausbrücke zum Vorschein kamen,
befindet sich eine Form, wie sie das Berliner Album in Sektion VII, Taf. 8
von Aliensbach wiedergiebt, daneben aber kommt ein breiter, flacher Tjrpus
vor (Fig- 5)' ^^r römisch sein mag. Ein Unikum ist dargestellt in Fig. 8.
Diese Lanze wurde zwar nicht in der Limmat, sondern im Pfahlbaugebiet
des grossen Hafner, unweit des Ausflusses derselben aus dem See, auf-
gefunden. Form und Grösse sind auffallend, die Technik findet sich bei
La Tene-Lanzen wieder. Es wurden nehmlich 2 Eisenblätter über einem
Dorn zusammengeschweisst, welcher die Mittelrippe hervorbrachte.
Etwas oberhalb des Rathhauses fand man einen Brenz edolch mit
2 Nieten; er hat die Form des aus Auvernier stammenden Stückes, welches
Gross abbildet in den Protohelvetes Taf. XV, 33. Was die Schwerter
anbetrifft, welche in Zürich dem Bett der Limmat enthoben wurden, so
fand sich das in Fig. 13 dargestellte bei der Wasserkirche. Es gehört zu
einem Tjrpus, bei welchem die Klinge mittelst weniger Nieten an den Griff
befestigt wurde. Diese Schwertform wurde in Pfahlbauten gefunden, z. B.
in Nidau und Sutz, aber auch in Depotfunden, wie in Hohenrain (Kanton
Luzem), wo etwa 20 Schwerter dieser Art unter einem St(un beisammen
lagen, ferner in Gräbern der Bronzezeit, wie in Stirzenthal bei Egg (Kanton
Zürich). Das durch seine Grösse ausgezeichnete Bronzeschwert (Fig. 10),
welches oberhalb der Rathhausbrücke in Zürich gefunden wurde, zeigt eine
Der Uwpninj? der Stadt Zürith. 139
Form des Konzniiotypus. <U»r in PfalilbauttMi fl(»r Bronzoporiodo nicht stdten
mip»tn)ffi»ii wurde», aber aucli sonst vorbn'itc^t ist (ver^i:!. z. B. BASTIAN
und Voss, Bronzesehw«»rtor, I, 3). Fij<. 12 stellt (»ine jj^rtusr. flacln» EistMi-
srliiiMio mit oincMn Dornte dar. Man hetraoht(»t sie als ein angefanjj^enes
Seliwert, mit wcdclnmi Rechte, majj; hit»r unerörtert bleiben. Interessant
jedoch ist. «hiss nnui in der Limmat nicht blos (»inzelne Stuckte fand,
sondern auch ein <i^anzes Bilndol von etwa 20 solchen Schienen. Bekannt-
lich kommen sie auch in La Teiie vor.
Die Ilandwerksgerilthe aus der Limmat treten auf in Form von
Beilen, Messern und Meissein. Die Ilausj^erathe sind repräsentirt durch
Spinn wirtel. Webji:ewichte, (iu(»tsch(»r, al)«:(»8ehen von Scherben weniger
(lefSisse. Die Bronzeangel diente d(»m Fischfange, die Bronzesicheln
und Hacken aus Hörn und Knochen aber bildeten Ackerwerkzeuge.
Besonders hervorzuheben sind die Beile. Dass Steinbeile, durchbohrt
odtT undurchbohrt. häufig sind in der Nahe dreier Pfahlbaustationen, setzt
uns nicht in Krstaunen; aber unter den Metallbeilen, welche unter und
bei der Rathhausbrücke gefunden wurden, kommen einige seltene Tyi>en
vor. Ein daselbst zum Vorschein gekommenes Kupf<»rbeil hat die bekannte
einfachste Form: mainiigfaltiger 8in<l die Bronzebeile gestaltet. Die Form
mit 4 Schaftlappen, wie sie besonders aus Pfahlbaufunden bekannt ist,
konnnt zwar auch vor, indes8(»n tritt sie zunlck gegen die löffelartigen
Beile, w(»nn für diese Gerathe der Name Beil ub(Thaupt gebraucht werden
dürfte (Fig. 27, 2^, 34). Ein anderer Typus tritt uns entgegen in Fig. 24,
welcher auch in Einzelfunden unserer Gegend nicht selten erscheint.
Höchster Beachtung werth aber sind die 2 Ei8enb(»ile, welche, von ver-
seil ieclenen Seiten dargestellt, unter Fig. 25 und 2() abgebildet sind. Das
eiin» wurde beim Bau der Kathhausbrücke gefunden, das andere (»twas
oberhalb d(»r8elben. Beide zeigen die Form der Lappencelte mit etwas
verbndterter Schneide. Wir haben also hier di(» Nachbildung eines Bronze-
typus in Eisen. Derselbe kommt, wenn auch in etwas anderer Form, im
(iraberfidde von Ilallstatt vor, ist mir aber in der Schweiz bis jetzt noch
nit» begegnet. Fig. 81 stellt ein Tüllenbeil vor, das auf dem Uto gefund(»n
wurde; o'm ganz ähnliches stammt aus der oberen Limmat. Dieses Eisen-
beil erscheint auch in La Teno und in vielen Ansie^lelungen und (iräbem
aus d<»m letzten Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung.
Die Schmucksachen aus der liegend der Kathhausbrücke bestehen
in Na«leln, Gürtelhaken und Bingen. Dass der (türtelhaken (Fig. 17) vor-
römisch ist, wag<» ich nicht zu behaupten. Was <lie Schmucknadeln an-
Ix'tritft, so treten sie in Formen auf, die wohl aus Einzelfunden, nicht aber
aus Pfahlbauten bekannt sind und in unsi*ren Gegenilen bisher auch in
Grabern nicht gefunden wurden (vt»rgl. Fig. 3tK 4<), 48, 50). Dolchartige»
Nadebi sind dargestellt in Fig. 3H, 43. Auch diese Formen kenne ich
140 Jakob Heierli:
nicht aus Pfahlbauten, wohl aber aus vorrömischen Ansiedelungen der
Schweiz und als Einzelfunde.
Beim Bau der Rathhausbrücke wurde auch eine Münze gefunden,
aus Potin bestehend. Dieselbe zeigt auf dem Avers das gehörnte Pferd
der Gallier und auf dem Revers den Caduceus. Solche Münzen fanden
sich in La Tene und in der Tiefenau bei Bern, wo V. BONSTETTEN ein
helvetisches Schlachtfeld entdeckt zu haben glaubte.
Der zweite Fundort vieler vorrömischer Gegenstände liegt zwischen dem
sogenannten Drahtschmidlistege beim Zusammenfluss von Sihl und Limmat
und dem städtischen Wasserwerke im Letten (vergl. Taf. 11). Als 1877 der
Kanal gebaut wurde, der das Limmatwasser zu den Turbinen führt, da
kamen, besonders zahlreich in der Mitte der ganzen Strecke, sehr viele
Objecto zum Vorschein, von denen die einen dem Mittelalter angehören,
andere aber zurückweisen auf die Periode der Römerherrschaft in Helvotien
oder gar auf noch ältere Zeiten. Sowohl in der Richtung gegen die Stadt,
als flussabwärts werden die Funde selten, und es wurden nach Mittheilung
des leitenden Ingenieurs nur wenige Stücke oberhalb des Drahtschmidli-
steges und nur' 2 Objecto bei der sogenannten Platzpromenade, der Land-
zunge zwischen Limmat und Sihl, aufgefunden.
Unter den Schmucksachen, welche im Letten zum Vorschein kamen,
sind besonders die Nadeln zahlreich vertreten. Darunter befinden sich
Typen, die aus Pfahlbauten genugsam bekannt sind, andere aber kommen
in den Seedörfem selten oder nicht vor, so z. B. die Mohnkopfnadeln, die
in Gräbern der Bronzeperiode häufig sind, in der Nordostschweiz sowohl
wie im Elsass und Baden (vergl. Anzeiger für schweizerische Alterthums-
kunde 1887, Taf. XXXIII). Auch grosse, gereifte Nadeln fehlen im Letten
nicht. Eine Bronzespange (Fig. 16) repräsentirt diejenige Form, welche in
Pfahlbauten auftritt, die Objecto aus dem Beginne der Bronzezeit enthalten
(vergl. „Meilen" in Pfahlbaubericht I). Interessant sind einige Fibeln aus
dem Letten. Es fanden sich nehmlich eine typische Früh -Tene -Fibel
(Fig. 18) und 2 Fragmente von Spät-Tene -Fibeln (Fig. 15).
Was die Geräthe anbetrifft, so sind sie unterhalb der Stadt weniger
zahlreich, als in der oberen Limmat. Angeln und Knopfsicheln von Bronze
zeigen wenig charakteristische Formen. Unter den Beilen erscheint der
LöfTelcelt, daneben aber mehrere Formen, die in unserer Gegend neu sind,
wie der Absatzcelt (Fig. 29) und der eigenthümliche Typus in Fig. 35.
Noch mögen 2 andere Bronzebeile beigefügt werden (Fig. 22, 28). Auch
Eisenbeile treten auf, und zwar Tüllenbeile. Das eine weist di(»selbe
Form wie Fig. 31 auf, trägt also eine ganz geschlossene Tülle, während
bei der anderen Form (Fig. 30) diese nur unvollständig geschlossen
erscheint.
Die Waffenfunde, welche zwischen Drahtschmidli und Wassen^'erk
gemacht wurden, bestehen in Bronze -Lanzen und Schwertern, wozu man
Der Unprung der Stadt Zürich. 141
nocli einige sogenaimtü angefangene Schwerter zählen mag. 2 Schwerter
bestellen aus Bronze. Das eine (Fig. 11) gleicht dem Funde bei der
Wasserkirche, das andere aber zeigt einen Flachgriff, der mittelst Nieten
mit einem llolzgriff verbunden wurde. Fig. 1) stellt diesen Typus dar.
Kr findet sioli besonders häufig in Ungarn, ist aber auch aus Mykenae
bekannt geworden. Etwas unterhalb des Wasserwerkes kam aucli ein
Eisenschwert zum Vorschein, das noch einen Theil der Eisensclieide trägt.
Es ist ein Früh -Ija-Tene- Seh wert, wie solche in der Nähe Züriclfs, z.B.
auch auf dem Uetliberge, aufgefunden wurden.
Alle (legenstände, welche in der Gegend des Tjotten zum Vorschein
kamen, lagen ganz zerstreut und in Kies eingebettet. Merkwürdig ist das
vollständige Fehleu von Scherben. Viele Uegenstände sind beschädigt,
zerbrochen oder verbogen. Der Fundort liegt der Mündung der Sihl
gegenüber, am rechten Ufer der Limmat.
In bemerkenswerthem Contraste zu den zahlreichen Funden aus der
Limmat steht nun die geringe Zahl der Objecto, welche ausserhalb des
Flussbettes aufgefunden wurden. Schon oben haben wir der prächtigen
Bronzelanzeu aus dem Sihlfeld Erwähnung gethan. In der Nähe des Fund-
ortes derselben kamen auch Steinbeile und Feuersteinsplitter zum Vor-
schein. In AViedikon bei Zürich fand man einen Lappencelt und einen
bearbeiteten Knochen (Eleu?) in den Lehmlagem am Fusse des Uto. Auf
der Wollishofer AUmend und in Hottingen w^urden Steinbeile der Erde
enthoben, in Wipkingen, unweit des Letten, Bronzebeile und ein Dolch.
Was die eigentliche Stadt betrifft, so hat sie, mit Ausnahme einiger wenig
charakteristischer Fundgegenstände, nicht viele prähistorische Artefacte
geliefert. Da ist der prachtvolle Bronzedolch (Fig. G) zu erwähnen, der
im Schanzengraben beim Botanischen Garten gefunden wurde; da siud
einige Objecto, die aus den Anlagen beim alten Stadthause stammen. Im
Uebrigen ist es der Lindenhof, dieser historisch interessante Punkt der
Stadt, zu dessen Füssen einstmals die Kömerbrücke die Limmat über-
spannte, der einige Zeugen längst verklungeuer Tage bewahrt hat. Bei
den Grabungen, die im Jahre 1837 von der Antiquarischeu Gesellschaft
auf dem Lindenhofe vorgenommen wurden, kamen Scherben zum Vor-
sihein. die von Uaud verfertigt waren und Fragmente roher Gefasse dar-
stellten. Aehnliche Scherben mit Verzierungen fand man am Nordwest-
abhange des Lindenhofes und ganz am Fusse desselben bei der Werdmühle,
wie eim» hinterlassene Notiz Dr. F. KELL£R's berichtet. Zwar könnten diese
Scherben auch aus romischer Zeit stammen, denn warum sollten nicht die
llelvetier auch nach ihrer Rückkehr aus Crallien noch Gefiässe nach alter
Väter Sitte bereitet haben, wenn ihnen auch römische Töi)fereitechnik
nicht mehr lange unbekannt bleiben konnte. Im Oetenbach beim Lindenhof
wurde ein durchbohrter Diorithammer gefunden. Es scheint also die
(legend des Lindenhofes, die von den Römern als geeigneter Platz für
^'
142 Jakob Heierli:
•ein Castell angesehen wurde, schon in vorrömischer Zeit Sitz der Bevöl-
kerung gewesen zu sein. Daher die zahlreichen prähistorischen Funde
bei der Rathhausbrücke, wo die Limmat den Puss dieses Hügels, der
durch seine Lage recht eigentlich zur Besiedelung einlud, berührte. Steil
strebl der Lindenhof aus dem Wasser empor, und wenn wir eine Fort-
setzung suchen, so scheint sie zu fehlen. Und doch ist er nur ein übrig
gebliebenes Stück eines langen Zuges, der sich halbkreisförmig durch die
Stadt Zürich zieht, aber freilich theilweise verschwunden ist. Er ist ein
Stück der Stimmoräne des Linthgletschers, der einst vom Tödi bis nach
Zürich gereicht haben muss.
Als im Jahre 1878 KELLER im 8. Pfahlbauberichte die Lettenfunde
beschrieb, da glaubte er, dass in jener Gegend ein Pfahlbau bestanden
haben müsse, und auch in Bezug auf die damals noch ganz vereinzelten
Artefacte, welche der oberen Limmat entstanmiten, nahm er an, dass
im Flusse eben schon in der Vorzeit einzelne Fischerhütten gestanden
hätten, wie es noch im vorigen Jahrhunderte der Fall war. Die Fund-
objecte schienen ihm nicht hergeschwemmt zu sein und vollständig
mit Gegenständen aus Pfahlbauten übereinzustimmen. Wir haben aber,
gestützt auf ein viel grösseres Yergleichungsmaterial, gefunden, dass,
wenn auch Pfahlbautyj)eu nicht ganz fehlen, doch viele Formen vor-
kommen, die jünger sind. Wir begegnen da sogar den wohlbekannten
römischen und La Tone -Formen. Als man die Rathhausbrücke fun-
damentirte, da fand man auch keine Culturschicht, wie sie sich im Laufe
der Zeit sicher gebildet hätte, wenn Leute bleibend in Pfahlhütten über
der Limmat gewohnt hätten. Ebensowenig kam eine Culturschicht im
Letten zum Vorschein. Ausserdem fehlen Gegenstände, die bei einer
Ansiedelung immer zu finden sind, so Sclierben, Früchte, Reste von Geweben
u. s. w. Und erst die Pfähle! Wenn sich aus der Steinzeit die Pfähle der
Seedörfer erhalten haben, warum sollten sie hier verschwunden sein? Aber
könnten nicht unsere Funde von einer Ansiedelung beim Ausfluss der
Limmat herrühren ? Ein Fluss, der so ruhig aus einem Seebecken abfliesst,
wie es hier der Fall ist, hat zu wenig Stosskraft, um Gegenstände so weit-
hin zu verschwemmen. Freilich kommt unterhalb der Moräne dia oft
reissende Sihl in Betracht, und wenn je eine Wohnstätte im Bereich der
Hochwasser dieses Flusses gestanden hat, so werden wir Zeugen der zer-
störenden Gewalt des Wassers, wie Hausgeräthe, Waffen, Schmucksachen,
etwa da zu suchen haben, wo die Sihl ihre Stosskraft verliert, wo sie auf-
prallt, wie es von der Platzpromenade bis zum Letten der Fall war und
noch ist. Können aber so kleine Gegenstände, wie Sehmuckuadeln, her-
geschwemmt sein? Freilich wohl: wenn der tobende Fluss den Grund
aufwühlte und Sand, Schlamm und Steine fortfegte, warum sollen nicht
(bis 40 cm lange) Nadeln weiter geschwemmt worden sein? Wir haben
gesehen, dass viele Gegenstände defect sind, und auch das spricht nicht
egen die Auaicht, daaa im Letten zugeschweuimte Artefacte gefunden wurden.
Der Ursprung der St4idt Zürich. 143
Könnte aber nicht doch da eine Ansiedelang unterhalb der Stadt
boHtandcMi haben? Auf der heutigen Platzpromenade kann man sich eine
prähistorische Wohnstiltte nicht denken, da noch nie eine Spur einer solchen
daselbst «gefunden wurde und sie zudem im Ueberschwemmungsgebiete der
Sihl gelegen hätte. Beim Drahtschmidli lässt sich eine Ansiedelung auch
nicht annehmen, da gerade dort ein jetzt freilich fast ganz verbauter Wild-
bach mündete, der gewiss manchmal arg tobte; hat er doch eine tiefe
Schlucht im (fclände ausgepflügt. Und sollten denn wirklich die ersten
Landbewohner unserer (legend ihre Niederlassung in einem Wildbach-
gebiete angelegt haben und nicht auf dem Lindenhofe oder am Gehänge
des Zürichberges? Weiter unten, im Letten, wäre allerdings eine An-
siedelung denkbar, aber die Annahme einer solchen erklärt uns nicht die
Funde oben im Flusse. In der Gegend des Letten bestand dem-
nach weder ein Pfahlbau, noch eine Ansiedelung auf dem festen
Lande. Die daselbst gefundenen Gegenstände müssen durch
die Sihl hergeschwemmt sein.
Wo mag nun die Stätte sein, der sie entstammen? Sobald wir diese
Frage zu beantworten suchen, begeben wir uns auf das Gebiet der Hypo-
tliese; aber der forschende Menschengeist sucht eben doch jedes Dunkel
zu durchdringen und mit einem Lichtstrahle, sei es noch so dürftig, zu
erhellen. Die Sache scheint mir übrigens einfach zu sein und ergiebt
sich aus dem Gesagten:
Schon lange vor unserer Zeitrechnung war der Lindenhof Sitz einer
Bevölkerung. Denken wir uns nun diese Ansiedelung gedeihend und
wachsend, so muss sie sich immer weiter ausgedehnt haben. Das mag
besonders im Osten und Süden der Fall gewesen sein, und gewiss haben
am Ufer der Limmat schon zur Zeit der Helvetier Häuser gestanden.
Aber auch nach Westen und sogar nach Norden rückte das anwachsende
Zürich immer tiefer am Abhänge hinunter, wie die vorrömischen Funde
im Oetenbach und bei der Werdmühle es beweisen. Nun konmien einige
starke Hochwasser der Sihl, das eine oder «las andere erreicht die am
ti(»fsten stehenden Hütten und viele Gegenstände, vielleicht ganze Häuser
werden fortgeschwemmt und weiter unten abgelagert, z. B. beim Zusanimen-
stosa der Silil mit der Limmat, im TiCtten. So erklärt sich nicht blos die
Kinbettung der Funde im Kies, sondern auch deren zerstreute Lage, indem
die Fluthen bald weiter oben, bald weiter unten sich in das Limmatbett
ergossen. Ks (»rklären sich hierdurcli auch jene Funde, die in der heu-
tigen Platzpronieiiade gemacht wurden. Es erklärt sich das Fehlen der
(/ulturschiclit, die Abwesenlieit von Geweben und (leflechten, von Scherben,
Pfalili'u, Sämereien u. s. w. Es wird begreiflich, warum manche Metall-
sachen zerbrochen oder beschädigt sind. Wir haben im Letten die
Reste iler theilweise verscliwemmten Ansiedelung Zürich. Die
Funili» in d*»r oberen liimmat, wie diejenigen im l^etten unten rühren von
144 Jakob Heieru:
derselben Wohnstätte her. Die Wiege der künftigen Stadt aber
war der Lindenhof.
Gehen wir noch über zu der Prüfung des Alters unserer Stadt, so
scheint die Entstehung derselben in dunkle Vorzeit hinaufzurücken. Wenn
die Stein -Artefacte nicht charakteristisch genug sind, um schon zur
Steinzeit eine Ansiedelung in Zürich zu constatiren, und auch das Kupfer>
beilchen als ein vereinzelter Fund wenig beweisend sein mag, so ist doch
die Zahl der Gegenstände, welche übereinstimmen mit solchen aus Bronze-
stationen der Pfahlbauten und aus Gräber^ der Bronzezeit, so gross, dass
wir unbedenklich annehmen dürfen, die Ansiedelung auf und am Linden-
hofe habe schon vor der sogenannten Eisenzeit existirt. Die letztgenannte
Periode ist ebenfalls durch mehrere Funde vertreten, und die jüngsten
vorrömischen Funde, z. B. die Tüllenbeile und die Potinmünze weisen auf
das letzte vorchristliche Jahrhundert, also auf die Zeit der Helvetier.
Wahrscheinlich war auch Zürich unter jenen Städten und Dörfern, welche
dieses Volk vor seinem Auszuge verbrannte. Das vorrömische Zürich
hat demnach über ein halbes Jahrtausend hindurch bestanden.
Als es vor einigen Jahren gelungen war, dieses Resultat als einiger-
maassen gesichert darzustellen, da handelte es sich um die weitere Auf-
gabe, ähnliche vorrömische Ansiedelungen aufzusuchen. Wirklich wurden
in verschiedenen Theilen der Schweiz solche entdeckt, und es ist zu
erwarten, dass sich die Zahl derselben noch weiter vermehre, so dass die
Berichte der römischen Geschichtsschreiber über die Helvetier recht bald
vervollständigt werden können durch die Ergebnisse der archäologischen
Forschung, und das Culturbild des untergegangenen Volkes neu aufglänze
in späten Tagen.
Erklärung der Abbildungen auf Tafel III— V.
Fig. 1 und 2. Bronzelanzen, gefunden im Letten.
^ 3. Bronzelanze, gefunden beim Bau der Rathhausbrücke.
„ 4. Desgl., gefunden unterhalb der Rathhausbrücke.
„ 6. Flache Eisenlanze, gefunden beim Bau der Rathhausbrücke.
y, 6. Dolch, gefunden bei der Katze im Schanzengraben in Zürich.
„ 7 Aus der Limmat, oberhalb der Rathhausbrücke; Bronze.
„ 8. Vom Grossen Hafner bei Zürich; Eisen.
y, 9. Bronzeschwert, gefunden im Letten bei Zürich.
„ 10. Desgl., gefunden in der Limmat, oberhalb der Rathhausbrücke.
^ 11. Desgl., aus dem Letten.
„ 12. Aus dem Letten: Eisen.
„ 13. Bronzeschwert aus der Limmat. Wasserkirche.
„ 14. Messer aus dem Letten: Bronze.
„ 15. Aus dem Letten bei der Webeschule: Bronze.
„ 16. Bronzespange, gefunden 1877 im Letten.
„ 17. Bronze, gefunden oberhalb der Rathhausbrücke.
„ 18. Fibula, aus dem Letten.
„ 19. Aus der Limmat: Stein.
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Der Ursprung der Stadt Zürich. 145
Fig. 20. Aus der Limmat: Serpentin.
., 21. Aus der Limmat, zwischen Rosen- und Fortunagasse: Stein.
., 22. Bronzeheil, gefunden im Letten.
„ 23. Desgl., von ebendaher.
., 24. Aus der Limmat, oherhalh der Rathhaushrücke.
^ 25. Kisenbeil, gefunden bei der Rathhaushrücke. Vorderansicht
., 2G. Desgl.. gefunden oberhalb der Rathhaushrücke. Seitenansicht.
., 27. Hronzecelt, gefunden unterhalb der Rathhaushrücke, Limmat.
., 28. Desgl., von ebendaher.
^ 29. DesgL, aus dem Letten.
, 30. Tüllenbeil, nicht ganz geschlossen, gefunden im Letten. Eisen.
, 31. Eisenbeil mit geschlossener Tülle, gefunden auf dem Uetli berge.
^ 32. ßronzecelt, gefunden beim Bau der Rathhaushrücke.
• 33. Bronzebeil aus dem Letten bei Wipkingen, 1880.
.. 34. Desgleichen, von ebendaher.
, 35. Desgleichen, ^ „
^ 36. Nadel aus der Limmat, oberhalb der Rathhaushrücke.
, 87 und 38. Nadeln aus dem Letten.
• 39. Nadel aus der Limmat, oberhalb der Rathhaushrücke.
., 40 — 42. Nadeln aus dem Letten.
., 43. Nadel aus der Limmat, oberhalb der Rathhaushrücke.
y, 44 und 45. Nadeln aus dem Letten.
., 46. Nadel aus der Limmat, oberhalb der Rathhaushrücke.
• 47. y, „ dem Letten.
^48. , „ der Linunat, oberhalb der Rathhaushrücke.
^49. „ „ dem Letten.
„50. „ „ der Limmat, oberhalb der Rathhaushrücke.
Bei dem Gürtelhaken (Fig. 17) verläuft der Wulst^ welcher den Rand des mittleren
Theiles bildet, in die Platte, welche den Haken trägt, müsste also in der Zeichnung an
diesem Theile sich allmählich verlieren.
Die Fussplatte an der Fibel (Fig. 18) ist ganz flach; von dem ursprünglich darauf
genieteten Belag aus Glas haben sich nur Spuren erhalten; die Lithographie macht aber
den Eindruck, als sei derselbe noch intact vorhanden.
Die Wasserkirche, auf dem Plan Taf. II leider nicht besonders hervorgehoben,
liegt hart am rechten Ufer der Limmat, anmittelbar neben der ersten Brücke, vom See
aus gerechnet
.••.
• •
IV.
Eintheilung und Verbreitung der Berberbevölkerung
in Marokko.
Von
M. QUEDENPELDT.
(Fortsetzung von Seite 130.)
Die meisten der im vorhergehenden Abschnitte aufgezählten Stämme
der Breber stehen, ähnlicli den Rif- Berbern, nicht unter der Botmässigkeit
des Sultans. Nur vereinzelte Kabilen der Gruppe, z. B. die Geruän und
die Semür-Schilh, sind wenigstens nominell abhängig. Auch bei einigen
Stämmen im Tadla- Gebiete unterhält der Sultan Käid's in partibus. Dass
diese Beziehungen indessen sehr lose sind, beweist am besten die erst im
Herbste 1887 geschehene Ermordung des französischen Kommandanten
Schmitt») durch die Semilr.
In Folge dieses aufrührerischen Verhaltens ist der Sultan gezwungen,
um seiner Autorität bei diesen Stämmen nicht ganz vorlustig zu geli(»n,
fast alljälirlich Expeditionen, Harka's, in das Breber -Gebiet zu unter-
nehmen; es ist aber nicht ausgeschlossen, dass solche Züge einen für den
Sultan ungünstigen Verlauf nehmen. So haben gegenwärtig, Sommer 1888,
die Truppen der Regierung durch die Beni-Mgill eine arge Schlappe
erlitten, weshalb der Sultan eine starke Macht regulärer Truj)pen auf-
geboten hat, um diesen Stamm zu züchtigen. Die Ilarka's gegen die
Berber der Gruppe II richten sich überdies meist nur gegen die im Westen
und Norden an das Beled el-machsin grenzenden Kabilen. Die Stammt»
im Innern oder im östlichen Theile des Gebietes, wie die Ait Atta, Ait
Ssedrät, Ait Jussi u. s. w., bleiben von ihm vollständig unbehelligt.
Ganz besonders ist es das (fcbiet der Eingangs erwähnton bei<len
Tribus, der Geruän und Semür-Schilh, sowie der Distrikt von Tadla, welche
der jetzt regierende Sultan Mulai Hassan bekriegt. Der französische
Artillerie -Kaj)itän Kkc'KMANN, welcher als Chef d(T „Mission militaire
frangaise au Maroc" mehrere Jahre hindurch dem Hauptquartiere des Sultans
\) Vergl. hierüber meine , Mittheilungen aus Marokko und dem nordwestlichen
Sahara- Gebiete-, Greifewald 18«H, S. 3.
Eintheiliing und Yerbreitim^ der Berberbevölkerung in Marokko. 147
attachirt war, giebt uns in seinem erwfthnton Werke: „Lo Maroc moderne"
eine Soliilderung und Statistik der unter <ler Regierung von Muläi Hassan
ausgeführten Expeditionen.
Beßndet Hicli <ler Sultan in den südliehen Landesth(nlen, beispiels-
weise in scMuer Hauptstadt Marrakesch^), so ereignet es sieh gar nicht
selten, dass die vielleicht eben in einer Harka besiegten Breber im Norden
des (lebietes sich wieder empören und die nahe gelegene Stadt Miknüss
belagern.
Ein geschiditlich registrirter, sehr blutiger Breber- Aufstand, welclier
der marokkanisclien Dynastie leicht hätte unheilvoll werden können, fand
in den Jahren 1818/19 statt, und richtete sich gegen den damals regierenden
Sultan Mulai Ssulimän*). Der Leiter dieses Aufstandes war ein einfluss-
reidier Menibid der Breber im Oebiete von Tadla, der Armjiar (Scliecli)
Mehausch. ORABERG VON HEMSÖ giebt (a. a. 0. S. 191 u. f.) eine ein-
gehende Schihlerung von dem Verlaufe dieses Aufstandes. ^)
Nach Mulai Ismail, dem Zeitgenossen Louis XIV. (regierte 1672 — 1727),
hat es keiner der folgenden Sultane gewagt, auf dem direkten Wege zwischen
den beiden Residenzen Fäss und Marrakesch das Breber- Gebiet zu passiren.
Die gewöhnliche Route des jetzigen Sultans, auch wenn er von noch so
beträchtlidien Streitkräften begleitet ist, führt stets durch die ebenen,
westlichen Provinzen, wobei er der Küste ziemlich nahe kommt.
Die mehrfadi erwälnite, arabisch redende Kabila Sa ir, welche dem
Breb(T- Gebiete im Nordwesten benachbart wohnt, ist gleichfalls nur zeit-
weilig unterworfen. Dieser mächtige Stamm verfügt über eine grosse
Anzahl von Pferden der vorzüglichsten Qualität, welche an Güte denen
von 'Abda und Dukkala niclit nachstehen. Leute vom Stamme der Sa'lr
nannten mir die Zalil 40 000 als Bestand der vorhandenen Pferde, was ich
aber für zu hoch gegriffen halte. Diese Tribus nähert sich zu gewissen
Zeiten des Jahres, besonders im Frühling, <len Städten Rabat und Sslä
an der Westküste?, um dort ergiebige Weidegründe aufzusuchen, voraus-
gesetzt, «lass sie gerade zur Regierung in freundschaftlichem Verhältniss
stehen. Sonst unternehmen die Salr auch wohl in grossen, berittenen
Trupps Raubzüge* in <lie Provinzen Schauija*) und Haus Rabat und unter-
1) Die Residenz der marokkanischen Sultane ist keine stfindige, sondern eine ambalante,
and wechselt zwischen den beiden Hauptstädten Fäss und Marokko. Seit Mulai Ismall
residiren die Sultane häufig in Miknäss. Der jetzige Sultan nimmt auch gelegentlich in
der Stadt Rabat an der Westküste längeren Aufenthalt.
2) Mulai Ssulimän (gespr. Ssliman) Ben Mohammed regierte 1795 — 1822.
3) Ein Nachkomme des Anngar Mehausch, gleichen Namens, ist noch heutigen Tages
eine sehr angesehene Persönlichkeit in dortiger (tegend. Er dirigirt die im östlichen,
gebirgigen Theile von Tadla lebenden Breber, während die im westlichen, ebenen Theile
dieses Distriktes wohnenden, mehr arabisirten Breber dem Ssidi Ben Daud in Bejäd gehorchen.
4) M. E. Henoit (l)escription geograpbique de Tempire de Maroc, Vol. VIII der Explo-
ration scifMitifique de TAIg^rie, Paris 1846) sagt p. 877 und dH4, sich a\L< UvjucttQwc^
148 M. Qded£Nfbldt:
brechen die Verbindung zwischen der letzteren Stadt und Casablanca
(Dar el-beida). Sie sind durchgängig unter Zelten wohnende Nomaden,
und dieser vollkommene Mangel an festen Wohnsitzen macht es ihnen
leicht, sich der Verfolgung der Regierungstruppen zu entziehen. Beim
geringsten Alarm brechen sie ihre Zelte ab und flüchten landeinwärts.
Die Regierung sucht sich für solche Unbotmässigkeiton dadurch zu revan-
chiren, dass sie den Kaufleuten in Rabat und Sslä verbietet, mit den Sa ir
Handel zu treiben, sie also gewissermaassen boycottot. Das war auch im
Jahre 1886, bei meiner letzten Anwesenheit in Rabat, der Fall. Damals
hatten sich bei einem kurz vorher stattgehabten Besuche des Sultans die
Sä'lr- Leute in demonstrativer Weise femgehalten. Kein Einziger von ihn(»n
hatte den Ort betreten, anstatt, wie die übrigen umwohnenden Stämme,
dem Sultan Abgaben und Geschenke zu Füssen zu legen. Für dieses
Gebahren wurden die trotzigen Gesellen in Acht und Bann erklärt, und
sogar die europäisclion Kaufleute wurden gebeten, ihnen keinerlei
Waaren, sei es gegen Baar, noch weniger aber auf Kredit zu verabfolgen.
Auf diese zeitweisen Einfalle der Sä'ir in die Provinz Schauija soll
sich vielleicht die Angabe auf der kleinen Karte bei ReCLUS (Bd. XI S. (>5())
beziehen, in welcher die Proportionen des Beled el-machsin zum Beled
ess-ssiba dargestellt werden, und die ganze Provinz Schauija, mit alleiniger
Ausnahme eines schmalen Küstenstriches, als zu letzterem gehörig durch
Schraffirung gekennzeichnet ist. Dies ist jedoch unrichtig; die grossen
Ebenen an der Westküste, der westliche Garb, Dukkala, Schauija u. s. w.,
sind durchaus der Regierung untertliänig.
Bei der grossen Kriegstüchtigkeit und der numerischen Ueberlegenheit
der Breber in ihrer Gesammtheit über die Truppen des Sultans könnten
diese tapferen Stämme der bestehenden Regierung leicht ernste Gefahren
verursachen, wenn nicht besonders zwei Umstände es wären, welche doch
stets die Ueberlegenheit der Sultansherrschaft aufrecht erhielten. Dies ist
einmal die Artillerie, über die der Sultan verfügt und vor welcher die
Berber, wie alle Naturvölker, einen gewaltigen Respekt haben, und femer
die Uneinigkeit der Stämme unter einander. Es bestehen unter den ein-
zelnen Kabilen, theils der Blutrache wegen, die bei allen Berbern für eine
heilige Verj)flichtung gehalten wird,*) sowie wegen anderer Difl'erenzen
beziehend, dass die Bewohner dieser Provinz eine Fractdon der im Süden der Provinz
Constantine, im Aures- Gebirge, wohnhaften Schauija seien. Dies ist unrichtig, denn wie
ich schon im vorigen Abschnitte erwähnte, sind die marokkanischen Schauija Araber,
während die algerischen Berber sind. Erstere sind zum grössten Theile Nomaden, letztere
sesshaft. Ebenso wenig richtig ist es, wenn Renou die Sair und die Beni Mtir zu den
Schauija zählt Das vorstehend Gesagte gilt niu* von der Gegenwart; dass vor der
Eroberung des Landes durch die Araber ein Zusammenhang zwischen den Bewohnern
dieser beiden Gebieti$tlieile obgewaltet hat, darauf deutet die Ucbereinstimmung der Namen
hin; nach Reclus soll die Bezeichnung vom arab. Schaui, Schafhirt (?), abgeleitet sein.
1) Das berberische (wenigstens das in der algerischen Kabjlie gebräuchliche) Wort
Einthoiliing und Verbreitung der Berherhevölkerung in Marokko. 149
fortp»8otzto Kampfe, die sieh sogar bis auf die einzelnen Sippen und
Familien erstreeken und die mitunter Generationen hindurch andauern.
Weleh be<leutende Dimcmsionen solche Zwistigkeiten mitunter an-
nehmen, beweist ein Gefecht, welches sich die Ait Atta und die Ait Mejixad
im Frühjahn^ 1888 bei «ler Oase Tiluin lieferten. In diesem Kampfe,
dessen Ursaclu» Terrainstreitigkeiten waren, sollen all(»in 2000 Todte, un-
gerechnet di(» zahlreichen Verwunderten, auf beiden Seiten geblieben sein.
Wenn <li(»ser Kampf auch nach dem, was ich über denselben im Lande
horte, einer der bedeutendsten gewesen ist, welche je zwischen einzelnen
Stummen 8tattgefun(h»n haben, so ist die ang(»gebeno Zahl gewiss zu hoch
geschätzt; SCHAUDT (a. a. O. S. 408) spricht nur von über 1000 Getödteten
uml Verwundeten.
Oftmals verst<dit es auch der Sultan, durch Versprechungen den einen
od(»r d(m and<»r(»n Breber- Stamm auf seine Seite zu bringen und ihn sich
zum Bunelesgenossen gegen eine andere Tribus zu machen. So sucht er
namentlich mit der mächtigen, dem Beled el-machsin benachbarten Kabila
Salan unter allen Umständen Freundschaft zu halten. Durch Geschenke
und Ehrenbezeugungen weiss er die angesehenen Familien für sich zu
gewinnen; er hat sogar seine Schwester mit einem der einflussreichsten,
bei den Saian h»b<Miden Scherife, Namens Ssidi Mohammed el- Amräni,
verheiratli(»t. Er unterhält auch «lie besten Beziehungen zu Mulai el-
Fedil.^) In Folge di(»ses klugen Verfahrens sind die Saian, obwohl un-
abliängig, <lennoch meist Verbündete des Sultans, so z. B. b(M seinem Feld-
zuge» im .lahn» 1883 gegen die Stämme von Tadla. Sie g(»statten dem
Sultan sogar <li(» Ernennung eines Kaid für ihr Gebiet, welcher indessen
absolut machtlos ist.
Bei (h»n unsicheren Zuständen im Breber- Gebiete würde eine BcTeisung
dessedben auch für Einheimische, Mohammedciner und Jud(»n, aus d(»n
Städten <U»s Beled el-machsin fast unausführbar sein, wenn nicht ein eigen-
thümlicher, w(»it verbr(Mtet(»r (lebrauch das BetretiMi des Beled ess-ssiba
«lennoch möglich macht(». Es ist dies eine Art von Protectionssystem,
welclies d(»n Besucher eines Gebietstheile» unt(T den Schutz eines dortigen
Stammesangehörig(»n, meist eines einflussreichen Mannes, stellt. Im Grunde
dürfte eine solche Einriclitung dem Charakter und den räuberischen
Gewohnheiten der Breber nicht entsprechen: sie wünh»n lieber Jeden, der
ihr (rebiet betritt, ausplündern, auch wohl trnlten. Indessen haben sie
für -Blutschuld" ist «tamogert", die arabische Bezeichnung «rekha**. Beide Ausdrücke
bedeuten wörtHch -Nacken". Die Redensart .eine rekha schulden" hat also dieselbe bild-
liche Bedeutung wie .ein Haupt schulden". Siehe A. Hanoteau und A. Lbtoürnettx :
La Kabylie et les coutumes kabvles, Paris 1878, Vol. III. p. 60.
1 Dieser einflussreichste aller bei den Saian besonders verehrten Schürfa gehört
ebenso, wie die Familie der 'Amräni, zu den Schürfa Drissiin. Von Mulai Edriss (bestattet
in Serhon) stammen auch der bei den Beni Mtir sehr verehrte Mulai el-MadAni und der
bekannte Mulai 'Abd ess-Ssaläm el-Uasäni ab.
150 M. Qubdenfeldt:
durch Einführung dieses Brauches aus der Noth eine Tugend gemacht,
um sich nicht selber vom ITandcd und Wandel ilirer Nachbarn gänzlich
auszuschliesseu. Ich meine die Institution der „'Anäia", welche folgender-
maassen geübt wird:
Nähert sich ein Reisender, aus dem Beled el-machsin kommend, dem
(fobiete des ersten unabhängigen Stammes, so macht er an einem geeig-
neten Orte, ehiem Duar oder einer „Nesäla",^) Halt und setzt sich von
dort aus schriftlich (mittelst eines Boten) oder durch einen gemeinsamen
Freund mit einer einflussreichen Persönlichkeit des betreffenden Stammes
in Verbindung. Gewöhnlich erscheint alsdann diese selbst an der bestimmten
Stelle oder schickt eine zuverlässige Mittelsperson. Es wird darauf der
Preis für den Schutz im Gebiete dieser Tribe verabredet, welcher meist
ein sehr massiger und bescheidener ist. Dafür giebt der Zusicherer der
*Anaia dem Reisenden entweder persönlich oder durch seine Leute bis an
die Gebietsgrenze seines Stammes schützendes Geleit (setata). Von da aus
erhält derselbe durch Vermittelung seines bisherigen Begleiters eine neue
*Anäia und eine neue Eskorte, und so geht es weiter, bis das Reiseziel
erreicht ist. Diejenigen, welche diese Eskorte bilden, werden „setat"
genannt. Ihre Zahl wechselt ausserordentlich: in manchen Fällen genügt
ein Sklave eines mächtigen Scherif, um den Reisenden ungefährdet durch
das Gebi(»t zu geleiten, oder sogar ein kaum dem Knabenalter entwach-
sener Sohn oder Verwandter desselben; an anderen Orten ist wieder eine
ganze Anzahl Bewaffneter erforderlich.
Der Gebrauch der'Anäia wird oftmals auch mit dem Namen „mesräg"
l)ezeichnet. Dies ist das arabische Wort für „Lanze'*, und es soll die An-
wendung dieser Benennung auf die ganze Einrichtung daher kommen,
weil man in früheren Zeiten dem Schützling als sichtbares Zeichen des
Schutzes seine, d(»n Stammesgenossen bekannte, Lanze mitgab.-).
Die 'Anaia bildet die hauptsächlichste Einnahmequelle für mächtige
Familien, da naturgemäss diese vorzugsweise um ihren Schutz angegangen
werden. Denn man darf sich nicht blindlings j(»dem beliebigen Stammes-
mitgliede anvertrauten, da es oft genug vorkommt, dass die *Anäia in mehr
oder mindcT schwerer Weise gebrochen wird. Im Stiche lassen während
des Marsches, sogar Aus])lünderung Avr Reisenden durch die Geleitsmänner
1) Gesprochen -Insäla", bedeutet wörtlich : «Abst^igeplatz", vom Verbnm nasal, hinab-
steigen, absteigen. Man versteht darunter in ganz Marokko eingefriedigte Plätze an den
Wegen auf dem platten Lande. Meist sind diese Plätze mit einer Umwallung von dem
stacheligen Gestrüpp des Ziziphus lotus, selten von einer Stf^inmauer umgeben. Der Rei-
sende kann hier gegen ein geringes Entgelt sicher übernachten.
2) Gegenwärtig ist der Gebrauch der Lanze in Marokko, mit alleiniger Ausnahme
einiger Breber- Stämme, welche neben ihren Gewehren noch kurze Spiesse führen, völlig
nnbekannt. Nur zwei Muchasenla oder Lehensroiter, welche dem Sultan bei feierlichen
Gelegenheiten stets voraufreiten, führen lange Lanzen von polirtem Holze mit vergoldeten
Spitzen. Diese Leute hcissen Mesergia (Sing. Mesergi).
Eintheilufifir un<i Yerbreitanp der Rerborbevölkeruiif? in Blarokku. 151
sellmt o(h»r «lureh mit «lioson im EinvcTatftmliiisfl haiulolndo Räiib(»r — (Jas
Kind <li«» ^(>w()hnlic)iAton Formen, iintor donen eine Vorlotzunj»: <1ok zu-
j(«»8icli(»rteii Schutz<»8 vorkommt. Für jimIoii Roisendon ist <lah(>r <lio j>:rö8Rt(»
Vorniolit in dor Auswahl B(»inoft Bosehützers geboten. Milchti«?o und oin-
fluKsndc'lio Fami]i<Mi werden solche Treulosigkeiten niemals bej^ehen, wenn
nicht aus ei^encMii Ehrfi^efühK doch schon aus iler Be8or«;ni88, ihr Renomme
und ilamit ihn» Einnahmt» aus der 'Anaia zu verlieren.
Zu bem«»rken ist, dass <dnem Europä(»r, so bald er als solcher kcMint-
lich ist, ein sicheres (Jeleit überhaupt nicht «gewährt werden würde.
Diese 'Anaia tritt übrij^ens nicht nur als Sicherstell un<^ für Reisende,
sondern auch in d<?n verschiedensten anderen Form(»n auf. Jeder „Schutz",
j^lei«'hviel welch(»r Art, wird mit diesem Namen bezeichnet. So kann sich
ein wegen der Blutrache oder sonstiger (»rblicher Fehden Verfolgter zeit-
weise unter die Anäia irgend eines Angehörigen der eigenen oder sogar
der Uegenpartei, scdbst einer Frau stellen, beispielsweise, wenn er das
Territorium seines Stammes für immer verlässt, oder um eine Unt<»rredung
mit seinem Wid(»r8acher abzuhalten.*)
Diejenige Form, unter welcher einem Schwächeren seitens des Mäch-
tigen nicht nur zeitweise, sondern lebenslänglich dessen Schutz gewährt
wird, führt den Namen „Opfer", Debiha.*) Der officielle Ausdruck, wenn
man den Schutz eines Angehörigen des Stammes auf Lebenszeit vorlangt,
ist: „ihm opfern", „<lebeh alih". Dieser Ausdruck kommt von dem alten
Bniuch, der heute imr noch bei ganz besonderen Umstänclen angew(»n<let
wird: auf <ler Schwelle des Mannes, dessen Schutz man begehrt, einen
Hammel zu schlachten.') Derjenige, welcher die Debiha begehrt, ver-
pflichtet sich seinem Beschützer gegenüber zu einer geringen jährlichen
Abgabe; nur (»inige besonders Reiche und Mächtige machen (»s sich zur
Ehrensache, nichts für ihren Schutz zu verlangen. Der Vertrag wird von
einem Taleb zu Papier gtd)racht und von d(Mi Oontralient(»n unterzeichnet.
Es gehört zu den Selt<»nheiten, dass ein Patron seinen Klienten verräth
oder preisgiebt. Wer dies thut, fällt <ler allgemeinen Verachtung anheim.
In jed«*m Stamm«' oder in jetlem Orte, wo man sich läng«»re Zeit aufhalt(>n
will, muss man eine Debiha schliessen. Für die Sicherheit Solcher, welche
1 Verj^'l. Hanoteau und Letoitrneux l. c. Vol. III. p. 77: L^änala" est la sauvogardo
accord<^o ä celni, qui so trouve sons le conp d'uno poursuite, d'une vcngeanre, d'un danger
present ou iinminent. Le Kahyle soumis a la rekba, Tetranger qui craint des represailles,
Ic voyageur qui redoute une attaque, sont couverts par PanaTa aussi loin que s'ötend le
pouvoir ou ]*inf1uence de cclui qui la donne.
2) Dieser Brauch, welcher aus uralter Zeit stammt und fast überall im Beled ess-ssiba
existirt, wurde nach Foicalld p. 130 von den alton Arabern -Djira" genannt. FouCAin.D
citirt: Caussin de Perceval, F'ssai sur Thistoire des Arabes avant Tislamisme, pendant
Tepoqiie de Mahomet et jusqu'a la reduction de tuutes les tribus sous la loi musuhnane.
3) Die gleiche Sitte wird oftmals geübt, wenn eine Privatperson oder ein Stanmi die
Verzeihung eines Mächtigen (amän; enQehen will. Vergl. hierüber meine Mittheil. S. G83
der Verhaiidl. d. Zeitschr.. Jahrg. 1886.
152 M^' Qubdbnpbldt:
einen ausgebreiteten Handel im Beled ess-Ssiba treiben, ist diese Institution
unerlässlieh. Bei Nomadenstänimen nimmt man die Häupter der einfluss-
reichsten Familien zu Beschützern; in den Kssar's ist es Sitte, sich an den
Schech zu wenden. Die Debiha ist erblich; sowohl die Söhne des Patrons
wie die des Schützlings bleiben an die Abmachung ihrer Yäter gebunden.
Zwei Dinge allein können diese freiwillige Vasallenschaft ungültig machen :
das Aufhören des Tributs, zu dessen Zahlung sich der Klient verpflichtet
hat, oder Verrath von Seiton des Patrons.
Ebenso, wie unter Privaten, giebt es eine Debiha unter ganzen Stämmen.
Will sich eine einzelne Person unter den Schutz eines Stammes stellen,
so giebt es hierfür zwei Wege: entweder die Debiha eines Mitgliedes oder
des Stammes in seiner üesammtheit zu verlangen. Da alle Stammes-
brüder untereinander solidarisch sind, so ist der Effect beider Maassnahmen
derselbe. Gewöhnlich werden sich einzelne Personen, kleinere Familien,
isolirte Kssar's u. s. w. unter die Protection eines Einzelnen stellen; dagegen
schliessen grössere Fractionen oder Districte die Debiha mit ganzen Stämmen.
So stehen beispielsweise die Ida-u-Bellal, ein Araberstamm, über welchen
ich später noch einige Mittheilungen mache, in einem Schutzverhältnisse
zu den „Breber'* im engeren Sinne, und sie können demzufolge, ohne
fürchten zu müsscin, ausgeplündert zu werden, in dem Gebiete dieser letz-
teren reisen oder sich aufhalten. Ebenso, wie Private, können auch ein-
zelne Stämme gleichzeitig mehrere Schutzstamme haben. Die Ermor-
<lung eines Schutzbefohlenen wird von dem Patrone stets blutig g(>rächt,
und hieraus entspinnen sich dann endlose Fehden, da naturgemäss die An-
gehörigen d<»r anderen Partei ihrerseits wieder Genugthuung suchen.
Beim Eintreten eines Unfalles ist für den Klienten der Schutz eines
Einzelnen wirkungsvolhT, wie der eines ganzen Stammes, indem unter
einer so vicdköpfigen Menge, wie sie ein Stamm re])räs(Mitirt, stets Meinungs-
verschiedenheiten herrschen und auch der Einz(»lne kein persönliches
Interesse für das Wohl und W^ehe des Schützlings zu haben pflegt. Wenn
von zwei im Schutzverhilltniss stehenden Tribus <li(» gegenseitigen Ver-
pflichtungen nicht oder nur mangelhaft erfüllt werden, so gilt das V(»r-
hältniss für gebrochen und ein Krieg ist die gewöhnliche Folge. Der
schwächere Stamm sucht sich alsdann eine andere Debiha.
Auch bei den algerischen Kabylen ist der Gebrauch der *Anäia sehr
ausgedehnt. In dem vorzüglichen Werke von llANoTEAU und LeTOURNEUX
finden sich eingehende Mittheilungen darüber, wie die 'Anaia gehandhabt
und ein Bruch demselben geahndet wurde. Alles darauf Bcvzugliche ist
dort in bestimmte Formen und Gesetze gebracht. Seit der Besitzergn»ifung
Algeriens durch die Franzosen sind natürlich <liese Bräuche, so w(»it s\o
mit französischen (lesetzcMi collidiren, sehr «eingeschränkt oder officiell ganz
unterdrückt worden.
Einige wenige marokkanische Stämme, wie die Geruän, die Ait
Kiutheilun^ und Vorhreitun^ der Berberl»(>vöIkorun^ in Marokko. lf)3
Uafolla 11. K. w., ilbon die *Aiuua als Hef2;l<Mtiiii<>: von Keisoiiddi niclit.
Die orstenMi lassen sich in jedem Duar. den der lleisemle ])assirt, eine
Abj;al)e bezahlen; «liesellx» wird von B(»waftneten. welehe den We»>; ver-
s|n»rren, eingefordert. I)i(» Ait Uafelhi «»rheben von jedem Lastthiere
nnd von jedem Jnden, welehe ihr (Jebiet betreten, einen Frank als ZolP).
Ueisend(*, welehe die (»rwähnten Abgaben erlej^. habeiu sind ^gleichfalls vor
Plfln<lernng sicher.
Diese Zwanjj^szoUe «»rscheinen gerinj^ im V(»rhaltnis8 zu denen, von
welchen uns ROHLFS^) berichtet Kr erzahlt, dass die Beni M«j;ill zur
Zeit S4'in<'r Reise die Atlaspässe in ihr<*m Distrikte besetzt hatten und
nicht imr von jedem Tjastthien? 8 Francs Zoll, sondern auch noch an<ler-
weitij^c», «i;anz willkürliche Abfi;aben erhobc^n. Dah(»r wurde die» Karawanen-
strasse von Fftss nach Tafilelt nur 8(»hr wenig benutzt, vielmehr zogen dio
Reisen<len (»s vor, den Umw(»g über die Atlaspasse im Süden von Marra-
kesch (Dar el-Glaui) zu machen. —
Die Stellung, welche die Juden bei den Breber einnehmen, ist stets
eine sehr gedrückte und missachtete. Verschiedene Stamme, wie die Ait
Jussi, Ait Scherrosehen, Ait Uafella, Ait *Aia8ch, Ait Jahia, Ait Mejirad,
Ait IJadidu u. s. w., dulden keine ansftssigen Juden auf ihren Terri-
torif'n; an<l(Te. wie die Ait Sseri und Jschkern, g(»hen so weit dass das
blosse Betreten ihres Gebietes jedem Juden untersagt ist Passirt ein
solcher in einer Verkleidung dasselbe dennoch und wird als Jude erkannt,
so wird er auf der Stelle getödtet Der Abscheu der genannt(»n Stamme
gegen die» Juden ist so tief eingc»wurzelt <hi88 sie sogar die Leichname
derselben nicht ausplündern, sondern an Ort und Stelle liegen lassen.
Selbst an <len Waaren des Getödtetcm vergreift sich Niemand.
Auf anclere Weise, die allenlings für die Betroffenen w(»it angenehmer
ist, tritt diese Missachtung darin hervor, «lass (»inzelne Stämme es über-
haupt unter ihrer Würde erachten, eine Kugel oder (»inen Dolchstich an
einen Juden zu verschwenden. Man todtet diese dort ebensowenig, wie
man eine Frau tödten würde; doch misshandcdt man beide. Wieder andere,
z. B. di<» Breber im engeren Sinne (Ait Atta und Ait Jafelman mit ihren
zahlreichen Unterabtheilung(»n) und die Ait Ssedrät, sehen nach POUCAULD
eine Art von Sport oder einen guten Scherz darin, den Jinlen gegenüber
die 'Anaia nicht zu halten. Man plünd(Tt oder tödtet sie auch wohl unter-
wegs, währen<l <lie nämliche Handlungsweise gegen (»inen Muslem auch
bei di('S(Mi Stämmen für w(»nig nobel und rühmlich gilt. Daher sind, wenn
ein Jude es nicht verm(»id(»n kann, von diesen Stämm(»n Schutz zu (»rbitten,
di(» pt^inlichsten Vorsichtsmassregeln nothwendig. Ks muss in Gegenwart
1) Die Ait Uafolla, eine Fraction der Ait Isdigg, sind geg^enwärtig politisch von
dipsen getrennt und gehorch(ni dem Snltan.
2^ RoiiLFS, Heise dnrch Marocco, Uehersteigung dos grossen .\tla8 n. s. w. Bremen
1868, S. 40.
Z«iUckrilt Ar Btkaologi«. Jahrg. IBM. VV
154 M. Quedenfbldt:
einer Standesperson ein besonderer Vertrag zu Papier gebracht werden,
durch welchen die Mehrheit der betreffenden Kabila die Sicherheit des
Juden verbürgt. So musste auch FOUCAULD auf seiner Route nach Todra
M
verfaliren, wo, für den Fall, dass er nicht an seinem Bestimmungsorte an-
kommen würde, die Ait Ssedrät verpflichtet waren, der jüdischen Gemeinde
von Tiilit einen Schadenersatz von 5000 Francs zu bezahlen.
Andere Tribus dagegen sind etwas toleranter. Sie räumen den JucUmi
ein Quartier (Mellah^)) in einer innerhalb ihres Gebietes belegenen Ort-
schaft ein und profitiren von dem Handel, den die Juden dort treiben.
Zu diesen Stämmen gehören die Ait Atta Umalu, Ait Atab, Imejiran
u. s. w. Ueberall aber sind die Juden bei den Breber ebenso miss-
achtet, wie im Innern des übrigen Marokko. Es ist daher nicht zu-
treffend, wenn GRABERG VON HeMSÖ-) sagt: „Doch gestatt(»n sie (die
Amazirghen) in ihren Bergen, Städten und Dörf(»ni einer grossen Menge
von Hebräern den Aufenthalt, die dort gesellschaftliche Vortheile geniesse.n,
die ihnen in anderen Theilen Afrikas versagt sind. Diese Duldsamkeit
schreibt man vorzüglich dem Glauben der Bereber und vieler Mauren zu,
dass ihre Vorfahren vor dem Einfall d(?r Araber im 7. Jahrhundert«» jüdisch
lebten und glaubten, eine Meinung, die übrigens durch viele arabisch-
spanische Geschichtsschreiber des Mittelalters historisch b(»stutigt wird,
namentlich von ABULFEDA und von ABU MOHAMÄIED SALf:HH BEN ABD-
EL-Hhalim aus Granada, welcher 1326 seinen Ketab-el-Cartas oder
Geschichte der Könige von Mog'hrib und der arabisclien Dynastien schrieb,
wonach die NaclikomnKMi Sanhaggia's imd Kothama's, nach (ioliath's
Ermordung durch David aus Asien ausgewandert, noch den Judaismus
bekannt haben sollen, als sie den berühmten Tharek zur Erobenmg
Andalusiens und Gibraltars begleiteten. Der geujinnte ABU MOHAMMED
sagt in seinem Geschiehtsbuche über diescMi Gegenstand die nachfolgenden
Worte: „Unter den Berbeni des Mog'hrib-ul-A'ksa bekannten einige» den
christlichen Glauben, tandere den jüdischen und wieder andere <lie Magic»,
nämlicli die Lehre Zoroasters.'*
Wohl verleitet durch diese Angaben GRABERG's, sprechen auch andere
Publicisten, DAVIDSON, M. E. Kp^NOU^) U.A., von einer b<»vorzugten Stel-
lung der Ju<len bei den Berbern. Di(» in neuerer Zeit n^cht int(?nsive
Marokko -Erforschung hat die Unrichtigkeit dieser Anschauung an allen
Punkten ergeben.
Die unglückselige Lage der Juden wird dadurch noch trauriger, dass
1) Dies Wort findet sich in Berber{,'egenflen Marokkos liäufig in der berberisirten
Form „tamellaht".
2) A. a. 0. S. 50.
3^ Renou, 1. c. p. 396; On troiivo dans TAtlas un grand nombre de villages entiercment
juifs; ils paraissent vivre en assez bonne intelligence avec les habitants, et etre souuiis
a beaucoup moins d'bumiliations que chez Ics Arabes.
EintheilnDg nnd Verbreitung der Berberberölkerung in Marokko. 155
sie im ji:anzt»ji Belinl 088-88i])a, wo sw überhaupt ji^eiluMet wenlen, in einem
an Sklaverei ^enz(»n(l(»n Abhän»^igkeit8verhältni88 zu den Herren de8 Landes,
den Berbern oder Arabern, stehen. Diese, durch das Herkommen in voll-
ständig; »j:«'n»j;elte Formen ^(»brachte Institution ist so eigenthümlicber Art,
«lass sie wohl eiiu> nfUn^re Betrachtun»ij venlient.
.Ied(>r Jude j^ehört mit Leib und L<d)en, mit seinen Gütern und seiner
Familie einem Herrn, seinem „Ssid", zu eijjen. Wenn die Familie des-
selben seit lanji:er Zeit im Tjande ansässipj ist, fällt ihm der Jude, wie ein
Theil s«»ines Vermöj^ens, nach muselmanischem Rechte und nach altem
Brauche der Imasi^(Hi durch Erbschaft zu. Daher schützt der Ssid seineu
Juden, wie .ledermann sein Hab un<l (lut gejijen Fremde vertheidigt.
Natürlich wird ein einsichtijyer Muselman im eigenen Interesse seinen Leib-
eijj^enen zu schon(»n suchen und nicht zu grosse Abgaben von ihm erheben,
um ihn möglichst zu dauerndem Wohlstande gelangen zu lassen. Indessen
giebt es auch Besitzer von .luden, welche dieselben in der brutalsten Weise
aussaugen und enorme Summen von ihnen verlangen, die sie zu zahlen
meist nicht im Stande sind. In diesem Falle nimmt der Tyrann seinem
Opfer Weib oder Kin<ler und sperrt sie ein, bis die Summe entrichtet
Oller er des Weibes überdrüssig geworden ist. Es kommt vor, dass ein
Ssid «las Weib seines Juden mehrere Monate lang b(?i sich einschliesst.
Auf diese W«»is«» übt er eine fortgesetzte Reihe von Erpressungen. Schliess-
lich wird der Jude selbst eines Tages auf den Markt geschleppt und ver-
8tc»ig«»rt, was allerdings nicht überall vorkommen darf, sondern nur in
einigen Orten der Sahara. Oder auch: der Ssid nimmt ihm Alles, was er
besitzt, zerstört sein Haus und jagt ihn nackt mit den Seinigen davon.
Man trifft Dörfer, in don(»n ein ganzes Viertel in Ruinen liegt; fragt man
nach der Ursache, so erfährt man, dass vor einiger Zeit sammtliche Besitzer
von Juden, einer gemeinsamen Abrede zufolge, in der erwähnten grau-
samen Weise verfaliren seicm. Kurz, nichts auf der Welt schützt einen
Israeliten des Beled ess-ssiba geg(»n seinen Ssid.
Die Abhängigkeit erstreckt sich so weit, ilass der .lüde zwar die zu
seinem (leschafte erfonlerlichen Reisen machen darf, jedoch seine Familien-
mitglieder stets als (reiseln in seinem Wohnorte zurücklassen muss. Will
er seine Tochter nach auswärts verheirathen, so muss er dieselbe bei dem
Ssid (»rst mit einer (fcddsunnne gewissermaassen auslösen. Die eigene
Freiheit erlangt ein Jude in scdtenen Fallen, imd zwar meist nur dann,
wenn er so klug g(»wes(»n ist, sein Vennögen ausserhalb des Machtbereiches
seines Ssid, etwa im Beled el-machsin, anzulegen. Dann gestattet ihm
sein H<*rr wtdil gegen eine verhältnissmassig enorme Summe den Loskauf.
Manchmal gelingt es dem .luden auch, sich mit den Seinigen durch
heimliche Flucht in das Beled -el-machsin oder zu einer anderen Kabila
zu retten: das ist aber ein s(»hr gewagter Schritt, dessen Misslingen er mit
dem Leben bezahlt. Er oder seine Angehörigen dürfen sich selbstverständ-
156 M. QirBDENFELDT:
lieh nie wieder in das verlassene Gebiet zurückwagten. Es ist vorgekommen,
dass noch Kinder und Kindeskinder solcher entlaufenen Juden wieder auf-
gegriffen und in das alte Abhängigkeitsverlialtniss zurückgebracht worden sind.
In denjenigen Stämmen, deren Organisation eine vollständig demo-
kratische ist (z. B. bei den Ait Atta), hat jeder Israelit einzeln einen Ssid;
bei den unter einem absolut regierenden Schech stehenden Tribus sind
alle Juden Eigenthum des Stammoberhauptes. An Orten, wo ein Schech
mit eingeschränkter Autorität herrscht, muss der Jude diesem einen jähr-
lichen Tribut zahlen und kann sich nicht entfenien, ohne sich von ihm
loszukaufen. Nichtsdestoweniger ist er aber Eigenthum eines besonderen
Ssid, der an ihn die gew^öhnlichen Anrechte hat*).
Zu Ehren der Menschheit muss indessen gesagt werden, dass im
Allgemeinen die Behandlung der Juden durch ihre Ssid's eine leidlieh
humane ist und ein gröben^r Missbrauch der absoluten Gewalt nicht häufig
und nicht allerwärts vorkommt.
Das elendeste Leben führen die Israeliten im Thale des Uad el- Abid.
Hier fand FOUCAULD Jüdinnen, welche seit 3 Monat(»n bei ihrem Herrn
eingeschlossen waren, weil ihr Gatte eine bestimmte Summe nicht zahlen
konnte. Der Gebrauch hat in dieser Gegend eine Strafe von 30 Francs
für den Muselman festgesetzt, welcher einen Juden tödtet; wenn er diese
Summe dem Ssid des Getödteten entrichtet, so hat er keine weiteren Un-
annehmlichkeiten. Die Israeliten treiben unter diesen Verhältnissen auch
keinen Handel; sobald sie irgend etwas besitzen, nimmt man es ihnen.
Weil es an Geld mangelt, giebt es dort keine Silberarbeiter unter ihnen,
und sie sind daher gezwungen, sich dem zwtjiten Hauptgewerbe der marok-
kanischen Juden, dem Schusterhandwerk, zuzuwenden. Da sie wie Thiere
behandelt werden, sind sie selbst zu einer Art von Bestien geworden.
Fast täglich kommen unter ihnen blutige Schlägereien und Morde vor.
Im ganzen Beled el-machsin existirt ein derartiges Leibeigenen-
verhältniss, welches so krasse Zustände hervorbringt, nicht. —
Die Breber erkennen nicht den Koran als Civilgesetz (im (legensatz
zum religiösen) an, wie es die Araber thun. Sie haben stammweise oder
sogar ortschaftsweiso einen eigenen Codex, welcher „isserf" '-*) genannt wird
und «lessen Bc^stimmungen, meist im Einklänge mit uralten Traditionen,
von der „Djemma ", dem Rathe der Ortsältesten, festgestellt werden. D(»r
berberische Ausdruck für das Wort „Djemma" ist „enfälis". Jls bedeutet
„Versammlung" im Allgemeinen; dah(»r ist auch der in Marokko allgemein
gebräuchliche Ausdruck für „Moschee", als dem ITauj)tver8amHilungsorte
der Gläubigen, „Djemma".
Dieser Rath der Ortsältesten setzt sich zuweilen aus 100 und mehr
Personen zusammen. Demselben präsidirt ein Schech. Die Berber haben
1) Vergl. FouCAiTLD p. 398 u. f.
2) Vergl. Erckmann, S. 115.
Eintheilun^ tmd Verbreitong der HerberbevölkeruDg in Marokko. 157
filr (lio«e8 arabische Wort die Bezeichnung „Amifiar*' *), welche indessen
mehr bei tl«»n Schhlh gebraucht wird. Wörtlicli üb(»raetzt bedeutet „Armgar"
weiter nicht« als „Mann**: doch verbin<let man damit stets den Begriff dos
^ Alten**, „Ehrwürdigen", welchen auch das arabische „8chech** ausdrückt.
Das Ansehen und der Einfluss dies(»r Schiach ^) und des flemeinde-
rathes sind bei «len versc.hie<lenen Stiimmen selir verschieden, ebenso die
Zeitilauer d(T Schech -Würde. Bei vielen Tribus giebt es Schech's, die
nur für di<» Dauer eines .lahres gewühlt werden (Schiach el-*am); ander-
wftrts ist «bis Amt eines Sch(»cli erblich un<l lebenslänglich. Im Allgemeinen
ist die Autorität der Stammeshüupter bei den Breber keine grosse. Die
Schiach haben diesen unbotmüssigen, wilden und kriegerischen Naturen
gegi»nüber einen schw(»ren Stan<K und es gehört seitens derselben ein hoher
(irad von Schlauheit, Ta|)ferk(»it und körperlicher Ueberlegenheit dazu, um
sich bei ihren eigenen Leuti^n in Ansehen zu bringen. Die Tradition hat
es bei einzelnen Stummen sogar mit sich gebracht, dass die Stellung des
Scliech gesetzlich mit gewissen constitutionellen Einschränkungen ver-
bunden ist.
Diese in Algerien unter dem Namen „kanün" (vom griechischen navdv)
bekannten Oesetzessammlungen sind nur bei wenigen Breber -Stämmen,
den Ait Atab, Ait Bu-Sid u.a., in^Anwendung; bei der Mehrzahl gilt
nur der jedesmalige Beschluss der Djemma' oder des Schech als Gesetz.
Es ist mir nicht bekannt, ob da, wo in Marokko solche Qesetze
existiren, sie aufgezeichnet sind oder durch Tradition sich fortpflanzen.
HanoTEAU und LeTOÜRNEüX veröffentlichten eine grössere Anzahl solcher
in der Kabylie gebräuchlicher Localgesetzgebungen, in welchen artikelweise
alle Satzungen zusammengefasst sind, die auf das Leben der Gemeinde
Bezug haben. Neben den verschiedenartigsten strafrechtlichen Bestim-
mungen für schwere Verbrechen und Vergehen finden sich auch Artikel,
welche ganz geringfügige V(»rstösse gegen die öffentliche Ordnung ahnden.
Von <ler Vielseitigkeit eines solchen „kanün" mögen folgende Para-
graphen ein Beispiel geben, welche ich aus der Gesetzsammlung <les Dorfes
Aguni-n-Tesselent (Tribus der Akbil, Kabylie), <lie im Ganzen 249 Para-
graphen umfasst, herausgehoben habe.')
§ Vi bestimmt die Zahl der Kuskussu - Schüsseln, welche gelegentlich
«»iner Beerdigung den Fnmnlen vom Dorfe geliefert werden sollen: sieben,
wenn ein erwachsener Mann, drei, wenn eine Frau gestorben war u. s. w.
§ 14. Derjenige, welcher sich weigert, Leuten, die zu einer Beerdigung
gekommen siiul, (lastfreun<lschaft zu gewähren, zahlt 1 Real Strafe (1 Real
gleich 2.J Francs); ausserdem winl er gezwungen, dennoch seiner Ver-
pflichtung nachzukommen.
1) Plnral: Im^aren.
2) Plaral von Schech.
3) Vergl. Hanotkau und Letourneux 1. c. Vtd. III. p. 862.
158 M. Quedenpeldt:
§ 24. Wenn die Djemma" beschlossen hat, ein anderes Dorf zu bekriegen,
so zahlt derjenige, welcher sich weigert, mitzuziehen, 50 Realen Strafe.
§ 51. Das Besitzthum einer Waise darf nur mit Zustimmung und in
Gegenwart der Notabein des Ortes verkauft werden. Derjenige, welcher
dieser Bestimmung zuwiderhandelt, zahlt eine Strafe von 10 Realen und
der Verkauf wird annullirt.
§ 58. Derjenige, welcher zu Wucherziusen Geld verleiht, zahlt 10 Realen
Strafe und hat nur Anspruch auf die Wiedererstattung des geliehenen Kapitals.
§ 79. Wer einen Einwohner des eigenen Dorfes ermorden lasst, zahlt
100 Realen Strafe. Man tödtet sein Vieh, zerstört sein Haus und er wird
auf 3 Jahre aus dem Orte verbannt, i)
§ 86. Wer einen (in flagranti) ertappten Dieb tödtet, zahlt keine
Strafe.
§ 104. Wenn Kinder des Dorfes sich mit Kindern eines anderen Dorfes
prügeln, so bezahlen sie ^ Real Strafe, wenn die letzteren auch bestraft
werden; ist dies nicht der Fall, so gehen auch sie straffrei aus.
§ 127. Wenn Jemand, der absolut nichts besitzt, zu einer Strafe ver-
urthoilt ist und nicht zahlen kann, so bleibt er stets Schuldner der Djemma .
Er muss von dem, was er durch seine Arbeit verdient, so lange abzahlen,
bis die Schuld getilgt ist. #
§ 130. Wenn sich eine Frau nackend in der oberen Quelle wäscht,
so zahlt sie 60 Centimes Strafe.
§ 151. Wer in der Nähe der Moschee urinirt, zahlt | Real Strafe.
§ 163. Wer einen Anderen „Jude" nennt, zahlt \ Real Strafe.
§ 172. Wer Jemanden „Wüstling*' schimpft, zahlt ^ Real Strafe.
§ 182. Diebstahl zur Kriogszeit wird mit 250 Francs Strafe an die
Djemma* und 125 Francs Entschädigung an den Eigenthümor belegt.
§ 215. Derjenige, welclier Stroh stielilt, zahlt 20 Realen Strafe und
10 Realen Entschädigung.
§ 238. Die Frau, welche Kehricht auf die Strasse schüttet, zahlt ^ Real
Strafe.
§ 249. Wenn die *Anäia eines Bewohners des Dorfes verletzt worden
ist und es ist dabei ein Mord oder Viehdiebstahl vorgefallen, so ninmit das
ganze Dorf Partei und erkhirt dem schuldigen Stamme den Krieg. Der-
jenige, welcher seine Theilnahme an demselben verweigert, zalilt 50 Realen
Strafe. —
Wie man sieht, werden fast alle Vergehen und Verbrechen, selbst
Mord, nur durch Strafen an Geld oder Gcddeswertli gesülint. l)i(?ser Straf-
codex bezieht sich übrigens bei den algerischen Borbern ebensowenig wie
bei den marokkanischen auf Vergehen, welche ausserhalb des Stammes
1) Das in diesem kanün vorgesehene Vernichten des Eigenthums eines Mörders ist
eine nur bei diesem Stamme vorkommende Bestimmung. In der Regel fällt der Besitz
eines solchen der Djemma' anheim.
Eintheilang und Yerbreitnnf«: der Rcrberbevulkerani? in Marokko. 159
Stellende Ix^treffen, sondern nur auf die Staniniesji^enosaen unter sieli resp.
(taste des Stammes oder unter der Debilia desselben Befindliehe.
â–
Diese, durch «las ir«vrkommen festgesety-ten B(»stimmungen soh(»inen in
Marokko weit <lrakonischer zu s(»in, als b(M «len algerischen Kabylen. Nach
KRCKMANN (S. 115) brennt man einem auf frischer That ertappten
Diebe mit <»in(»m glühenden Eisten die Augen aus, oder man schlagt ihm
auch eine Hand oder einen Fuss ab. Mörder sind verpflichtet, das Land
für iinnu'r zu verhissen. Wenn der Verkauf ihrer (lüter nicht genügt,
inn den von «1er Djenima bestimmten Blutpreis (Dia) zu zahlen, so legt
man Beschlag auf das EigcMithum seiner V(»rwandten. —
D(»r Hang zum Raub und zur Spitzbuberei bei den Brebem grenzt
an's Unglaublich«». Mir s(dbst haben umherziehende Akrobaten aus dem
Ssüss, sog<'nannte Uled ess-Ssi«li'IIammed-u-Mu8sa, erzählt es sei gar
nichts Seltenes, dass sie, im Gebiet«» der Breber umher\vand(»nid und ihre
Pro«luktion«»n zum Besten g«d)end, von irgend einem wohlhabenden und
anges«dienen Manne einen Hammel zum Oeschenk «»rhielten mit der Auf-
forderung, ihn zu schlachten und «labei Gott zu bitten, dass er seine — des
S|M»n«ler8 — Söhne tüchtige Uäulx^r und Diebe werden lasse. Nach
BbaUMIEK besteht bei einem «1er am weitesten westlich wohnenden Stämme
(wahr8ch(»inlich bei den Semür-Schilh) die Sitte, das Stehlen bei den
jüngeren Mitglied(»ni der Kabila vollkommen zum Gegensbmde praktischer
U<»bung(m zu machen. Di«» Jünglinge werden, ganz nach spartanischem
Muster, nicht eher für voll angesehen, als bis sie ihr Meisterstück gemacht,
«1. h. b«»i einem fronnlen Stamm«» Vi<di, «»twa einen Hammel oder ein Pferd,
unbemerkt geraubt haben. Wer sich ertappen lässt, ist entehrt. —
Die wenigen europäischen R«'is«»nden. auch Mohammedaner o«ler Juden
aus dem Beled el-machsin, welch«» das Breber- Gebi«»t besucht haben,
wiss«»n übereinstimmend nicht genug von d«»n entsetzlichen Zuständen des
Faustr«»chts zu berichten, welche dort herrschen.
Di(»8er 8t«»te Kriegszustand, in welchem die Br«*»ber leben, hat, wie bei
alli»n wilden Völkern, ihre Sinne ungemein geschärft. Auf «lern Marsche
achten sie stets auf die Fussspuren am Boden; sie suchen je«le Schlucht,
j«m|«? Terrainfalte ab. Bemerkt einer in der Ferne Menschen, so giobt er
s«»in«'n (i«»fährten ein Zeichen, sie berathen sich kurz, und man geht dann,
j«» nach tien Umständen, sofort zum Angriff über oder nimmt eine defensive
Stellung «»in oder zitdit sich auch ganz zurück. Sobald eine Expedition
b<»s«'hh»ss«»n ist, vereinigen sich die Th«»ilnehmer auf ein Signal von zwei
(iew«dirs«hüss«'n, die d«»rjenige abfeuert, von welchem «las Unternehmen
ausg«»hr — ein allgeint'in bei den B(»rbc»rn üblicher (Ifebrauch.
Hat ein<»r wähnMi«! «les Kampfes die Flucht «»rgriffen, so wird ihm
ein s«'hwarz«»s Judenkäppchen ^) aufg«»setzt, und man führt ihn so im Dorfe
1) Schäschia del-iliü«!.
160 M. Quedekfeldt: Eintheilung und Verbreitung der BerberbeTÖlkerang in llarokko.
umher. Bis er durch eine hervorragend kühne That die Schmach ab-
gewaschen hat, wird er mit Hohn und Spott überhäuft.' Bei einigen Stämmen
wird der Feigling von den Frauen mit Hennabrei beworfen, ein symbolisches
Zeichen, dass man ihn einem Weibe gleichachtet. ^) Gewöhnlich zwingt
man ihn auch, nach allen Anderen aus der gemeinsamen Schüssel zu essen,
indem man sagt: „Wer nicht der Erste im Kampfe war, soll auch nicht
der Erste in der Schüssel sein." In der That giebt es wenige Männer
unter den Breber, welche nicht eine oder mehrere Verwundungen auf-
zuweisen hätten.
1) Vergl. ineino Mittheil, in den Verhandl. dieser Zeitschr., Jahrg. 1886, S. 677.
Besprechungen.
Edward M. CURR. Tlu» Australian Kaco: its origin, languago, custoina,
|)lar<» of laiidiiig in Aiistralia and i\w rout(»8 by wliicb it spn»ad itaolf
over that kontinent. Melbourne, il. Ferrea, ainl London, Tröbner.
188<) — 76. V(d. I-III in 8 mit Abbildungen, Vol. IV gr. Folio mit
einer Karte.
Das uinfan^oiche. auf Kosten der Kegierunp: der Colonie Victoria ffedniclrte Werk
enth< wohl die voUständigste Darstellung der bis jetzt bekannt gewonienen wilden
St&nune Australiens und vielleicht auch die am sorgfaltigsten gearbeitete. Der Verfasser
orhebt gegen srine Vorgänger starke Vorwürfe wegen ihrer Irrthümer, so namentlich gegen
Mr. U. Rrough Smyth (1.237), aus dessen Buche er übrigens fast alle seine Ab-
bildungen entnommen hat, da dasselbe gleichfalls auf Kosten der Regierung publicirt ist.
Den grössten Tlieil des vorliegenden Werkes nehmen Detailberichte zahlreicher Local-
beobachter über die einzelnen St&mme ein, welche fast ganz Australien, so weit es schon
colonisirt ist, umfassen und in welchen insbesondere die Vocabularien eine grosse Rolle
spielen. Aus letzteren hat der Verfasser ein vergleichendes Vocabular zusammengestellt^
welches die Foliolisten des 4. Bandes füllt und den zahlreichen linguistischen Betrach-
tungen, welche er anstellt, zur Grundlage dient. Leider scheinen dem Verfasser
tiefere grammatikalische Kenntnisse zu fehlen, um weitergehende Erörterungen über den
inneren Bau der Sprache und ihrer Dialekte zu veranstalten.
Das erste Buch, 9 Capitel umfassend, bringt die allgemeinen Betrachtungen des Ver-
fassers nebst seinen Conclusionen über Abstammung und Ausbreitung der Eingebomen.
Er hält sich, hauptsächlicli auf Grund linguistischer Analogien, für berechtigt, die Australier,
die er als ein«* einheitliche Rasse betrachtet, von den Negern Afrikas abzuleiten, freilich
in einer sehr frühen Zeit, als diese weder Bogen und Pfeile, noch die Buchstab(>n f und s
kannten. Sonderl)arerweise kommt er dabei auf die .^fossilen" Ueberreste von M<>nschen
in Australien und auf den Dingo nicht zu sprechen. Soweit ersichtlich, nimmt er die
jetzige geologische Beschaffenheit von Australien schon als abgeschlossen an, als die erste
Einwanderung von Afrika aus erfolgt«, wie er denn auch die weite Meeresfläche nebst
ihren Inseln sich in ihrer heutigen Gestalt vorstellt. Freilich erkennt er an, dass die
physische Beschaffenheit der jetzigen Australier von der jedes bekannten Negerstammes
abweicht^ und dass auch ihre Sprache nähere Verwandtschaft zu irgend einer bekannten
Negersprache nicht darbietot. Letzteres erklärt er aus der Länge der verflossenen Zeit,
während welcher die afrikanischen Sprachen sich weiter entwickelten, «lie australischen
dagegen in einem Beharrungszustande blieben, in dem sie noch jetzt geeignet seien, ein
Bild von der Urspraclie der afrikanischen Nej^er zu liefeni. Die physis<-he Differenz glaubt
er aus einer Mischung mit fremden Elementen während der Ueberwanderung ableiten zu
dürfen, wenngleich er nicht anzugeben vermag, welche Elemente diess gewesen sein könnten.
Diess ist wohl der schwächste Punkt seiner Darstellung, um so schwächer, als er auch die
Papuas von Neu-<ruinea aus einer Mischung eingewanderter afrikanischer Neger mit
Zukömmlingen entstehen lässt, und als er deren Einwanderung in eine ungleich spätere
Zeit verlejrt, als die der Australier. Den Gedanken, dass die Einflüsse des neuen Vater-
landes, insbesondere Klima und Lebensweise, den physischen (Charakter der Einwanderer
verändert haben möchten, berührt er kurz, um ihn definitiv abzuweisen, obwohl sich dafür
doch Mancherlei sagen liesse. Dagegen ist ihm der andere Gedanke nicht gekommen,
wie es zugegangen sei, dass die Einwanderer nach einer so langen Meerfahrt, die nicht
einmal in einem Zuge ausgeführt sein soll, plötzlich in so ausgemachte Landratten ver-
162 BesprechnngeiL-
wandclt worden sind, dass sie alle weiteren Seefahrten aufgegeben haben. Die Beschaffen-
heit des Landes konnte ihnen doch kaum so verfülirerisch erscheinen.
Mit Entschiedenheit erklärt sich Verfasser für die Einwandenmg einer einzigen Gesell-
schaft (party) oder höchstens einiger, die unmittelbar verschmolzen. Als Platz der Landung
sieht er die Gegend von Camden Harbour, 124° 30 'L., an der Nordküste an, von wo im Laufe
der Zeit drei verschiedene Ströme von Wanderungen ausgegangen seien; eine westliche,
eine östliche und eine centrale. Indem die ersteren sich längs der Küste, die letztere
quer durch den Coutinent verbreiteten, stiessen sie endlich an der Südküste auf einander.
Hier findet er in der Gegend zwischen Lacepede Bay und Streaky Bay die Küstenst^nnne
durch Abzweigungen der centralen unterbrochen. Eine grosse Karte erläutert die Ver-
hältnisse in anschaulicher Weise. Die Hauptunterschiede der Stämme je nach den drei
verschiedenen Strömen, zu denen sie gehören, liegen nach ihm darin, dass die östlichen
ihre Sprachen nach negativen Adverbien benennen und weder Circumcision, noch jene
bekannte Spaltung der ürethia bei Männern, welche Verfasser den terrible rite nennt,
ausüben, während diess bei den centralen geschieht, die jedoch ihre Sprachen nicht nach
den negativen Adverbien benennen, und die westlichen weder Circumcision, noch den
terrible rite, nocli die Benennung der Sprachen nach negativen Adverbien kennen. Für
eine solche Wanderung von Norden her sprächen auch die Traditionen der Stämme und
die Verschiedenheit der Dialekte unter nahe benachbarten Stämmen der Südküste. Nur
Cap York erhielt seine Bevölkerung von Süden her, der sich später von Norden her eine
papuanische Einwanderung zumischte.
Es wird vorzugsweise eine Aufgabe der nationalen Kritik in Australien sein, die Richtig-
keit der Localangaben und der daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zu prüfen. Der
Standpunkt des Verfasers ist unverkennbar, wie es sich bei einem so grossen anthro-
pologischen Problem geziemt, ein sehr hoher, und mancher Local- Widerspruch wird für
diejenigen, welche ihm beitreten, verschwinden. Aber es wird doch einer sehr eingehenden
linguistischen Prüfung, auch Seitens der fremden Pliilologen, bedürfen, um die Descendenz
und das relative Alter der einzelnen Stammessprachen festzustellen. Die Mittheilungen
des Verfassers über die anthropologische Beschaffenheit der Australier (L 37) sind an
sich sehr mager und ohne tieferes Verständniss, namentlich berühren sie die Frage von
etwaigen Stammesunterschieden gar nicht, während darüber doch wissenschaftliches
Material in Fülle vorliegt. Nach seinem Literaturverzeichnisse zu urtheilen, kennt Verfasser
nur solche Schriften, die in englischer Sprache geschrieben sind, und selbst unter diesen
scheint ihm Alles fremd zu sein, was in eingehender, wissenschaftlicher Weise die körper-
lichen Eigenschaften seiner wilden Landsleute schildert. Um so rückhaltloser dürfen wir
dem Verfasser unsere Anerkennung zollen über den grossen Fleiss und die Sorgfalt, mit
welcher er das Material zur Kenntniss der Gebräuche und socialen Verhältnisse in den
einzelnen noch vorliandenen Stämmen gesauimelt hat. Dieses Material wird vielleicht lür
alle Zeiten die hauptsächliche Fundgrube der Etlinologen und Linguisten in Bezug auf
die jetzt aussterbenden Urbewohner des grossen südlichen C'ontinents sein.
RüD. ViRCIIOW.
Lieut.-Gon. PITT RiVEKS. Excavations in Cranborno Chase. Vol. L 1887.
IViiited privately. (ir. 4. 254 S. mit 74 Tafeln.
Der in der archäologischen Welt seit langen Jahren unter dem Namen des Col. Lane
Fox rühmlichst bekannte Verfasser erzählt in seiner Vorrede, wie er im Jahre 18W die
Rivers estates erbte und in Folge davon genöthigt war, seinen Namen zu wechseln. Aber
gerade diese Erbschaft setzte ihn in den Vollbesitz des Landes, auf welclicm er seitdem
in der erfolgreiclist<'n Weiso Ausgrabungen gemacht hat. und gab ihm zugleich die Mittel,
eine so stolze Publika<i(m auf eigene Kosten zu veröffentlichen, wie es die vorliegende
ist. Cranborne Ohase ist ein grosses Jagdrevier in der Nähe von Kushmore. auf der
Grenze von Dorset und Wilts, welches seit alten Zeiten unberührt geblieben ist und in
seinem Schoosse zahlreiche Anlagen und Gräber, namentlich aus römisch -britischer Zeit,
bewalu-t hat. General Pitt Rivers hat die systematische Erforschung dieses Gebietes
ßesproohiinjren. 163
bcf^nnon, und indoin er poraönlich alle Hanptoperationen l«»it«»le, das Andere aber durch
einen Stab wi&ienschaftlich geschulter Männer beaufsichtigen und später bearbeiten Hess,
<*in ebenso rei<-he8, als mit skrupulöser <>4'nauif?keit gesammeltes Material von Alt«r-
rhümcrn zusaniinon|rt>bra('hU Seine Specialfundlist«n (Relic Table») nelunen allein G5 Seiten
(p, IHl» — 2f>4) rill. Da die Fortsetzung d<T Arbeiten beschlossen, wahrscheinlich so^r
zum Theil brw«Tkstenij;t ist, so wird hier für die britische Localforschung ein Werk von
jranz hervorra;render Hedeutun^ j?el)oten, dessen Werth auch für die allgemeine Forschung
r**rht hoch viTanscIdajrt werden «larf. Denn die Reste der alten Ansiedelunjren. welche
<n*n«Tal Pitt Rivers bloss^clejjl hat, j;eliört4»n Briten aus der letzten Zeit der römischen
IhTrschaft oder kurz nachher an, vim denen man bisher sehr weui^ weiss. Er fand die
(iorippt» ili«\s4'r Leut<* in zusammen^edrun^er Stidlun^ in bninnenartij^en Gruben (pits):
si«* f^ehörten einer kleinen Rasse an, deren Münner etwa 5 Fuss 2fi Zoll, die Weiber 4 Fuss
*J<V.> Zoll lan^' waren und welche ausgesprochen dolicho- und selbst hyperdolicho-
ci'phalt* Srliadel besass, also Aehnlichkeit mit der neolithischen Rasse der Lang^älier
(lonji: barrows) zei^. Dieser ferne Winkel des Landes, der mit dichten Waldungen bedeckt
war, diente den alten Bevidkerungen als ein Asyl vor den mancherlei Eindringlingen und
Eroberem, welche das übrige England überzogen. Noch jetzt ist hier, wie Dr. Beddoe
^^ezeigt hat. die <irenze. wo dii> kleine dunkelhaarige und dunkelfarbige Rasse des Westens
einsetzt. Die zahlreichen Funde, wohl bezeichnet, sind nunmehr in einem besonderen
Museum in der Nähe <les Dorfes Famham, Dorset, gesammelt und der öfl'entlichen
Besehauung zugänglich gemacht worden. Die dem vorliegenden, höchst gläuzend aus-
j^estatteten Werke beigegebenen Karten und Tafeln erläuten» diese Funde, welche nach
der Iteihenfolge der Abbildungen ausführlich beschrieben und in ihrer Besonderheit
besprochen werden. Wie wir das schöne Werk mit grosser FVeude begrüssen, so wünschen
wir ihm auch ungehinderten Fortgang und dem Verfasser, der seine erschütterte Gesund-
heit als Grund seiner Zurückgezogenheit angiebt, noch lange Jalu'e glücklicher Forschung.
Rl'd. Virchow.
A. LissAUER. Die» prahistorischon Denkmäler der Provinz Westpreussen
und der angrenz<»nden (lebiete. Leipzig 1887. Kl. Fol., 110 S. mit
♦?iner prähistorischen Karte in 4 Blättern und 5 Tafeln.
Der durch Fleiss und Gelehrsamkeit gleich ausgezeichnete Verfasser, der so lange
.Jahre hindurch die archäologischen Bestrebungen der Provinz Westpreussen in seiner
Person vereinigt hat Hn<l dessen Thätigkeit vorzugsweise das schnelle Aufblühen des Dan-
ziger Museums zu danken ist, sclireibt die Anregung zu der vorliegenden Arbeit in erster
Linie dem Vorgehen der Deutschen anthropologischen Gesellschaft, deren kartographisch!»
Commission ihn zu ihrem Mitgliede erwählt hatte, zu. Die Schwierigkeit, eine? gemein-
same archäologische Karte für ganz Deutschland zu schaiTen, ist jetzt wohl allgemein
anerkannt, und es ist nur zu billigen, wenn zunächst für einzelne grössere Territorien
die entsprechenden Karten hergestellt werden, wie es zuerst für Schlesien und neuerlich
für eine ganze Reihe süddeutscher (iebiete geschehen ist. Aber der Verfasser ist auch
in der antleren Beziehung den Erfahrungen gefolgt, welche die praktische Ausführung
gelehrt hat: er giel>t zunächst für jede der grösseren ( 'ulturperioden besondere Karten,
welche das Bild der Vertheilung und Ansiedelung der Bevölkerung in ungetriibter Klar-
heit bi«>ten. Diesen Karti^n sind die wichtigsten Fundobjekte in anschaulichen Abbildungen
beigefügt Bis zum Ende des Jahres 188r» waren auf dem in Angriff genommenen Fund-
gebiefi« srh<m IniM) Fundorte constatirt. Jiin ausführlicher, beschreibender Katalog bringt
eine übersiclitliebe Zusammenstellung aller Funde unter Beigabe der Fundberichte und
der dazu gehöri;r«'n Citate. Für jede Culturepoche ist ein zusammenfassendes Bild der
Lebens- und <.iesellschaftsverhältnisse der Bevölk«*ning vorangeschickt, so dass auch der
noch nicht geschulte Leser aus dem Studium des Werkes zugleich diejenigen Kenntnisse
schöpfen kann, welche für das Verständniss erforderlich sind und welche zugleich den
Anreiz zu eigener F(»r."»chnng gewähren. Sowohl die Anordnung des Stoffes, als die Aus-
führung können als mustergültig bezeichnet werden. Möge das schöne Vorbild in gani
164 Besprechungen.
Deutschland und namentlich in den Provinzen des prenssischen Staates rege Nacheifenmg
finden. Die Herausgabe des vortrefflich ausgestatteten Werkes ist, mit Unterstützung des
westpreussischen Landtages, von der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig besorgt
worden. RuD. Virchow.
J. G. PEAZER. Totomism. Edinburgh, Adam & Charles Black. 1887.
12. 96 Seiten.
Die kleine Schrift bringt in gedrängter Form, aber mit allem möglichen Detail das
literarische Material über eine der dunkelsten Seiten des Volksglaubens, welche in zahl-
reichen Erscheinungen des religiösen und socialen Lebens zu Tage tritt. Der Verfasser,
seinen Studien nach Rechtsgelehrter, hat, gleich so vielen berühmten Forschem seines
Vaterlandes, ein culturgescliichtliches Problem zum Gegenstande seiner Untersuchung'
gemacht, das seiner weiten Verbreitung über fast die ganze Erdoberfläche wegen ein grund-
legendes Princip für die Entwickelung der Menschheit enthalten muss. Die Herausgeber
der neuen Ausgabe der Encjclopedia Britannica hatten ihn mit der Abfassung des Artikels
Totemism betraut, aber das Material wuchs ihm unter den Händen, so dass er es in dem
Artikel nicht unterbringen konnte, und er übergiebt es nun in bester Ordnung. und unter
genauestem Hinweis auf seine Quellen in einer Art von Handbüchlein dem Publikum.
Indess hat er sich auch hier darauf bcscliränkt, die Einzelheiten des Totemglaubens bei
den wilden Völkern zu studiren: er hofft jedoch, nach weiteren Ermittelungen auch die
Spuren desselben bei den civilisirten Rassen des Altorthums nachweisen zu können. Zum
Verständnisse mag hervorgehoben werden, dass nach seinen Mittheilungen das Wort Totem
(toodaim, dodaiim, ododam) aus der Sprache der Ojibways oder Chippeways hergenommen
ist, wo es auf eine Wurzel ote, possess. otem = Familie oder Stamm, zurückführt. Der
Verfasser definirt es als eine Klasse materieller (iregenstände, welche ein Wilder mit
abergläubischer Ehrfurcht betrachtet, weil er annimmt, dass zwischen ihm selbst und
jedem Einzelnen (member) dieser Klasse ein inneres und zugleich specielles Verhfiltniss
besteht. Der Totem unterscheidet sich von einem Fetisch, insofern er niemals ein einzelnes
Individuum, sondern stets eine Klasse, und zwar meist von belebten Wesen, viel seltener
eine Klasse von unbelebten Naturobjekten, am seltensten eine Klasse von künstlich her-
gestellten Gegenständen bedeutet. Der Verfasser unterscheidet 3 Hauptformen davon: den
Totem des Clans, den des Geschlechts (sex) und den des Individuums, aber er erkennt an,
dass damit die vorkommenden Einzelfälle nicht erschöpft sind, indem es auch Totems
ganzer Stämme (tribes) giel)t und zwischen den Stammestotems und den Clantotems noch
eine dritte ünterabtheilung existirt, die er nach dem Vorgange von L. H. Morgan ab
Totems einer Pliratrie bezeichnet. Die Phratrie ist die exoganiische A])theilung innerhalb
eines Stammes, welche mehrere Clans umfasst (p. GO). Er bespricht dann in Verbindung
mit den (Uantotems die religiöse, in Verbindung mit den individuellen Totems die sociale
Seite des Dogmas, und zeigt schliesslich, wie die Totems sich im Laufe der Zeit überall
da in anthrop()mori)hische Götter mit thierischen Attributen umgewandelt haben, wo das
Volk zu dauernder Sesshaftigkeit und zu wirklicher Fixirung der Glaubenssätze gelangte.
So findet er die locule Ausgestaltung des Totem -Glaul)ens am auffälligsten in Polynesien,
wo die Beschränkung der Stämme auf einzelne Inseln oder Inselgnqipen weitere Ver-
8chiel>ungen und Umgestaltungen des einmal iixirten Aberglaubens hinderte. Hier, z. H. in
Samoa, entstand in der That eine Annäherung an einen Totem -Oljmpos (p. 88). Sonder-
barerweise will es dem Verfasser nicht gelingen, eine annelmibar«* Erklärung des Ursprunges
des Totem -Glaubens zu finden (p. 95). Er übersieht, dass sich darin das dunkle (lefühl
des Darwinismus äussert, welches eme vi'rwandtschaftliche Beziehung, ja eine Gemeinsam-
keit der Abstammung für verschi<Mlene Klassen der lebendigen Welt aufsucht, imi die
vorausgesetzte Einheit der bewegenden Kräfte in ahnungsvollen Bildern darzustellen. Wie
der Mensch sein Verhältniss zu (lott oder zu Göttern anthro])omorpliisch construirt, so
gelangt er ganz natürlich dahin, sein Verhältniss zu der belebten Natur theromorphisch
aufzubauen. Sobald er dieses Verhältniss personificirt, so hat er seinen Totem.
RiTD. Virchow.
t Huni>]rriiphir
■A*onlllch«T L'"hpr-
•- •»lh«t >ti>n Narlt-
Munlnn k»nlta«i:ir)i«n
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«Inil, .!flrr-n RrwÜi-
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uii<l er ti&llc iii^luiirh
1. dttch nli'lil rrkjiliiiti',
iiirli^iTl. bit
1 66 Besprecliimgen.
geschichte recht wenig zu thun haben. Hund und Katze, Pferd und Esel, Schaf und Ziege,
Rind und Schwein, ja selbst das Huhn müssen sich getrösten, bis bei einer in Aussicht
genommenen Portsetzung die Reihe an sie kommen wird. Wenn der Verfasser sagt, die
gelehrte Welt sei darüber einig, dass „ein brauchbares Buch über die Thierwelt des Alter-
thums ein wirkliches Bedürfniss der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung sei**,
so fühlt er doch selbst, dass sein Buch nur ein Anfang zu dem ersehnten Buche sei.
Aber auch abgesehen von der sonderbaren Auswahl der Thiere, dürfte die Methode der
Darstellung manche Enttäuschung bringen. Der Verfasser häuft eine ungeheure Fülle
von Cituten, welche nachzuschlagen ein starkes Stück Arbeit sein würde, aber er erleichtert
dem Leser die Aufgabe nicht einmal dadurch, dass er wenigstens die Stellen der Haupt*
aut^ren wörtlich wicdergie])t und erörtert. Wie es uns scheint, sollen Bücher dieser
Art belehrend und unterstützend wirken nach zwei Richtungen: einerseits indem sie dem
Philologen das zoologische Wissen näher ])ringen, andererseits indem sie dem Zoologen
das philologische Handwerkszeug zur Verfügung stellen. Diess ist offenbar nicht erreicht
worden. Wir wollen nicht von so ostensiblen Irrthümem sprechen, wie der auf S. 137,
wo der Verfasser von dem Gott der Liebe redet, ^den ein pompejanischer Künstler sehr
glücklich als auf einem gezäumten Tiger reitend dargestellt hat**; in seiner Anmerkung 75
auf Seite 383 erwähnt er selbst, dass Andere darin den liacchischen Genius .\kratos gesehen
haben, ^den man hier auf dem „Löwen" reitend hat ünden wollen". Wie jemand, der
auf diese Weise gewanit worden ist, in dem lang bemähnten Thier einen Tiger erkennen
kann, das ist in der Zeit der zoologischen Gärten einfach unverständlich» Aber dass er
für die Erörterung de;; Verhältnisses von Bos primigenius und Bison, dessen deutschen
Namen er mit einc^in e, Wiesent, schreibt, auf die ganze grosse wissenschaftJiche Literatur über
diesen (xegenstand verzichtet und nur einige populäre zoologische Schriftsteller heran-
zieht, das beweist doch, dass er sich die Bedeutung des ersehnten „brauchbaren" Buches
nicht ganz klar gemacht hat. Wir wollen mit diesen Ausstellimgen nicht gesagt haben,
dass die .Vrbeit des Verfassers eine werthlose sei; im Gegentheil erkennen wir an, dass
manche Abschnitte einen reclit umfassenden Blick in die Vorstellungen der Alten von
gewissen Tliieren gestatten. Um so mehr schien es uns aber erforderlich, den Verfasser
vor den Abwegen zu warnen, die auf diesem schwierigen (Jehiete in so grosser Zahl vor-
handeu sind und die zugleich so nahe liegen. Rud. Virciiow.
ERNEST ChANTRE. Roohorchos aiithropologitiiu^s dims le Caucaso. Paris
ot Lyon, K(»inwal(l ot Henri (leorg. 1885 — 87. Kl. Fol. mit zahl-
rcMchen Tafoln, Karton und Holzschnitten.
T. I: Periode prehistorique, avec une carte (»t 6 Planches.
„ II: Periode» protohistorique. Texte avec 184 gravures. Atlas do
(>7 Planches.
„ HI: Periode historiquc». Tc^xte avec 4() gravun^s. Atlas de 28 PL
„ IV: Populations actuelles avec 44 gravures. Atlas d<» 31 PL avec
une carte ethnologique du Caucase.
Schon die blosse Aufzählung der einzehien Abtheilungen dieser reich ausgestatteten
Publikation zeigt, dass wir eines der umfangreichsten anthroiiologischen Werke vor uns
haben, welche überhaupt erschienen sind. Der Verfasser ist seit langen Jahren bekannt
durcli die glänz^^nde und doch durchaus sachlich gehaltene Ausstattung seiner archäo-
logischen Schriften, und zugleich durch das hohe Maass von Zuverlässigkeit und Originalität,
welches seine Arbeiten auszeichnet. Keine von allen unifasst aber ein so grosses und
zugleich so wenig bekannt«'s (iebiet, und niemals zuvor hat der Verfasser in so über-
raschender Weise sein Talent gezeigt, das vorhandene Material aufznlinden und zu einem
Gesammtbilde zusammenzufassen. Die Bedeutung eines solchen Werkes für die vergleichende
Arrhäi>h)g\o und Aulhropologie wird erhöhl durch die vortretllichen Abbildungen, welche
Besprechungen. 167
mit eiuiT Saii]u*rki>it und (fenaui^^keit |jrt'zoirhii(*t sind, dass sie den Mangel der Originale
für viflf F«»rsr]uT orsetzon könnten. Der l{«*foreut, (ier sich selbst auf diesem schwierigen
(â– cliii>te versucht hat und der mit Dank anerkennt, dass der Verfasser die Mtmographic
üher das (iräbcrfcld von Kolian mit Wanne bt'urtheilt, empfindet doppelt stark, <lass ein
HO grosses rntcniohmeu in dem engen Ilahmen einer Besprechung nicht genügend
gescliildort werden kann. Der wirkliche Forscher muss sich selbst an das Studium
machen: hier können nur gewisse Hinweise gegeben werden auf die Hauptergebnisse und
Hauptgegenstande der Darstellung.
Was die ersteren anbetrifft, so sieht sich der Ueferent meist in wesentlicher Ueber-
einstimnmng mit dem Verfasser. In der Monographie über K(d)an hat er selbst den Nach-
weis versucht, dass der Kaukasus mit Unreclit als die Wiege der sogenannten kaukasischen
Kasse angesehen sei, und dass ebenso die alte Cultur des Landes fem davon ist. die Ori-
ginalität zu besitzen, welche man bei ihr vorausgesetzt hatte, (janz besonders gilt dies von
der Metallcultur, «leren Anfange gerade von liandsleuten des Verfassers mit einer Sicher-
heit in das kaukasische (iebiet versetzt worden sind, welche auf den Nichtkenner einen
imponin*nden Kindruck machen musste. Hr. Chantre erkennt an, was Ueferent durch
eine Iteihe ron Nachforschungen schon vorher sichergestellt hatte, dass in diesem ganzen
tiebiete keine natürliche Lagerstatt«» eines Zinnerzes aufgefunden ist. Freilich bringt er
^T. IL Atlas IM. XXX. Fig. 11) et 20' zwei verzierte MetalNcbeiben .,von Zinn" aus Koban.
aber ohne weiteren Nachweis der Natur des Metalls. Es sind offenbar dieselben, welche
Hr. Olshausen (Verhandl. der Berliner anthr<»p. üesellsch. 18S3, S. *.)4) erwähnt hat,
und von denen Beferent es wahrscheinlich zu machen suchte, dass sie aus Antimon
bestehen. Seitdem sind im Wiener Hofmuseum derartige Schmuckstücke aus Koban auf-
gefunden worden, welche in der That aus Antimon gefertigt sind (Verhandl. 18S7, S. r»ö^)).
Der Verfasser scheint mit dem Nachweise des Antimons in den Zierstücken des Kau-
kasus nicht einverstanden zu sein. lu der Schilderung der Funde von Redkin- Lager
gedenkt er zuerst der Bronze, dann des Eisens: darauf fährt er fort: un autre metal,
Tantimoine (?) aurait ctc renc<mtre par Bayern ;T. IL Texts p. 172). Dieser Passus wäre
wohl nicht geschrieben worden, wenn der Verfas.ser nicht mit einer auffälligen Beliarrlich-
keit die Verhandlungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft bei Seite liegen liesse,
die doch seit einer Reihe von Jahren die kaukasische Anthropologie und Archäologie in
immer neuer Weise beliandelt liaben. Abgesehen dav«»n. dass darin ganz werthvolle Mit-
theilungen über Steingeräthe, r»rouzen, Völker und Schä<lel enthalten sind, deren Erwäh-
nung das grosse Werk nicht v«*runziert haben würde, so hätte der Verfasser darin auch
die Beweise finden können, dass das fragliche Metall Antimon ist, und er hätte zugleich
ersehen können, warum Bayern, ol>wohl er die Gegenstände fand, doch nicht erkannte,
dass sie aus .\ntimon bestehen.
Diese Anfühnmg könnte zu lang für den vorliegenden Zweck erscheinen, aber sie
rliarakterisirt zugleich das sonderbare Verhältniss. in welchem sich die deutsehe j)eriodische
Literatur zu der französischen Wissenschaft befindet Die üelegonlieit, wo eine so
bedeutungsvolle Arbeit eines so gewissenhaften Forschers zur Besprechung vorliegt, ist
eine so seltene und zugleich so lelirreiche, dass Referent si<'h nicht entlialten konnte, diesen
offen daliegenden Schaden auch einmal öffentlirh zu bezeichnen.
Der Verfasser kommt auch darin zu einem ähnlichen Ergebniss, wie es der Referent
seiner Zeit dargelegt hatte, dass er die kaukasis<'he Metallcultur weder von Norden, noch
Von Wi'st«*n ableitet, dass er vielmehr auf südliehe und südöstliche Wege des Imports hin-
weist. Wenn er dabei in dem herkömmlichen Schema zuletzt bis nach Indien gelangt,
so widerstreitet das allerdings der Auffassung des Referenten, der sich bis jetzt vergeblich
bemüht hat, irgen<l welche ausreichenden Beweise für die Ableitung der Bronze aus dem
(rangesgeliiete aufzufinden. Eine nahe Verwandtschaft der kaukasischen Gräberfelder der
Bronzf- und beginnenden Eisenzeit mit der Hallstattcultur nimmt der Verfasser an, aber
er gesteht auch di** Besonderheit der kaukasisrhen ("ultur zu, die er als .koi»anienne**
bezeichnet. Nicht ersichtlich i.st es, warum er diese (Kultur eine prot (»historische nennt;
dem Referenten wenigstens ist bis daliin niclits aufgestossen, wodurch irgend eine siehere
Beziehung der kobanischcn (iräberfelder zu einem bestimmten historischen Volke erkennbar
geworden wäre.
1 68 Besprochungen .
Die historischo Zoit des Kaukasus nennt der Verfasser die scythisch - byzantinische
Epoche. Sowohl über diesen Namen, als auch über die Interpretation der Pnnde, als diese
Epoche anj^ehörig, lässt sich streiten. Sicherlich erstrecken sich manche Gräberfelder, z. B.
das von Komunta, wie wir es ausdrücken würden, zugleich über prähistorische und über
historische Zeiträume, aber es wird eine feste Ansicht darüber, sowie über die Frage, ob das-
selbe Volk während der ganzen Zeit seine Todten an dieser Stelle begraben, ob also nur die
Cultur oder das Volk selbst gewechselt hat. sich wohl nicht eher gewinnen lassen, als bis
mehr systematische Ausgrabungen gemacht worden sind. Die Auffassungen des alten Bayern
hatten häufig etwas Phantastisches, aber seine Methode der Ausgrabungen war eine sehr genaue
und umsichtige. Ihm speciell verdanken wir die genaue Scheidung der Gräberin Samthawro.
Aber er würde nicht wenig erstaunt gewesen sein, die oberen Gräber von Samthawro einer
scythobyzantinischen Epoche zugeschrieben zu sehen. Was haben die Scythen mit Trans-
kaukasien zu thun ? Und wie will man es rechtfertigen, den Einfluss der Römer, die doch
bis hierher kamen, und den noch frühereu der Griechen dem der Byzantiner unterzuordnen y
Der Mangel, welcher hier hervortritt, würde wahrscheinlich vennieden sein, wenn der
Verfasser selbst Ausgrabungen auf einer grösseren Zahl von Gräberfeldern dieser ..Epoche"
vorgenommen hätte. So ist er liäufig auf die Angaben zweifelhafter Gewährsmänner
beschränkt, welche durch Bestimmtheit der Aussagen ergänzen, was ihnen an wirklicher
Kenntniss der Verhältnisse abgeht. Hier wird die künftige Forschung stark zu sichten
haben. Trotzdem ist es ein Gewinn, wenigstens eine Uebersicht des Materials zu haben.
Darin sind ja die Fingerzeige für die mehr kritische Nachforschung gegeben.
Dasselbe dürfte zum Theil ffir die craniologischen Mittheilungen des Verfassers gelten.
Wie schwer es ist, für Schädel, die man nicht selbst ausgegraben hat, sichere Angaben
zu erhalten, und noch mehr, wie fast unmöglich es ist, für jeden Schädel, den man in
einer Höhle oder einem Beinhause findet, seine chronologisclie und ethnologische Zu-
gehörigkeit zu bestinmien, das weiss jeder, der sich mit Craniologie beschäftigt. Ich
betone diess namentlich in Betreff des mir genau bekannten Friedhofes bei Unter -Koban,
den der Verfasser abgesucht hat und den er den Tschetschenen zuschreibt Ich habe
über denselben in meiner Monographie über Koban S. 5 das an Ort und Stelle von mir
Ennittolte zusammengestellt: darnach habe ich nicht den mindesten Zweifel daran, dass es
ein ossetischer Bestattungsplatz ist. Auch tritt bei der Schädelmessung die immer noch
fortbestehende Differenz der französischen und deutschen Methode recht störend hervor.
Wer noch nicht überzeugt ist, dass die deutsche Horizontale der französischen vorzuziehen
ist, der wird es durch die Betrachtung der im Uebrigen vortrefflich gezeichneten Schädel
werden. Man vergleiche z. B. das den defonnirten Schädeln gewidmete Uebersichtsblatt
in T. II. p. 124, welches die Phantasie auf ganz umnögliche Vorstellungen von dem Aus-
sehen der Leute im Leben hinleit«'t. Bei den Messungen ergeben sich die Incongruenzen
in der Zusammenstelhmg der Resultate des Verfassers mit denen des Generals v. Er c kort,
die er in grosser Ausdehnung und mit allem Detail heranzieht, (ilücklicherweise sind die
anthropologischen (Charaktere dieser Stämme so ausgesprochene, dass nicht zu viel darauf
ankommt, ob diese oder jene Methode angewendet ist, wenigstens so lange nicht, als man
nicht in der Forscliung näher an den Zusammenhang und die Urspriinge der Stämme
heranriickt, als es der Verfassi'r gethan hat. Der Fleiss, sowohl in der Erhebung der
Zahlen, als in der Bearbeitung ilersell)en, tritt auch hier überall in bewundemswerther
Weise hervor : man muss selbst in diesen Dingen gearbeitet haben, um zu ermessen, welche
Fülle von Arbeit in di«*s('n Mittheilungen verborgen ist.
Wir können also zum Schlüsse nur noch einmal die Freude darüber ausdrücken, dass
es dem Verfasser besrbieden gewesen ist, ein so grosses Werk zu Ende zu führen. Zweifel-
los wird sein Hucli für die Folgezeit in nicht minder dauenider Erinnerung bleiben, wie
das von Dubois de Montj>ereux, mit dem es sich in so vielen Beziehungen begegnet.
Es wird holfentlirh sehr viel dazu betragen, die ausschweifenden und haltlosen Schwär-
mereien vieler (Jelehrten über kaukasische Anthropologie und Archäologie zu unterdrücken
und Vorstelluniren, welclie auf das Stn<liuni der wirklieben Verbältnisse gegründet sind,
an deren Stelle zu setzen. Hi:i>. Viuciiow.
V.
Culturelle und Rassenunterschiede in Bezug auf die
Wundkrankheiten.
Von
Dr. MAX BARTELS').
Wundfieber und Blut- und Eitervergiftung, die sogenannten acciden-
tellen Wundkrankheiten, sind auch dem Nichtmediciner ganz bekannte
Begriffe. Letztere pflegten nicht selten den schwereren Verletzungen zu
folgen, w&hrend das erstere als eine so sichere und gewöhnliche Begleit-
erscheinung selbst auch nur leichter Verwundungen betrachtet wurde, dass
man bei solchen mit unbedingter Zuversicht auf den Eintritt des Wund-
fiebers rechnete. Den letzten zwei Jahrzehnten war es vorbehalten, den
Beweis zu liefern, dass die genannten Erkrankungen, wie so viele andere,
durch das Eindringen specifischer, mikroskopisch kleiner Keime, der
sogenannten Sepsis- oder Fäulniss- Erreger, in den Organismus bedingt
würden, deren Fortpflanzung und enorme Vermehrung im Inneren der Gewebe
des Körpers alle diese Krankheitserscheinungen hervorriefen.
Die moderne Chirurgie hat es unter JOSEPH LiSTER's Vorgange
bekanntlich gelernt, durch ihre antiseptische Methode mit fast absoluter
Sicherheit den Verletzten vor dem Eindringen dieser septischen Keime zu
bewahren, und dadurch seine Wundheilung zu einer schnellen, fieberfreien
und gefahrlosen zu gestalten.
Das war nun aber, wie gesagt, ganz anders vor noch nicht gar zu
langer Zeit, und für ganz besonders gefahrbringend galten alle tieferen,
unregelmässigen, gerissenen und gestochenen Wunden, alle Verwundungen,
bei denen gleichzeitig auch die Knochen mit verletzt waren, alle Eröff-
nungen der grossen Körperhöhlen und Gelenke und alle Läsionen der blut-
reichen Theile des männlichen und weiblichen Genitalapparates.
Wenn wir nun einerseits die soeben erwähnten Gefahren kennen,
welche bei den Culturvölkem trotz der grössten Vorsicht und sorgfältigsten
Pflege sich nicht vermeiden und ausschliessen Hessen, und wenn wir anderer-
seits von schweren Verletzungen und von operativen Kingriffen gefahrlichster
Art hören, welche die auf niederer Culturstufe sich befindenden Völker
1) Nftch einem in der Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins am 10. Januar 1887
gehaltenen Vortrage.
Z«ittehrill für Bthnologi«. Jahrf. 1889. 12
160 ^ QufiDEHFBLDT: Eintheüung und Verbreitung der BerberbeTölkerung in Marokko.
umher. Bis er durch eine hervorragend kühne That die Schmach ab-
gewaschen hat, wird er mit Hohn und Spott überhäuft. Bei einigen Stämmen
wird der Feigling von den Frauen mit Hennabrei beworfen, ein symbolisches
Zeitshen, dass man ihn einem Weibe gleichachtet. ^) Gewöhnlich zwingt
man ihn auch, nach allen Anderen aus der gemeinsamen Schüssel zu essen,
indem man sagt: „Wer nicht der Erste im Kampfe war, soll auch nicht
der Erste in der Schüssel sein." In der That giebt es wenige Männer
unter den Breber, welche nicht eine oder mehrere Verwundungen auf-
zuweisen hätten.
1) Vergl meine Mittheil, in den Verhandl. dieser Zeitschr., Jahrg. 1886, S. 677.
Besprechungen.
KdwaRD M. CüRR. Tho Australian Raco: its ()rij2;in, languago, oiistoins,
place of landing in Aii8tralia and tho roiitcs by whicb it 8]>roa<rit8olf
ovor that continont. Molboume, tl. Forros. an<l London, Tröbnor.
188<) — 7(). Vol. I — III in 8 mit Abbildungen, Vol. IV gr. Folio mit
einer Karte.
Das uinfangroirhe, auf Kosten der lle^erung der (Kolonie Victoria pednickt^» Werk
enthält wühl die vollständigste Darstellung der his jetzt bekannt gewordenen wilden
St&mine Australiens und vielleicht auch die am sorgfältigsten gearbeitete. Der Verfasser
erhebt gegen seine Vorgänger starke Vorwürfe wegen ihrer Irrthümer, so namentlich gegen
Mr. K. Brough Smyth (1.237), aus dessen Buche er übrigens fast alle seine Ab-
bildungen entnommen hat, da dasselbe gleichfalls auf Kosten der Kegiemng publicirt ist.
Den grossten Theil des vorliegenden Werkes nehmen Detailberichte zahlreicher Local-
beol»achter über die einzelnen Stämme ein, welche fast ganz Australien, so weit es schon
colonisirt ist, umfassen und in welchen insbesondere die Vocabularien eine grosse Rolle
spielen. Aus b^tzteren hat der Verfasser ein vergleichendes Vocabular zusammengestellt,
welches die Foliolisten des 1. Bandes füllt und den zahlreichen linguistischen Betrach-
tungen, welche er anstellt, zur Grundlage dient. Leider scheinen dem Verfasser
tiefere grammatikalische Kenntnisse zu fehlen, um weitergehende Erörterungen über den
inneren Bau der Sprache und ihrer Dialekte zu veranstalten.
Das erste Buch, 9 Capitel umfassend, bringt die allgemeinen Betrachtungen des Ver-
fassers nebst seinen Conclusionen über Abstammung und Ausbreitung der Eingebomen.
Kr hält sich, hau])tsächlic*h auf Grund linguistischer Analogien, für berechtigt, die Australier,
die er als eine einheitliche Rasse betrachtet, von den Negern Afrikas abzuleiten, freilich
in einer sehr frühen Zeit, als diese weder Bogen und Pfeile, noch die Buchstaben f und s
kannten. Sonderbarerweise kommt er dabei auf die „fossilen" Ueberreste von Menschen
in Australien und auf den Dingo nicht zu sprechen. Soweit ersichtlich, nimmt er die
jetzige gecdogische Beschaffenheit von Australien schon als abgeschlossen an, als die erste
Einwanderung von Afrika aus erfolgte, wie er denn auch die weite Meeresfläche nebst
ihren Inseln sich in ihrer heutigen Gestalt vorstellt. Freilich erkennt er an, dass die
physische Beschaffenheit der jetzigen Australier von der jedes bekannten Negerstammes
abweicht, und dass auch ihre Sprache nähere Verwandtschaft zu irgend einer bekannten
Negersprache nicht darbietet. Letzteres erklärt er aus der Länge der verfl(>ssenen Zeit,
während welcher die afrikanischen Sprachen sich weiter entwickelten, die australischen
<]agegen in einem Beharrungszustande blieben, in dem sie n(»ch jetzt geeignet seien, ein
Bild von der Ursprache der afrikanischen Nejjer zu liefeni. Die physische Differenz glaubt
er aus einer .Mischung mit frenuien Elementen während der Ueberwanderung ableiten zu
dürfen, w«'nngleich er nicht anzugeben vermag, welche Elemente diess gewesen sein könnten.
Di(*ss ist wohl der schwächste Punkt seiner Darstellung, um so schwächer, als er auch die
Papuas von N«*u-<fuinea aus einer Mischung eingewandert^T afrikanischer Neger mit
Zukömmlingen entgehen lässt, und als er deren Einwanderung in eine ungleich spätere
Zeit verlegt, als die der Australier. Den Gedanken, dass die Einflüsse des neuen Vater-
landes, insbesondere Klima und Lebensweise, den physischen ('harakter der Einwan<lerer
verändert haben möchten, beriihrt er kurz, um ihn definitiv abzuweisen, obwohl sich dafür
doch Mancherlei sagen Hesse. Dagegen ist ihm der andere (redanke nicht gekommen,
wie es zugegangen sei, da^s die Einwanderer nach einer so langen Meerfahrt, die nicht
•>inmal in einem Zuge ausgeführt sein soll, plötzlich in so ausgemachte Landratten yer-
162 Be8pr«c]iiiiigeiL-
wandelt worden tdnd, dass sie alle weiteren Seefahrten aufgegeben haben. Die BescIiafTen*
heit des Landes könnt« ihnen doch kaum so verführerisch erscheinen.
Mit Entschiedenheit erklärt sich Verfasser ffir die Einwanderung einer einzigen Gesell-
schaft (party) oder höchstens einiger, die unmittelbar verschmolzen. Als Platz der Landung
sieht er die Gegend von Caniden Harbour, 124° 30' L., an der Nordküste an, von wo im Laufe
der Zeit drei verschiedene Ströme von Wanderungen ausgegangen seien: eine westliche,
eine östliche und eine centrale. Indem die ersteren sich längs der Küste, die letztere
quer durch den Continent verbreiteten, stiessen sie endlich an der Südküste auf einander.
Hier findet er in der Gegend zwischen Lacepede Bay und Streakj Bay die KüstenstÄmme
durch Abzweigungen der centralen unterbrochen. Eine grosse Karte erläutert, die Ver-
hältnisse in anschaulicher Weise. Die Hauj»tunterschiede der Stämme je nach den drei
verschiedenen Strömen, zu denen sie gehören, liegen nach ihm darin, dass die östlichen
ihre Sprachen nach negativen Adverbien benennen und weder Circumcision, noch jene
bekannte Spaltung der Urethra bei Männern, welche Verfasser den terrible rite nennt,
ausüben, während diess bei den centralen geschieht, die jedoch ihre Sprachen nicht nach
den negativen Adverbien benennen, und die westlichen weder Circumcision, noch den
terrible rite, noch die Benennung der Sprachen nach negativen Adverbien kennen. Für
eine solche Wanderung von Norden her sprächen auch die Traditionen der Stämme und
die Verschiedenheit der Dialekte unter nahe benachbarten Stämmen der Südküste. Nur
Cap York erhielt seine Bevölkerung von Süden her, der sich später von Norden her eine
papuanische Einwanderung zumischte.
Es wird vorzugsweise eine Aufgabe der nationalen Kritik in Australien sein, die Richtig-
keit der Localangaben und der daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zu prüfen. Der
Standpunkt des Verfasers ist unverkennbar, wie es sich bei einem so grossen anthro-
pologischen Problem geziemt, ein sehr hoher, und mancher Local- Widerspruch wird für
diejenigen, welche ihm beitreten, verschwinden. Aber es wird doch einer sehr eingehenden
linguistischen Prüfung, auch Seitens der fremden Philologen, bedürfen, um die Descendenz
und das relative Alter der einzelnen StAuimessprachen festzustellen. Die Mittheilungen
des Verfassers über die antliropologische BeschalTenheit der Australier (L 37) sind an
sich sehr mager und ohne tieferes Verständuiss, namentlich berühren sie die Frage von
etwaigen Stammesunterschieden gar nicht, während darüber doch wissenschaftliches
Material in Fülle vorliegt. Nach seinem Literatur\'erzoichnisse zu urtheilen, kennt Verfasser
nur solche Scliriften, die in englischer Sprache geschrieben sind, und selbst unter diesen
scheint ihm Alles fremd zu sein, was in eingehender, wissenschaftlicher Weise die körijer-
lichen Eigenschaften seiner wilden Landsleute schildert. Um so rückhaltloser dürfen wir
dem Verfasser imsere Anerkennung zollen über den grossen Fleiss und die Sorgfalt, mit
welcher er das Material zur Kenntniss der Gebräuche und socialen Verhältnisse in den
einzelnen noch vorliandenen Stänmion gesammelt hat. Dieses Material wird vielleicht tiir
alle Zeiten die hauptsächliche Fundgnibe der Ethnologen und Linguisten in Bezug auf
die jetzt aussterbenden Urbewohner des grossen südlichen Continents sein.
RUD. VlBCUOW.
LitMit.-G(»n. Pitt Rivers. Kxcavations in Crjinborno Chase. Vol. L 1887.
PrinttMl privately. (Jr. 4. 254 S. mit 74 Tafeln.
Der in der archäologischen Welt seit langen .lahren unter dem Namen des Col. Lane
Fox rühmlichst bekannte Verfasser erzählt in seiner Vorrede, wie er im Jahre 188() die
Itivers estates erbte und in F(»lgc davon genötbigt war, seinen Namen zu wechseln. Aber
gerade diese Erbschaft setzte ihn in den V(dlbesitz des Landes, auf welchem er seitdem
in der erfolgreichsten Weise Ausgrabungen gemacht hat. und gai» ihm zugleich die Mittel,
eine so stolze Publikation auf eigene Kosten zu veröftentlichen, wie es die vorliegende
ist. Cranbonie ('hase ist ein grosses Jagdrevier in der Nähe von Rushmore, auf der
Grenze von Dorset und Wilts, welches seit alten Zeiten unberührt geblieben ist und in
meinem Schoosse zahlreiche Anlagen und Gräber, namentlich aus romisch -britischer Zeit,
bewalirt hat Oeneral Pitt Rivers hat die systematische Erforschung dieses Gebietes
Bcsprochunpren. 1 63
hogonnon, und indoiii er persönlich alle Hauptoporationon h^itolo, das Andere aber durch
einen Stab wissenschaftlich pesrlmlter MAnnor beaufsirhtijjen und sputer bearbeiten Hess,
ein ebenso reiches, als mit skrupulöser <jenani^keit fresanimeltes Material von Altor-
thüint^ni zusaniin<'n^n>brnrht. Seine Specialfundlist^n (Relic Tablcs) nehmen allein GT) Seiten
(p, IS'.» — 2r)4'J •'in. Da die Fortsetzung der Arbeiten beschlossen, wahrscheinlich sof^r
zum Theil l»«'w«'rkst*dlij?t ist, so wird hier für <lie britische IiOcalforsrhun<j ein AVerk vrm
jjanz hervorrav:ender He<leutuniEr geboten, dessen Werth auch für die allfremeine Forschung
pM-ht hoch vfranschlajrt werden darf. Denn die Kest<j der alt^n Ansi«*d<dunjjen, welche
tJontTul ritt Hivers blossj^olejft hat, jrehörten Briten aus der letzten Zeit der römischen
n<Trs(baft odrr kurz nachher an, von denen man bish«*r sehr weni^r weiss. Er fand die
tiiTipp«' dit\s«T Leute in zusammenji^edrangter Stellung in bnmnenartigen Gruben (pits):
sie p'hörten einer kleinen Hasse an, deren Männer etwa 5 Fuss 2fi Zoll, die Weil»er 4 Fuss
*2<M) Zoll lang waren und welche ausgesprochen dolicho- und selbst hvperdcdicho-
cephale Srluldel besass, also Achnliclikeit mit der neolit bischen Hasse der Langgräber
;long barrows) zeigt. Dieser ferne AVinkel des Landes, der mit dichten \Valdung(>n bedeckt
war, diente den alten Bevölkerungen als ein Asyl v(>r den mancherlei Kindringlingen und
Firobereni, welche das übrige England überzogen. Noch jetzt ist hier, wie Dr. Beddoe
gezeigt hat, die (Jrenze, wo die kleine dunkelhaarige und dunkelfarbige Rasse des Westens
»•insetzt. Die zahln'ichen Funde, wohl bezeichnet, sind nunmehr in einem besonderen
Museum in der Nähe des Dorfes Famham, Dorset, gesammelt und der öffentlichen
Besrhauung zugänglich gemacht worden. Die dem vorliegenden, höchst glänzend aus-
gestatteten Werke beigegebenen Karten und Tafeln erläutern diese Funde, welche nach
der Heihenfolge der Abbildungen ausführlich beschriel»en und in ihrer Besonderheit
besprochen werden. Wie wir das schöne Werk mit grosser Freude begrüssen, so wünschen
wir ihm au<h ungehinderten Fortgang und dem Verfasser, der seine erschütterte Gesund-
heit als (inind seiner Zurückgezogenheit angiebt, noch lange Jahre glücklicher Forschung.
RUD. ViRCHOW.
A. Iils.SAUER. Die prähistorischen Denknuller der Provinz Westpreussen
un<l <ler angrenzenden (lebiete. Leipzig 1887. Kl. Fol., 110 S. mit
einer prähistorischen Karte in 4 Blättern und 5 Taftdn.
Der durch Fleiss und <relehrsamkeit gleich ausgezeichnete Verfasser, der so lange
Jahre hindurch die archäologischen Bestrebungen der Provinz Westpreussen in seiner
Person vereinigt hat und dessen Thätigkeit vorzugsweise das schnelle Aufblühen des Dan-
ziger Museums zu danken ist, sclireibt die Anregung zu der vorliegenden Arbeit in erster
Linie dem Vorgehen der Deutschen anthropologischen Gesellschaft, deren kartographische
Commission ihn zu ihrem Mitgliede erwählt hatte, zu. Die Schwierigkeit, eine gemein-
same archäologische Karte für ganz Deutschland zu schaffen, ist jetzt wohl allgemein
anerkannt, nnd es ist nur zu billigen, wenn zunächst für einzelne grössere Territ^jrien
die entsprechenden Karten hergestellt werden, wie es zuerst für Schlesien und neuerlich
für eine ganze Reihe süddeutscher Gebiete geschehen ist. Aber der Verfasser ist auch
in der anderen Beziehung den Erfahrungen gefolgt, welche die praktische Ausführung
gelehrt hat: er giel»t zunächst für jede der grösseren (-ulturperioden besondere Karten,
webhe das Bild der Vertheilung und Ansiedelung der Bevölkerung in ungetriibter Klar-
heit bieten. Diesen Karten sind die wichtigsten Fimdobjekte in anschaulichen Abbildungen
beigefügt Bis zum Ende des Jahres 188<J waren auf dem in Angriff genommenen Fund-
gelfiete srlion l.Vn» Fundort»» constatirt. Ein ausführlicher, beschreibender Katalog bringt
eine übersieht liehe Zusammenstellung aller Funde unter Beigabe der Fundberichtc und
der dazu gehörigen <'itate. Für jede <^ulturej>o('he ist ein zusammenfassendes Bild der
I^eliens- und Gesellschaftsverhältnisse der Bevölk«'rung vorangeschickt, so dass auch der
noch nicht geschulte Leser aus dem Studium des Werkes zugleich diejenigen Kenntnisse
schöpfen kann, welche für das Verständniss erforderlich sind und welche zugleich den
Anreiz zu eigener Forschung gewähren. Sowohl die Anordnung des Stoffes, als die Aus-
führung könutMi als mustergültig bezeichnet werden. Möge das schöne Vorbild la ^«lill
164 Besprechungen.
Deutschland und namentlich in den Provinzen des preussischen Staates rege Nacheiferung
linden. Die Herausgabe des vortrefflich ausgestatteten Werkes ist, mit Unterstützung des
westpreuBsischen Landtages, von der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig besorgt
worden. Rud. Virchow.
J. G. FrazeR. Totemism. Edinburgh, Adam & Charles Black. 1887.
12. 96 Seiten.
Die kleine Schrift bringt in gedrängter Form, aber mit allem möglichen Detail das
literarische Material über eine der dunkelsten Seiten des Volksglaubens, welche in zahl-
reichen Erscheinungen des religiösen und socialen Lebens zu Tage tritt. Der Verfasser,
seinen Studien nach Rechtsgelehrter, hat, gleich so vielen berühmten Forschem seines
Vaterlandes, ein culturgeschichtliches Problem zum Gegenstande seiner Untersuchung
gemacht, das seiner weiten Verbreitung über fast die ganze Erdoberfläche wegen ein grund-
legendes Princip für die Entwickelung der Menschheit enthalten muss. Die Herausgeber
der neuen Ausgabe der Encyclopedia Britanuica hatten ihn mit der Abfassung des Artikels
Totemism betraut, aber das Material wuchs ihm unter den Händen, so dass er es in dem
Artikel nicht unterbringen konnte, und er übergiebt es nun in bester Ordnung. und unter
genauestem Hinweis auf seine Quellen in einer Art von Handbüchlein dem Publikum.
Indess hat er sich auch hier darauf bescliränkt, die Einzelheiten des Totemglaubens bei
den wilden Völkern zu studiren; er hofft jedoch, nach weiteren Ermittelungen auch die
Spuren desselben bei den civilisirten Rassen des Alterthums nachweisen zu können. Zum
Verständnisse mag her\'orgehoben werden, dass nach seinen Mittheilungen das Wort Totem
(toodaim, dodaiim, ododam) aus der Spra<!he der Ojibwajs oder Cliippeways hergenommen
ist, wo es auf eine Wurzel ote, possess. otem = Familie oder St^mm, zurückführt. Der
Verfasser definirt es als eine Klasse materieller Gegenstände, welche ein Wilder mit
abergläubischer Ehrfurcht betrachtet, weil er annimmt, dass zwischen ihm selbst und
jedem Einzelnen (mcmber) dieser Klasse ein inneres und zugleich specielles Verhältniss
besteht. Der Totem unterscheidet sich von einem Fetisch, insofern er niemals ein einzelnes
Individuum, sondern stets eine Klasse, und zwar meist von belebten Wesen, viel seltener
eine Klasse von unbelebten Naturobjekten, am seltensten eine Klasse von künstlich her-
gestellten Gegenständen bedeutet. Der Verfasser unt^jrscheidet 3 Hauptformen davon: den
Totem des Clans, den des Geschlechts (sex) und den des Individuums, aber er erkennt an,
dass damit die vorkommenden Einzelfälle nicht erschöpft sind, indem es auch Totems
ganzer Stämme (tribes) giebt und zwischen den Stammestotems und den Clantotems noch
eine dritte Unterabtheilung existirt, die er nach dem Vorgange von L. H. Morgan als
Totems einer Phratrie bezeichnet Die Phratrie ist die exogamische Abtheilung innerhalb
eines Stammes, welche mehrere Clans umfasst (p. GO). Er bespricht dann in Verbindung
mit den (Clantotems die religiöse, in Verbindimg mit den individuellen Totems die sociale
Seite des Dogmas, und zeigt schliesslich, wie die Totems sich im Laufe der Zeit überall
da in anthropomorphische Götter mit thierischen Attributen umgewandelt haben, wo das
Volk zu dauernder Sesshaftigkeit und zu wirklicher l^lxirung der Glaubenssätze gelangte.
So findet er die locale Ausgestaltung des Totem -Glaubens am auffälligsten in Polynesien,
wo die Beschränkung der Stämme auf einzelne Inseln oder Inselgruppen weitere Ver-
schiebungen und Umgestaltungen des einmal iixirten Aberglaubens hinderte. Hier, z. B. in
Samoa, entstand in der That eine Annäherung an einen Totem -Olympos (p. 88). Sonder-
barerweise will es dem Verfasser nicht gelingen, eine annelmibare Erklärung des Ursprunges
des Totem -Glaubens zu finden (p. 95). Er übersieht, dass sich darin das dunkle Gefühl
des Darwinismus äussert, welches eine vi»n^'andtschaftliche Beziehimg, ja eine Gemeinsam-
keit der Abstanunung für verschiedene Klassen der lebendigen Welt aufsucht, um die
vorausgesetzte Einheit der bewegenden Kräfte in ahnungsvollen Bildern darzustellen. Wie
der Mensch sein Verhältniss zu Gott oder zu Götteni anthrupomorpliisch construirt, so
gelangt er ganz natürlich dahin, sein Verhältniss zu d(>r belebten Natur theromor])hisch
aufzubauen. Sobald er dieses Verhältniss personilicirt, so hat er seinen Totem.
Rud. Virchow.
Bosprechungen. 165
(i. XeI'MAYEK. A'iilcMtuiiji: zu wi8w»ii8rhaftliohoii Kooliaehtuii^on auf Reisen,
in Kinzel- Abhandlungen vorfaast von l\ AsdlKKSON, A. HasTIAN,
(-. BoRliEN, 11. »OI.AN, 0. DKUDE, (.1. FRIT^SCH, A. GÄKTNER,
A. (lERSTÄCKER, A. (JÜNTllER, J. llANN, G. llARTLAUB, U. IlARTMANN,
\\ lIoFFMANN, w. Jordan, 0. Krü3imel, M. Lindemann, Ritter
V. Lorenz- LiRrRNAr, v. Martens, a. Meitzen, K. Mobius, G. Neu-
MAYER, A. ORTH, f. V. Uli HTHOFEN, IL Sc^HURERT, <i. SCUWEINFURTII,
IL STEINTHAL, F. TiET.IEN, R. VlRCHOW, K. WEISS, U. WlLD, L. WlTT-
MA('K. Zweite, völli«^ umgearbeitete und vermehrte Au8gab(^ Berlin,
R. ()])])enheim. 2 Hände in 8 mit zahlreichen Holzschnitten und 2
lithogr. Tafeln, 655 und 627 Seiten.
Dil» orste Aiisffal>t» »los vorliojj^etnion. in wo8ontlich veränderter Gestalt ersrheinenden
Werkes hatte zum ersten Mal«* in Deutschland eine ^o^cre Anzahl von anerkannten
Speeialforschern vereiniget, um dem Reisenden und zwar dem wissenschaftlichen Reisenden
die praktischen (lesichtspunkte für eine g:enaue Beobachtung und Sammlung der ihm vor-
k(»mmenden Erscheinungen zu geben. Die Publikation fiel zusammen mit dem Zeitpunkte,
wo das wissenschaftliche lieisen selbst, welches bisher vorzugsweise auf Entdeckungen
gerichtet war, zum Mittel der Forschung werden musste. Aeussere Umstände haben es
gefügt, dass gerade in dieser Periode auch der erneute Trieb der Völker nach Gewinnung
V(m Cohmien erwacht ist Das Handbuch hat allen diesen Richtungen in befriedigender
Weise geholfen, und die neue Bearbeitung wird sicherlich einem verstärkten Be<lfirfniss
begegnen. Man wird freilich auch ihr entgegenhalten, was nicht einmal in gleichem Maasse
der ersten Ausgabe vorgeworfen werden konnte, dass sie zu gross sei und dass sie die Tendenz
habe, fast für jede Specialität eine Art von gedrängtem Lehrbuch zu liefern. Etwas Wahres
ist an der Sache. Der Reisende kann nicht in jedem Augenblicke ein so umfangreiches
Buch zu Rathe zieh<*n. Obwohl die Trennung in zwei Bände, vcm denen der eine die mehr
physikalische Seite der Forschung, der andere die organische Welt im Auge hat, eine
b'iihtere Benutzung ermöglicht, so ist doch jeder Band so voluminös geblieben, dass es
nicht wohl möghch ist, ihn als Taschenbuch zu führen. Es musste also noch wieder der
Versuch gemacht werden, aus dem grossen Werke einen gedrängten Auszug nacrh Art der
englischen Anleitungen herzustellen. Oder es Hesse sich eine Ausgabe veranstalten, welche
die Einzel -.\bhandlungen in Fonn getrennter Hefte brächte, die man je nach Bedürfniss
in ganze Bände vereinigen oder einzeln für den täglichen Gebrauch auslösen könnte.
Wir möchten namentlich den letzteren Vorschlag zu geneigter Erwägung geben. Jeden-
falls begriissen wir die n<'ue Ausgabe, wie wohl lUe Mehrzahl <ler Reisenden thun winl,
als ein neues Zeichen, dass die deutsche \N isseuschaft sorgsam bemüht ist, den Bedürfnissen
<ler Nation rechtzeitig zu genügen. RuD. Vikchow.
Otto Keller. Thiere des classisohen Alterthums in cultur<i:e8chi<ditli('lier
Heziehunjjf. Innsbruck, Wa^^nersche Universität» -Buchliandlunj^. 1887.
8. 488 Seiten mit ;")<) AbbiMunj^^en.
Der Verfasser hat ein sehr fleissiges und in vieler Beziehung nutzbares Werk zusammen-
tretragen, welches über 28 Thiere (24 Säugethiere und 4 Vögel) ausführliche literarische
Nacbwi'ise liefert. Die Auswahl dieser Thiere wird allerdings viele überraschen, welche
das Buch in die Hand nehmen; wenigstens wir Naturforscher haben uns daran gewöhnt,
und V. Hehn's klassisches Buch hat uns ein noch grös8<'res Recht darauf gegeben, unter
..Thieren in culturgeschichtlicher Beziehung- in erster Linie die llausthiere zn verstehen.
Davon ist abtT bei dem Verfasser wenig zu finden. Wenn man von Kameel, Büffel,
Yak, Zebu, Gans absieht, so findet man lauter wilde Thiere, von denen gelegentlich ein
oder das andere I-Jiemplar gezähmt sein mag, die aber doch im Ganzen mit der Cultus-
166 Besprechungen.
geschichte recht wenig zu than haben. Hand und Katze, Pferd und Esel, Schaf und Ziege,
Rind und Schwein, ja selbst das Huhn müssen sich getrösten, bis bei einer in Aussicht
genommenen Fortsetzung die Reihe an sie kommen wird. Wenn der Verfasser sagt, die
gelehrte Welt sei darüber einig, dass ,ein branchbares Buch über die Thierwelt des Alter-
thums ein wirkliches Bedürfniss der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung sei**,
so fühlt er doch selbst, dass sein Buch nur ein Anfang zu dem ersehnten Buche sei.
Aber auch abgesehen von der sonderbaren Auswahl der Thiere, dürfte die Methode der
Darstellung manche Enttäuschung bringen. Der Verfasser häuft eine ungeheure Fülle
von Citaten, welche nachzuschlagen ein starkes Stück Arbeit sein würde, aber er erleichtert
dem Leser die Aufgabe nicht einmal dadurch, dass er wenigstens die Stellen der Haupt-
autoren wörtlich wiedergiebt und erörtert. Wie es uns scheint, sollen Bücher dieser
Art belehrend und unterstützend wirken nach zwei Richtungen: einerseits indem sie dem
Philologen das zoologische Wissen näher bringen, andererseits indem sie dem Zoologen
das philologische Handwerkszeug zur Verfügung stellen. Diess ist offenbar nicht erreicht
worden. Wir wollen nicht von so ostensiblen Irrthümem sprechen, wie der auf S. 137,
wo der Verfasser von dem Gott der Liebe redet, ,.den ein pompejanischer Künstler sehr
glücklich als auf einem gezäumten Tiger reitend dargestellt hat*"; in seiner Anmerkung 75
auf Seite 388 erwähnt er selbst, dass Andere darin den bacchischen Genius Akratos gesehen
haben, „den man hier auf dem „Löwen** reitend hat finden wollen**. Wie jemand, der
auf diese Weise gewarnt worden ist, in dem lang bemähnten Thier einen Tiger erkennen
kann, das ist in der Zeit der zoologischen Gärten einfach unverständlich» Aber dass er
für die Erörterung (i<^ Verhältnisses von Bos primigenius und Bison, dessen deutschen
Namen er mit einem e, Wiesent, schreibt, auf die ganze grosse wissenschaftliche Literatur über
diesen Gegenstand verzichtet und nur einige populäre zoologische Schriftsteller heran-
zieht, das beweist doch, dass er sich die Bedeutung des ersehnten „brauchbaren** Buches
nicht ganz klar gemacht hat. Wir wollen mit diesen Ausstellungen nicht gesagt haben,
dass die Arbeit des Verfassers eine werthlose sei ; im Gegentheil erkennen wir an, dass
manche Abschnitto einen recht umfassenden Blick in die Vorstellungen der Alten von
gewissen Thieren gestatten. Um so mehr schien es uns aber erforderlich, den Verfasser
vor den Abwegen zu warnen, die auf diesem schwierigen Gebiete in so grosser Zahl vor-
handen sind und die zugleich so nahe liegen. Rud. Virchow.
ERNEST CHANTRE. Rochorches anthropologiques daiis lo Caucaso. Paris
ot Lyon, Ri^inwald et Henri (loorg. 1885 — 87. Kl. Fol. mit zahl-
roic'hen Tafeln, Karten und Holzschnitten.
T. I: Periode prehistorique, avec une carte et 6 Planches.
„ II: Periode» protohistorique. Texte» avec 184 gravures. Atlas iU^
()7 Planches.
„ III: P«'»riode historiquc». Texte avec 4(1 gravures. Athis de "28 PI.
„ IV: Po])ulation8 actuelles avec 44 gravur<?s. Atlas <le 81 PI. av(»c
une carte (»thnologique du Caucase.
Schon die blosse Aufzählung der einzelnen Abtheilungen dieser reich ausgestatteten
Publikation zeigt, dass wir eines der umfangreichsten anthropologiscrhen Werke vor uns
haben, welche überhaupt erschienen sind. Der Verfasser ist seit langen .Fahren bekannt
durch die glänzende und doch durchaus sachlicb gehaltene Ausstattung seiner archäo-
logischen Schriften, und zugleich durch das hohe Maass von Zuverlässigkeit und Originalität,
welches seine Arbeiten auszeichnet. Keine von allen unifasst aber ein so grosses und
zugleich so wenig bekanntes Gebiet, un<l nieuutls zuvor hat der Verfasser in so über-
raschender Weise sein Talent gezeigt, das vorhandene Material aufzniinden imd zu einem
Gesammtbilde zusammenzufassen. Die Bedeutung eines solchen Werkes für die vergleichende
Archäologie und .A.ntliropologie vrird erhöht durch die vurtretTlicheu Abbildungen, welche
Besprechungen. 167
mit einer Suiiherkeit und (tenauigkeit (^t"zei(*hii(*t sind, dass sii> den Mangel der Oripnale
für viele Forseher ersetzen können. Der Referent, der sich selbst auf diesem schwierigen
4f(>hi»*te versucht hat und der mit Dank anerkennt, dass der Verfasser die Monographie
über das (iräherfeld von Kohan mit Wanne beurtheilt, empfindet doppelt stark, dass ein
so grosses l'nteniehmen in dem engen Kabinen einer Besjirechung nicht genügend
gesebiblert werden kann. Der wirkliche Forscher muss sich scUist an das Studium
maehen: hier krmnen nur gewisse Hinweise gegeben werden auf die Hauptergebnisse und
Ilauptgegenstilnde der Darstellung.
Was die ersteren anbetrifft, so sieht sich der Keferent meist in wesentlicher Ueber-
einstimuumg mit dem Verfasser. In der Monographie über Koban hat er selbst den Nach-
weis versucht, dass «1er Kaukasus mit Unrecht als die Wiege der sogenannten kaukasischen
Itasse angesehen sei, und dass ebenso die alte ('ultur des Lan<les fem davon ist, die Ori-
ginalität zu besitzen, welche man bei ihr vorausgesetzt hatt^. (lanz besonders gilt dies von
der .Metallrultur, deren Anfänge gerade v«m Lamlsleuten des Verfassers mit einer Sicher-
heit in das kaukasische (lebiet versetzt worden sind, welche auf den Nichtkenner einen
imponirenden Kindruck machen musste. Hr. Chantre erkennt an, was Ueferent durch
eine Reihe Yon Xachforschungen schon vtirher sichergestellt hatte, dass in diesem ganzen
(lebiete keine natürliche I.agerstätte eines Zinnerzes aufgefunden ist. Freilich bringt er
CV. II. Atlas PI. XXX. Fig. 1') et 20^ zwei verzierte Metallscheiben «von Zinn** aus Koban,
aber ohne weiteren Nachweis der Natur des Metalls. Ks sind offenbar dieselben, welche
Hr. Olshausen (Verhandl. der Berliner anthrop. Gesellsch. 18S3, S. M) erwähnt hat,
und von denen Referent es wahrscheinli<'h zu ma<*hen suchte, dass sie aus Antimon
bt'stehen. Seit<lem sind im Wiener Uofnmsenm derartige Schmuckstücke aus Koban auf-
gefunden Worden, welche in der That aus Antimon gefertigt sind (Verhandl. 1887, S. .''»öy).
Der Verfasser scheint mit dem Nachweise des Antimons in den Zierstücken des Kau-
kasus nicht einverstanden zu sein. In der Schilderung der Funde von Redkin- Lager
jredenkt er zuerst der Bronze, dann des Eisens: darauf fährt er fort: un autre metal,
l'antimoine (?) aurait 6te rencontre par Bayern (T. II. Texts p. 172). Dieser Passus wäre
wobl nicht geschrieben worden, wenn der Verfasser nicht mit einer auffälligen Beharrlich-
keit die Verhandlungen der Berliner anthropologiseben (iesellschaft b<'i Seite liegen liesse,
<lie doch seit einer Reihe von Jahren die kaukasische Anthropologie und Archäologie in
immer neuer Weise behandelt haben. Abgesehen davon, dass darin ganz werthvolle Mit-
theilungen über Steingeräthe, Bronzen, Völker und Schä<lel enthalten sind, deren Erwäh-
nung das grosse Werk nicht verunziert haben würde, so hätte der Verfasser darin auch
die Beweise finden können, dass das fragliche Metall Antimon ist, und er hätte zugleich
«Tsehen können, warum Bayern, obwohl er die (iegenstände fand, <loch nicht erkannte,
dass sie aus Antimon bestehen.
Diese Anführung könnte zu lang für den vorliegenden Zweck erscheinen, aber sie
<'harakterisirt zugleich das sonderbare Verhältniss, in welchem sich die deutsche periodische
Literatur zu der französischen Wissenschaft brfindet Die Gelegenheit, wo eine so
bedeutungsvolle Arbeit eines so gewissenhaften Forschers zur Besprechung vorliegt, ist
eine so seltene und zugleich so lehrreiche, dass Referent sich nicht enthalten konnte, diesen
(»ffen daliegenden Schaden auch einmal öffentli<'h lu bezeichnen.
Der Verfasser kommt auch darin zu einem ähnlichen Ergebniss, wie es der Referent
seiner Zeit dargelegt hatte, <lass er die kaukasische Metallcultur weder von Norden, noch
Von Westen ableitet, dass er vielmehr auf südliche und südöstliche Wege des Imports hin-
weist. Wenn er <labei in dem herkömmlichen Schema zuletzt bis nach Indien gelangt,
so widerstreitet das allerdings der Auffassung des Referenten, der sich bis jetzt vergeblich
bemüht hat, irgend welche ausreichenden Beweise für die Ableitung der Bronze aus dem
(iangesgebiete aufzufinden. Eine nahe Verwandtschaft der kaukasischen Gräberfelder der
Bronze- und beginnenden Eisenzeit mit der Hallstattcultur nimmt der Verfasser an, aber
er gesteht auch die Bt'sonderheit der kaukiLsischen ('ultur zu, die er als ..kobanienne"*
bezeichnet. Nicht ersichtlich \M es, warum er diese (Jultur eine protohistorische nennt;
dem Referenten wenigstens ist l»is dahin nichts aufgesto.<sen, wodurch irgend eine si<'here
Beziehung der kobanischen (fräbiTfelder zu einem bestimmten historischen Volke erkennbar
geworden wäre.
168 Besprechungen.
Die historischo Zeit des Kaukasus nennt der Verfasser die scythisch - byzantinische
Epoche. Sowohl über diesen Namen, als auch über die Interpretation der Funde, als diese
Epoche angehörig, lässt sich streiten. Sicherlich erstrecken sich manche Gräberfelder, z. B.
das von Komunt*, wie wir es ausdrücken würden, zugleich über prähistorische und über
historische Zeiträume, aber es wird eine feste Ansicht darüber, sowie über die Frage, ob das-
selbe Volk während der ganzen Zeit seine Todten an dieser Stelle begraben, ob also nur die
Cultur oder das Volk selbst gewechselt hat, sich wohl nicht eher gewinnen lassen, als bis
mehr systematische Ausgrabungen gemacht worden sind. Die Auffassungen des alten Bayern
hatten häniig etwas Phantastisches, aber seine Methode der Ausgrabungen war eine sehr genaue
und umsichtige. Ihm speciell verdanken wir die genaue Scheidung der Gräber -in Samthawro.
Aber er würde nicht wenig erstaunt gewesen sein, die oberen Gräber von Samthawro einer
scythobyzautinischen Epoche zugeschrieben zu sehen. Was haben die Scythen mit Trans-
kankasien zu thun? Und wie will man es rechtfertigen, den Einfluss der Römer, die doch
bis hierher kamen, und den noch früheren der Griechen dem der Byzantiner unterzuordnen V
Der Mangel, welcher hier hervortritt, würde wahrscheinlich vennieden sein, wenn der
Verfasser selbst Ausgrabungen auf einer grösseren Zahl von Gräberfeldern dieser ^Epoche**
vorgenommen hätte. So ist er häufig auf die Angaben zweifelhafter Gewährsmänner
beschränkt, welche durch Bestimmtheit der Aussagen ergänzen, was ihnen an wirklicher
Kenntniss der Verhältnisse abgeht. Hier wird die künftige Forschung stark zu sichten
haben. Trotzdem ist es ein Gewinn, wenigstens eine Uebersicht des Materials zu haben.
Darin sind ja die Fingerzeige für die mehr kritische Nachforschung gegeben.
Dasselbe dürfte zum Theil für die craniologischen Mittheilungen des Verfassers gelten.
Wie schwer es ist, für Schädel, die man nicht selbst ausgegraben hat, sichere Angaben
zu erhalten, und noch mehr, wie fast unmöglich es ist, für jeden Schädel, den man in
einer Höhle oder einem Beinhause findet, seine chronologische und ethnologische Zu-
gehörigkeit zu bestimmen, das weiss jeder, der sich mit Craniologie beschäftigt. Ich
betone diess namentlich in Betreff des mir genau bekannten tMedhofes bei Unter -Koban,
den der Verfasser abgesucht hat und den er den Tschetschenen zuschreibt. Ich habe
über denselben in meiner Monographie über Koban S. 5 das an Ort und Stelle von mir
Ermittelte zusanmiengestellt: darnach habe ich nicht den mindesten Zweifel daran, dass es
ein ossetischer Bestattungsplatz ist. Auch tritt bei der Schädelmessung die inmier noch
fortbestehende Differenz der französischen und deutschen Methode recht störend hervor.
Wer noch nicht ül)erzeugt ist, dass die deutsche Horizontale der französischen vorzuziehen
ist, der wird es durch die Betrachtung der im Uebrigen vortreflFlich gezeichneten Schädel
werden. Man vergleiche z. B. das den defonnirt<»n Schädeln gewidmete Uebersichtsblatt
in T. II. p. 124, welches die Phantasie auf ganz unmögliche Vorstellungen von dem Aus-
scheu der Leute im Leben hinleitet. Bei den Messungen ergeben sich die Incongruenzen
in der Zusammenstelhmg der Resultate des Verfassers mit denen des Generals v. Er c kort,
die er in grosser Ausdehnung und mit allem Detail heranzieht. Glücklicherweise sind die
anthropologischen C'haraktere dieser Stämme so ausgesprochene, dass nicht zu viel darauf
ankommt, ob diese oder jene Methode angewendet ist, wenigstens so lange nicht, als man
nicht in der Forschung näher an den Zusammenhang und die Ursprünge der Stämme
heranriickt, als es der Verfasser gethan hat. Der Fleiss, sowohl in der Erhebung der
Zahlen, als in der Bearbeitung derselben, tritt auch hier überall in bewundemswerther
Weise hervor : man muss selbst in diesen Dingen gearbeitet haben, um zu ermessen, welche
F^lle von Arbeit in diesen Mittheiluugen verborgen ist.
Wir können also zum Schlüsse nur noch einmal die Freude dariiber ausdrücken, dass
es dem Verfasser besrhieden gewesen ist, ein so grosses Werk zu Ende zu führen. Zweifel-
los wird sein Buch für die Folgezeit in nicht minder dauernder Erinnerung bleiben, wie
das von Dubois de Montpereux. mit dem es sich in so vielen Beziehungen begegnet.
Es wird hofT^ntlich sehr viel dazu betragen, *die ausschweifenden und haltlosen Schwär-
mereien vieler <jelehrten über kaukasische Anthropologie und Archäologie zu unterdrücken
und Vorstellungen, welche auf das Studium dor wirklirbon Verhältnisse gegrunclet sind,
an deren Stelle zu setzen. Run. ViKCirow.
V.
Culturelle und Rassenunterschiede in Bezug auf die
Wundkrankheiten.
Von
Dr. MAX BARTELS!).
Wundfiebor und Blut- und Eitervergiftung, die sogenannten acciden-
tellen Wundkrankheiten, sind auch dem Nichtmediciner ganz bekannte
Begriffe. Letztere pflegten nicht selten den schwereren Verletzungen zu
folgen, während das erstere als eine so sichere und gewöhnliche Begleit-
erscheinung selbst auch nur leichter Verwundungen betrachtet wurde, dass
man bei solchen mit unbedingter Zuversicht auf den Eintritt des Wund-
fiebers rechnete. Den letzten zwei Jahrzehnten war es vorbehalten, den
Beweis zu liefern, dass die genannten Erkrankungen, wie so viele andere,
durch das Eindringen specifischer, mikroskopisch kleiner Keime, der
sogenannten Sepsis- oder Fäulniss- Erreger, in den Organismus bedingt
würden, deren Fortpflanzung und enorme Vermehrung im Inneren der Gewebe
des Körpers alle diese Krankheitserscheinungen hervorriefen.
Die moderne Chirurgie hat es unter JOSEPH LiSTER's Vorgange
bekanntlich gelernt, durch ihre antiseptische Methode mit fast absoluter
Sicherheit den Verletzten vor dem Eindringen dieser septischen Keime zu
bewahren, und dadurch seine Wundheilung zu einer schnellen, fieberfreien
und gefahrlosen zu gestalten.
Das war nun aber, wie gesagt, ganz anders vor noch nicht gar zu
langer Zeit, und für ganz besonders gefahrbringend galten alle tieferen,
unregelmässigen, gerissenen und gestochenen Wunden, alle Verwundungen,
bei denen gleichzeitig auch die Knochen mit verletzt waren, alle Eröff-
nungen <ler grossen Körperhöhlen und Gelenke und alle Läsionen der blut-
reichen Theile des männlichen und weiblichen Genitalapparates.
Wenn wir nun einerseits die soeben erwähnten Gefahren kennen,
welche bei den Culturvölkern trotz der grössten Vorsicht und sorgfältigsten
Pflege sich nicht vermeiden und ausschliessen Hessen, und wenn wir anderer-
seits von schweren Verletzungen und von operativen Kingriffen gefährlichster
Art hören, welche die auf niederer Culturstufe sich befindenden Völker
1) Nach ein«m in der Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins am 10. Jannar 1887
gehaltenen Vortrage.
Z«itMhrift (ür Bthnolofi«. Jahrg. 1M8. 12
170 Max Bartels:
mit staunonswerther Schnelligkeit und Leichtigkeit überstehen, obgleich
doch sowohl die Körper der Verletzten, als auch die Hände ihrer Operateure
und deren primitive Instrumente sehr weit von den Anforderungen modemer
Antisepsis entfernt sind, so können wir wohl nicht umhin, an ethnologische
Verschiedenheiten in der Ertragungsfähigkeit operativer und traumatischer
Eingriffe glauben zu müssen. Die folgenden Zeilen sind bestimmt, einige
Belege hierfür herbeizubringen.
Bekanntlich haben PRUNIftRES 0 und PAUL BROCA^) über prähisto-
rische, der sogenannten jüngeren Steinzeit angehörige Schädel berichtet,
welche sich an verschiedenen Punkten Frankreichs gefunden hatten und
welche grosse, regelmässig gestaltete Knochendefekte im Bereiche des
behaarten Kopfes zeigten. TiLLMANNS') hat diese Veröffentlichungen
kürzlich in LanGENBECK's Archiv besprochen und ihre Abbildungen
zusammengestellt. Diese Defekte sind von einer solchen Regelmässigkeit
in der Form, dass sie ohne allen Zweifel absichtlich angelegt worden sind.
Deutliche Reactionserscheinungen an den Rändern beweisen, dass diese
operativen Eingriffe an Lebenden ausgeführt wurden und dass sie viele
Jahre überlebt worden sind. BROCA glaubt, dass diese Leute bereits in
ihrer Kindheit operirt wurden. Als schneidende Instrumente besassen die
Menschen der neolithischen Periode bekanntlich nichts anderes als Feuer-
steinmesser, also immerhin doch nur recht primitive chirurgische Werkzeuge.
üeber ganz analoge Trepanationen der Uvea-Insulaner (Loyalitäts-
Inseln), die sich noch heute auf der Culturstufe der neolithischen Periode
befinden, berichtet der Missionar Rev. SAMUEL ElLA^): „Eine wahrhaft
überraschende Operation wird auf der zu der Loyalitäts-Gruppe gehörigen
Insel Uvea ausgeführt. Hier herrscht die Ansicht, dass Kopfschmerz,
Neuralgie, Schwindel und andere Gehirnaffectionen durch einen Spalt im
Kopfe oder durch Druck des Schädels auf das Gehirn verursacht würden.
Das Heilmittel hierfür besteht darin, dass sie die Weichtheile des Kopfes
mit einem +- oder T- Schnitt durchtrennen und mit einem Stück Glas
den Schädel sorgfaltig und behutsam schaben, bis sie in den Knochen,
in ungefährer Ausdehnung eines Kronenstückes, ein Loch bis auf die
Dura mater gemacht haben. Manchmal wird die Schabe -Operation durch
einen ungeschickten Operateur oder in Folge der Ungeduld der Freunde
1) PRUKii»E8: Deox nouveaux cas de tr^panation chimrgicale n^oiithique. Bull, de
la soc. d'Anthrop. de Paris. Tome IX. II me Sörie. Paris 1876, p. 5öl.
2) Broca: Sur les tr^panations pr^hist^riques. Bull, de la soc. d'Anthrop. de Paris.
Tome IX. Urne S6rie. Paris 1876, p. 236 et 431. -Derselbe: Sur Tage des sujets soumis
a la tripanation chirurgicale nöolithique. 1. c. Tome IX. Urne S6rie, p. 573. — Derselbe:
Sur les tr^panations prehistoriques. 1. c. Paris 1874, p. 542.
3) H. Tillmanns : üeber prähistorische Chirurgie. B. v. Lanoenbeck's Archiv für
klinische Chirurgie, Bd. XXVHI. S. 775, BerUn 1883.
4) Rev. Samuel Ella: Native medicine and surgery in the South -Sea Islands. Tlie
Medical Times and Gazette, Vol. I. for. 1874, p. 50, London 1874.
Culturelle und Rassenimterschiede in Benig aaf die Wuudkrankhciten. 171
bis auf die Pia Tnateir ausg^edehnt und dann ist der Tod des Patienten die
Folge. Im besten Falle stirbt di<» Hälfte von d(»nen, die sich dieser
Operation unterziehen; jc^doch ist aus Aberglauben und Sitte dieser bar-
barisch«» fiebrauch so herrschend gewonlen, dass nur sehr wenig erwachsene
Männer ohne «lieses Loch im Schädel sind. Es ist mir beri<'htet worden,
dasK bisweih^n dt»r Versuch gemacht wurde, die so exponirten Membranen
im Schädel durch das Einsetzen eines Stückes Cocosnussschale unter die
Kopfhaut zu decken. Für diesen Zweck wählen sie ein sehr dauerhaftes
un<l hartes Stück der Schale, von dem sie die weichen Theile abschaben
und es ganz glatt schleifen, und sie bringen dann eine Platte hiervon
zwischen die Kopfhaut und den Schädel. Früher war das Trepanations-
instrument einfach ein Haifischzahn, jetzt wird aber ein Stück zerbrochenes
Glas für geeigneter angesehen. Die für gewöhnlich gewählte Stelle des
Schädels ist die Gegend, wo die Sagittalnaht mit der Kranznaht sich ver-
einigt, oder etwas weiter oben, gemäss der Annahme, dass hier ein Schädel-
bruch bestehe."
Wir hören also, dass trotz dieser primitiven Methode doch noch un-
geföhr die Hälfte der Operirten mit dem Leben davon kommt. Das ist
immer noch ein sehr günstiges Resultat. Ich erinnere hier an den Aus-
spruch DiefFENBACH's'): „Seit vielen Jahren habe ich die Trepanation
mehr gescheuet, als die Kopfverletzungen, welche mir vorkamen; sie ist
mir in den meisten Fällen als ein sicheres Mittel erschienen, den Kranken
umzubringen, und unter den vielen Hunderten von Kopfverletzungen, bei
welchen ich nicht trepanirte, wäre der Ausgang, während ich so nur ver-
hältnissmässig wenige Kranke verlor, wahrscheinlich bei einer grösseren
Zahl ungünstig gewesen, wenn ich in der Trepanation ein Heilmittel zu
finden geglaubt hätte. In früheren Jahren, wo ich nach empfangenen
Grundsätzen vielfältig trepanirte, war der Tod bei weitem in der Mehr-
zahl der Fälle der Ausgang. **
Tiefe Wunden der Weichtheile bringen sich allerlei Völker bei. So
berichtete kürzlich QüEDENFELDT^), dass die Vertreter der Hamadscha-
S<*kte in Marokko sich bei dem Mulüd-Feste mit eisernen Instrumenten,
die man am besten als kurzgestielte Hellebarden bezeichnen könnte, der-
artig auf den Kopf schlagen, wobei sie mit einer wippenden Bewegung
des Kopfes dem Beile entgegenkommen, dass sie buchstäblich mit Blut
überströmt waren. Aehnliches hören wir von dem Möharremfest der
schiitischen Tataren zu Schuscha in Karabagh'): Der grossen Pro-
1) Johann Friedrich DuBFFENBACn: Die operative Chirurgie. Leiptig 1846—1848,
Bd. II. S. 17.
2) M. Qcedenteldt: AbergUabe nnd h&lhreligiöRe Bmderschaften bei den Marok-
kanem. Zeitschr. f. Ethnol., Bd XTIII: Verhandl. d. Berl. mathrop. Gesellscb., 8. 688—690.
B Das Möharremfest bei den schiitisrhen Tataren zu Schuscha in Karabagh.
Globus, Bd. XVI. 8. 1B4, Braunschweig 1869.
172 Max Babtbus:
Zession voran „ziehen die Geschrammten, mehrere Hundert an der Zahl,
zumeist zu je zweien nebeneinander. Jeder hat in der Hand einen Säbel,
dessen Schärfe Gesicht und Stirn berührt. Die Kopfhaut dieser Fanatiker
ist mit Narben bedeckt, aus welchen Blut herabträufelt, das theils im
Gesichte zu Klimipen geronnen ist, theils auf ein gestärktes grosses Lein-
wandtuch herabträufelt, denn die Kleider sollen nicht geröthet werden.
Unter dem blutigen Hautüberzuge, der einer braunrothen Maske gleicht,
sieht man nichts Weisses, als das der Augen und das der Zähne."
Am Rumpfe und an den Extremitäten verletzen sich viele Indianer,
theils um ihre Kaltblütigkeit zu beweisen, theils als Zeichen der Trauer.
Turner 0 verband einen Dacotah- Häuptling, der zum Zeichen der Trauer
um den Tod seines Bruders sich die Aussenseite der Beine von den
Knöcheln bis auf die Hüften mit tiefen Einschnitten überdeckt hatte,
welche nur wenige Zoll, von einander abstanden. Mehrere Tage und Nächte
hatte er ohne Schlaf und Nahrung zugebracht, bis er die Hilfe TüRNER's
aufsuchte.
Aehnliches findet sich nach den Angaben PlNART's^) bei den
Koloschen Nordwest-Americas. Er konnte als Augenzeuge über
Geisselungen berichten, welche die jungen Männer durchzumachen hatten,
um den Titel „Tapferer" zu erwerben. Hierfür wird stets ein möglichst
kalter Wintermorgen gewählt, an dem sich die zu Prüfenden in dem eis-
kalten Wasser baden und dann herauskommen, um von einem alten Manne
mit Kuthen gepeitscht zu werden. „Les plus braves d'entre les baigneurs,
aprfes cette flagellation, prennent des pierres aiguös et se dechiront la
poitrine et les mains jusqu'au sang, se blessant quelqnefois memo assez
profondement; ils se jettent de nouveau ä la mer et ainsi de suite, jusqu'
ä ce qu'ils aient perdu connaissance. On les enlfeve alors et on les porte
dans leur yourte, oü on les enveloppe de peaux ou de couvertures en les
plaQant auprös du feu."
Noch um vieles intensiver und wahrhaft schauerlich sind die Verletz-
ungen und die Martern, welchen sich nach CaTLIN's ') Angaben die jungen
Krieger der jetzt ausgerotteten Mandan-Indianer an dem 0-kie-pa-
Feste unterwerfen mussten. „Alle zum Martern bestimmten jungen Männer
waren durch 3^tägiges Fasten und die ebenso lange Schlaflosigkeit matt
geworden und lagen abgemagert an den Wänden der Medicinhütte umher.
In der Mitte des Tempels standen zwei Männer; der Eine trug ein grosses
1) Bei H. C. Yarrow: A further contribution to the study of tho inortuary customs
of the North - American Indians. In J. W. Powell: First annual report of the Bnrean
of Ethnology to the secretary of the Smithsonian Institution 1879 — 80. Washinj,^on 1881.
2) Alph. Pinart: Not^s sur les Koloches. Bulletins de la soci^te d'Anthropologie
de Paris, tome VII. Ueme s^rie, ann^e 1872, p. 791, Paris 1872.
8) Ausrottung der Indianer in Nord -America. Ein Blick auf das Volk der Mandanen.
Globus, Bd. XYI. S. 17, Braunschweig 1869.
Culturelle und R«88<'nunter8chiedo in Bezog auf dio Wundkrsnkheiten. 17H
zugespitztoH Messi^r mit ausgezackter Klingis so dass joder Einschnitt ins
Fh*i8cii den grösstmögliehen Schmerz verursaciien musste; der Andere hatte
zugespitzte llolzpflöcke von der Dicke eines Fingers, welche sofort in die
durch das Messer verursachten Einschnitte geschoben wurden. Jetzt erhob
sich ein Jung(*r Mann und schleppte sich mühsam zu den Beiden hin. Der
Messerniaun befühlte ihm mit Daumen und Zeigefinger Haut und Fleisch
des Vonler- und Oberarmes, der Schenkel, die Kniegegend und die Waden,
in wtdche alh» er Einschnitte machte; zuletzt kamen die Brust und die
Schultern an die Reihe. Mehrere junge Leute bedeuteten Herrn CaTLIN,
<lass er sie betasten und genau untersuchen möge, bevor der Messermann
seine Operationen an ihnen beginne. Si(^ Hessen dieselben an sich vor-
nehmen, ohne dass an ihnen auch nur ein Muskel gezuckt hätte. Dabei
lächelten sie dem weissen Manne zu, der seinerseits zusammenschauderte,
wenn er sah, wie das Messer ins Fleisch fuhr und das Blut hervorspritzte.
Als die Einschnitte gemacht und mit den Holzpflöckeu, man kann wohl
sagen, gespickt waren, wurde von oben ein Lederstrick herabgelassen und
an den Holzpflöckeu der Brust oder auch der Schulterblätter befestigt.
Jeder Gemarterte hielt in der linken Hand einen Medicinbeutel, sein Schild
wurde ihm an die Pflöcke des rechten Armes gehängt; an jene des Vorder-
armes und der Beine wurden Büifelschädel befestigt, welche an Stricken
herabhingen. Darauf wurden die jungen Männer in die Höhe gezogen,
bis die Büffelköpfe die Erde nicht mehr berührten, und nun wurden die
Aufgehängten von einem bemalten Indianer im Kreise herumgewirbelt.
Diese Bewegung im Kreise war anfangs langsam, wurde jedoch immer
schneller und zuletzt so rasch, dass der hängende und gewirbelte Jüngling
jedes Bewusstsein verlor. Da baumelten nun die Gemarterten regungslos,
mit dem Kopfe nach vornüber, die Zunge hing weit aus dem Munde her-
vor; sie sahen aus wie Leichen. Als die Umstehenden mehrmals das Wort
„todt*" wiederholten, wurde das Seil niedergelassen. Diese Marter in der
Luft hatte 15 — 20 Minuten gedauert. Und jeder Krieger unter den Man-
dauen hatte dieselbe erlitten und überstanden. Wenn dann die blut-
triefenden Körper regungslos am Boden lagen, kam ein Mann und zog die
Pflöcke, an welchen die Seile befestigt waren, heraus, aber die übrigen
Hess er im Fleische. Nach einiger Zeit erhoben sich die Gemarterten und
schleppten sich zu einem als Büfiel maskirten Manne, der ihnen dem auf
einen Block gelegten kleinen Finger der linken Hand mit einem Beile
abhackte. Das Abhacken des Fingers schien den Leuten keine besondere
Qual zu bereiten und hatte weder viel Blutverlust, noch Entzündung im
Gefolge. Darauf wurden sie mit den noch an den Pflöcken hängenden
Büflelköpfen aus <ler Tempelhütte gefüiurt und wurdtai dann von starken
Männern gepackt und so wild als möglich in einem Kreistanze herum-
geschleppt, so dass die Büffelköpfe mid der Schild und alles andere, an
den Pflöcken befestigte auf- und niedersprang. Die Gemarterten waren
174 ^^^ BarteuS:
80 entsetzlich matt und mitgenommen, dass sie alles Bewusstsein verloren,
ehe sie auch nur den halben Kreis durchgemacht hatten. Einige lagen
platt auf dem Bauche, mit dem Gesicht im Schmutze, wurden aber trotz-
dem noch weitergeschleift, und dann riss man ihnen alles, was an den
Pflöcken befestigt war, mit Gewalt ab. Nach einiger Zeit erhoben sie
sich und gingen, so gut sie konnten, nach ihrem Wigwam, wo man die
Wunden verband. **
An diese Anpflockung erinnern auch Gebräuche, wie sie bei dem oben
bereits erwähnten Möharremfesto der schiitischen Tataren zu Schu-
scha in Karabagh vorkommen. Es heisst dort von der Festprocession :
„Inmitten der Geschrammten oder neben diesen Narbenmännem gehen die
Helden des Tages einher; sie gehen halbnackt und bringen sich blutige
Wunden vermittelst scharfer Gegenstände bei, mit welchen sie Schrammen
in das Fleisch einschneiden. In die Kopfhaut befestigen sie spitze Zacken
von Holz; an manchen anderen Zacken und Marterwerkzeugen haben sie
kleine Ketten und bewegliche Spiegel befestigt. Manche haben derartige
Spiegel auch an den Händen, auf der Brust und dem Magen; dieselben
sind vermittelst messingener Haken in der Haut befestigt. Auf Brust und
Rücken bilden die Spitzen zweier grosser Dolchmesser ein Kreuz, und
dieselben sind derart gestellt, dass sie bei jeder Bewegung des Mannes ihm
das Fleisch ritzen. Auch an den Seiten kreuzen sich zwei Schwerter.
An diesen Waffen hängen kupferne oder auch eiserne Ketten, sie sind um
80 schwerer, je eifriger in seiner Frömmigkeit der Märtyrer ist. Auf dem
Leibe haben sie kleine Stäbe von Holz oder Eisen, mehr oder weniger
dicht neben einander; diese bilden eine Art von Panzer, welche ein allzu
heftiges Schmerzen verhindern sollen."
In ähnlicher Weise, wie die Mandan-Indianer, wurden bekanntlich
früher in Indien fromme Schwärmer zur Ehre der Gottheit an einem
durch ihr Rückenfleisch getriebenen Haken mit Hülfe eines Seiles an einem
Pfahle aufgehisst und in der Luft herumgewirbelt. Wenn man sich nun
vergegenwärtigt, wie wonig diese Haken, Messer, Pflöcke u. s. w. den
Anforderungen aseptischer Sauberkeit entsprechen, so wird man zugeben
müssen, dass derartige Verletzungen früher bei uns nicht ohne schwere
Unterhautbindegewebs- Entzündungen und ausgedehnteste Eiterungen ver-
laufen sein imd viele Menschenleben gekostet haben würden. Trotzdem
hören wir bei den genannten Völkern nichts von schweren Erscheinungen,
geschweige denn von Todesfällen, und von den Mandan-Indianern wird
uns sogar direkt berichtet: „So unempfindlich ist das Körpersystem des
Indianers und so stark sind seine Nerven, dass man seit Menschengedenken
sich nur eines einzigen tödtlichen Ausganges zu erinnern wusste."
Ausser den vorher erwähnten Trepanationen haben wir auch von einer
Reihe anderer chirurgischer Operationen bei niederen Völkerrassen Kennt-
nJ88 erhalten. Dass die Medicinmänner hierbei nicht immer sehr zart zu
Calturclle und lUssenunterschiede in Bezag auf die Wiuidkrankheiten. 175
Werke gehen, lehrt die photographische Aufnahme eines Mannes vom Volke
der Bavaenda im nördlichen Transvaal, welche Herr Missionar BeUSTEU
au8 Ha Tscliewasse mir freundlichst überschickt hat. Weil der Kranke
an Zaiiuscimierzen litt wollte ihm der Medicinmann den kranken Zahn
luTausmeisseln. Bei diesem Untemeluuen brach er aber fast den ganzen
lH>rizontah*n Unterkieferast der einen Seite aus seinen Verbindungen heraus
und trieb ihn durch die Weichtheile der Wange nach aussen, sodass er
liier frei zu Tage lag. Soweit die Photographie lehrt, scheint der Patient
diesen Eingriff gut überstanden zu haben.
Ein ausserordentlich reiches Feld für chirurgische Eingriffe bieten die
(ieschlechtstheile dar, die männlichen sowohl als auch die weiblichen.
Wir haben hierbei ein wenig zu verweilen. Bekannt ist ja die weite Ver-
breitung, welche die Entfernung der Vorhaut gefunden hat. Dieselbe ist
wohl in der Mehrzahl der Fälle als eine nicht gefährliche Operation an-
zusehen. Anders verhält sich dieses nun allerdings mit der auf der Insel
Serang im malayischen Archipel geübten Methode, über die uns RIEDEL*)
Ausführliches berichtet Ein alter Mann zieht dem zu beschneidenden
Jünglinge das Präputium so weit wie möglich vor, und schiebt ein Stück
Holz in die Oe£Fnmig hinein. Darauf setzt er ein Messer in der Längs-
richtung auf die Vorhaut und schlägt auf dieses mit einem anderen Stück
Holz, sodass das Präputium der Länge nach gespalten wird. Dann folgt
eine höchst absonderliche Verbandsmethode, welche wir nicht gerade als
(»ine aseptische zu bezeichnen vermögen. Der frisch beschnittene Jüng-
ling eilt nämlich sofort und noch blutend zu seinem auserwählten Mädchen,
und birgt seinen blutenden Penis in ihrer Vagina. In dieser Stellung ver-
harrt er volle zwei Tage. Ist ihre Vagina noch zu eng, so bittet sie eine
Freundin, welche bereits geboren hat, ihre Stelle zu vertreten. Es ist das
ein Liebesdienst der unter keinen Umständen abgeschlagen werden darf.
Quere Durchbohrungen der Eichel und des Gliedes nehmen die
Dajaken auf Borneo und die Eingebomen des nördlichen Celebes vor.
Sie tragen in denselben bekanntlich feine Metallstäbe, au deren Enden
Knöpfchen, Bürstchen oder Sporenrädchen angebracht sind, um bei dem
Coitus stärker zu reizen. Ampallang heissen diese Listrumente. Man hat
bis zu 8 Stück an einem Penis gefunden.
Eine Aufschlitzung der Pars pendula der Harnröhre in der ganzen
Ausdehnung des männlichen Gliedes führen die Central- und Süd-
Australier miter dem Namen der Mika -Operation aus. Diese Spaltung
geschieht nach VON MIKLUCHO-MACLAY^), durch den wir genauere Nach-
richten über dieselbe empfangen haben, mit einem Feuersteinsplitter, und
1) .FoHANN Gerhabd FRIEDRICH RiEDEL: De sliük-en kroesharige Kassen tuschen
Selebcs *>n Fapua. s'Graveniiage 1886.
2) VON Mikluciio-Maclay: Ueher die Mika -Operation in Ceutral-Aiuitralien. Zeit-
schrift für Kthnulogie, Bd. XII. Yerhaudl. d. BerL antiiropol. «lesellsch., S. 85. Berlin 1880.
176 Max Bartels:
68 wird darauf ein Stück Rinde in die Wunde gelegt, um ein Wieder-
verheilen der Wundränder mit einander zu verhindern. Der Zweck der
Mika- Operation ist bekanntlich der, die Nachkommenschaft zu vermindern.
Es schliessen sich hier die Castrationen an, die, wie Jeder weiss, von
Alters her im Orient geübt wurden. Wir können über sie kein Urtheil
fallen, weil wir über ihre Sterblichkeitsziffer nicht unterrichtet sind.
Bei dem weiblichen Geschlechte werden im südlichen und westlichen
Asien und im nördlichen Afrika an den Genitalien operative Eingriffe
vorgenommen, welche unter dem Namen der Exci^on und der Infibulation
bekannt sind. Von alten Weibern wird hierbei mit schlechten Kasirmessem
die Clitoris und ein Stück vom Schamberge, nebst den kleinen Scham-
lippen herausgeschnitten. Es wird dann eine blutige Naht angelegt, oder
das Mädchen bleibt mit geschlossenen Beinen liegen, bis die Wunde ver-
heilt ist. Für die Verheirathung wird die Wunde je nach Bedürfniss, für
die Entbindung vollständig wieder aufgeschnitten. Nach dem Abschlüsse
des Wochenbettes wird die Unglückliche dann von neuem vernäht. Aus-
führliches über diesen Gegenstand habe ich in meiner Bearbeitung des
Werkes von PlosS: „Das Weib in der Natur- und Völkerkunde**,*)
zusanunengestellt.
Selbst an das Herausschneiden der Eierstöcke, an die bei uns bis vor
Kurzem noch so gefürchtete Ovariotomie, wagen sich die Wilden heran.
Derartige Fälle sind aus Indien und von verschiedenen Punkten Austra-
liens bekannt. In dem letzteren Lande wird auch diese Operation mit
einem rohen Steinmesser ausgeführt. Freilich wissen wir auch hier nichts
Genaueres über die Sterblichkeit, aber derartig castrirte, lebende Mädchen
sind von ROBERTS, ROTSH und MAX GiLLIVRAY gesehen und beschrieben
worden.^)
Es ist dem Leser vielleicht nicht unbekannt, mit welchen grossen
Gefahren die Verletzungen der Extremitätenknochen bei dem gleichzeitigen
Bestehen einer mit ihnen communicirenden Weichtheil wunde verbunden
waren. „Jede offene Fractur eines grösseren Extremitätenknochens", sagt
Billroth, ^) Ja [selbst unter. Umständen eines Fingerknöchelchens kann
eine schwere, leider noch immer zu häufig tödtliche Krankheit anregen.''
Und V. PlTHA^) tritt dem Gebrauche entgegen, bei derartigen Verletzungen
sofort die primäre Amputation des verletzten Glieder auszuführen: „Die
Erfahrung berechtigt daher und verpflichtet uns zu der humanen, mühe-
1) Dr. H. Ploss: Das Weib in der Natur- und Völkerkundo. Anthropologische Stu-
dien. Zweite stark vermehrte Auflage. Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben
von Dr. Max Bartels. Bd. I. S. 145—163. Leipzig 1887.
2) Ploss -Bartels; Das Weib. Bd. I. S. 178.
3) Theodor Billrotr: Die allgemeine chirurgische • Pathologie und Therapie.
BerUn 1869. S. 210.
4) Franz Ritter von Pitha: Die Krankheiten der Extremitäten. Erlangen. S. 808.
Cultnrelle und RaAsenant^rschiedo in Bezug auf die Wundkrankheiten. 177
vollen Bostrebung, die Heilung oline die Amputation herbeizuführen, wenn-
gIoi<'h dieselbe nicht 8(dten fehlscidägt sodass das mühsam und oft qual-
voll gepflegte Glie<l endlich dennoch der secundären Amputation vorfällt,
zuw(*ileu selbst diese Auskunft durch Pyaemie oder Erschöpfung vereitelt
wird.**
Wie müssen wir nun bei solcher hochgradigen Gefährlichkeit dieser
Verletzungen staunen, wenn wir durch R<»v. SAMUEL ELLA erfahren, dass
die bereits obenerwähnten Uvea-Insulaner (Loyalitäts-Inseln) w^egen
ganz unbedeutender Lcdden sich derartige Verwundungen beibringen lassen.
,,I)i(»se8 Mittel der Knochenanschabuug wird bei dem alten Volke in ähn-
licher Weise bei Rheumatismus angewendet. Die Haut wird in der Längs-
richtung eingeschnitten und darauf wird die Mitte der Ulna oder des Schien-
beines blossgelegt. Dann wird die Oberfläche des Knochens mit ülas
geschabt, bis ein grosses Stück der äusseren Lamelle entfernt ist."* Wäh-
rend nun also, wie wir gesehen haben, bei uns Europäern ein solches Vor-
gehen mit <len grössten Lebensgefahren verbunden sein würde, so fährt
Ella nur in seinem Berichte fort: „Ich habe niemals Jemanden gefunden,
der sich dieser Operation unterzogen hatte, der angegeben hätte, dass sie
in der angestrebten Absicht wirksam gewesen wäre. Sie waren rheumatisch
geblieben und litten ausserdem noch grosse Pein durch die im Verlaufe
<les Vernarb ungsprocesses zn Stande kommende Fixirung der Haut an den
Knochen. "*
Lassen wir noch einmal die auf den vorigen Seiten geschilderton Ver-
letzungen und operativen Eingriffe an unserem Geiste vorüberziehen, so
ist es gar keinem Zweifel unterworfen, dass dieselben bei uns in der Zeit,
bevor die antiseptische Wundbehandlung bekannt geworden war, in den
meisten Fällen zu recht schweren s(*ptischen Processen, respective zum
Tode geführt haben würden. Wie kommt es nun also, müssen wir uns
fragen, dass diese Eingriffe von den genannten Völkern so sehr viel besser
ertragen werden, als von den Europäern? Ohne Zweifel werden doch auch
bei ihnen die Fäulnisserreger ebenso gut vorkommen, als bei uns, und
wir können dann nicht umhin, anzunehmen, dass diese wilden Menschen
(*inen gewissen Grad von Immmutät gegen die septischen Keime besitzen.
Man könnte auf den Gedanken kommen, die Ursache dieser Immunität
in dem Klima suchen zu wollen. Eine solche Annahmt* müssen wir jedoch
ablehnen; denn einerstdts leben die Stämme, von dcuum ich berichten
konnte, in den allerverschiedensten Klimaten, und andererseits wissen wir,
<lass gerad(» in den Tropen bei den Europäern Verletzungen einen sehr
g«*fährli(hen und schleppenden Verlauf zu nehmen pflegen. An den sep-
tischen Keim«»n fehlt es also dort kein(»sweg8. LEIPOLDT') sagt: „In der
1) (lUSTAV Leipoldt: l)ie J.cidon des Europäers im afrikanischen Tropenklima und
ilie Mittel zu deren Abwehr. Ein Beitrag xur Förderung der deutschen ( -olonisutious-
bestrebunj^en. lieipzig. 1887. 8. 44.
178 Max Bartels :
Tropenzone nehmen äusserliche, oft sehr unbedeutende Verletzungen durch
Stoss oder Druck, ja selbst Stiche von Domen, besonders in der feuchten
Jahreszeit leicht einen ausserordentlich entzündlichen und gefährlichen
Charakter an. Man hat also Grund genug, jede Wunde, wie klein sie auch
sei, mit Sorgfalt zu behandeln.''
In dem grossen Werke von BRüüGH-SmiTH^) über Australien
befindet sich folgende Angabe eines Herrn THOMAS über die Eingebomen
von Victoria: „W^unden, welcher Art auch immer, heilen, wenn sie nicht
ein vitales Organ betreflfen, in viel schnellerer Zeit, als bei der weissen
Bevölkerung. Ich habe die verzweifeltsten Wunden, die ihnen mit ihren
W^affen beigebracht waren und welche Europäern ein monatelanges Kranken-
lager verursacht hätten, in unglaublich kurzer Zeit zum Erstaunen der
Aerzte heilen sehen. "*
Auch von den Kirgisen des Distriktes von Semiretschensk wird
uns von dem dortigen Chefarzte Dr. SEELAND ^) ganz Aehnliches berichtet.
Er sagt: „Leur extreme vitalite se montre surtout dans la maniere dont
ils supportent les blessures: de grandes blessures, meme Celles du crane,
se guerissent souvent sans fievre, ni perte d'appetit, les membres amputes
dans la continuite des os ou dans les articulations se couvrent rapidement
de granulations sans laisser d'ulcerations, de caries etc.^
Es bleibt uns also somit nur übrig, die relative Immunität gegen die
Fäulnisserreger als eine Eigenthümlichkeit der nichteuropäischen Kassen
anzuseilen. Für eine solche Annahme muss auch die ausserordentliche
Seltenheit des Kindbettfiebers bei wilden Völkern, trotz jeglichen Mangels
einer W^ochenbettpflege, sprechen, während bei uns vor Kurzem MAX BOEHK
noch nachzuweisen vermochte, dass das Kindbettfieber mehr Opfer fordere,
ab selbst die Cholera.
Aber auch unter den aussereuropäischen Völkern worden wir bei
fortschreitender Kenntniss der Verhältnisse in Bezug auf die Immunität
gegen septische Keime vielleicht noch mancherlei graduelle Unterschiede
anerkennen müssen. So sagt z. B. TlBTANY^): „Schwarze ertragen
grosse Operationen besser als Weisse, ab(^r sie neigen trotz Antiseptik
mehr zur Eiterung, heilen somit langsamer.^
Und HyadEö*) erhielt von dem Missionsdirector T. BriüGES in
Uchuaja über die Feuerländer die jNachricht, dass bei ihnen eine
epidemic of bloodpoisoning grosse Verheerungen mache: „La moindre
1) The aborigines of Victoria etc., compiled from various sources for tlie (iovemmeut
of Victoria II. Vol. London 1878.
2) Nicolas Seeland: Les Kirghis. Revue d' Anthropologie, XVeine annee, Illenie
S^rie, Tome I, Taris 1886, p. 58.
3) Tifpany: Surgical diseases of the white and colored races compared. Nacli
E. FisCHBR's Referat im Centralblatt für Chirurgie, Bd. XIV. S. 850, Leipzig 1887.
4) Hyades: Les epidemies chez les Fu^giens. Bulletins de lu societe d'Antliropologie
de Paris, Tome IX. III eme Serie, Paris 1886, p. '203.
OulturcUe and Rassonanterschiede in Beiug auf die Wundkrankheit ("n. 179
blessure devonait une cause de Buppuratioii et se terminait par la gangröne.
Souvent la mort surveuait subiteinent. Comiue symptomes dominants de la
maladie oii observait <Io8 vertiges, des maux de tete affreux. Oii peut dire
ijue la moitif'* de la population a ete ainsi onlevee de 1863 a 1870. Les
))auYre8 survivants soiit frequeniment malades, se plaignent de souffrir de
la poitriue et de Festoinac. Piasieurs presentent <le8 deformations de la
hauche cousecutives \\ des nmladies internes. Le chiifre des deees depasse
celui des naissances."^ lieber diese Blutvergiftung sagt HYADES: ^Je
croirais volontiers que c'est simplemeut une infectiou purulente so
developpant rapidimient chez des sujets fortement debilites par une yw
des plus miserables, et si Ton adniet le microbe de Tinfection purulente,
on ne sera pas surpris de voir le Directeur de la mission d'Ouchouaya
en faire une epidemie de nature special.*'
Es hat im ersten Augenblicke etwas Befremdendes, annehmen zu sollen,
dass diese pathogenen, Krankheiten erregenden Keime nicht in allen
menschlichen Kassen in gleicher Weise ihren Nährboden finden sollen.
Wir sind aber im Stande, den Nachweis zu liefeni, dass wirklich für ver-
schiedenartige pathogene Keime die Empfänglichkeit der Menschenrassen
<nne verschiedene ist. Allerdings kommt dabei die weisse Kasse gewöhn-
lich am schlechtesten fort. Die grössere Empfänglichkeit der Weissen für
die Malaria ist wohl hinreichend bekannt, und wir können sie daher au
dieser Stelle übergehen. Auch für das gelbe Fieber ist die weisse Kasse
wesentlich empfänglicher, wenigstens als die schwarze, welche letztere
nach HIR8CII*), wie es scheint, eine fast absolute Immunität gegen das-
selbe besitzt In schweren Gelbfieber- Epidemien in Britisch Guyana
und Mexico, welche die Weissen fast decimirten, w^urde unter Tausenden
von Schwarzen kein einziger Erkrankungsfall beobachtet. Interessant
ist es aber, zu erfahren, dass einige Mulatten von dieser Krankheit
befallen wurden. Die Syphilis ist ebenfalls eine Erkrankung, unter
welcher die weisse Kasse viel schwerer zu leiden hat als <lie Farbigen.
Von den Haida-Indianerinnen im nordwestlichen Amerika berichtet
<ler Capitan JaCOBSEN^), dass sie allsommerlich Prostitutionsreisen in die
Städte der Weissen unternehmen, und dass man trotzdem keine schweren
syphilitischen Erscheinungen bei ihnen sieht Allerdings glaubt er, dass
hieran der (iebrauch einer warmen Heilquelle Schuld sei, welche sie in
ihrem Lande besitzen. Aber auch vou den Chinesen wissen wir durch
SMART*) und MARTIN*), dass die Syphilis bei ihnen nur ganz leichte
1, Ar(;u8T Hirsch: Acclimatisation und Colonisation. Zeitschr. f. Ethnol., Bd. XVIII.
Verhandl d. Rerl. anthropol. Gesellsch., S. lf>9. Berlin 1886.
2. AiorsT WoLDT. Capit&n Jacobsen's Roise an der Nordwestküste Amerikas.
Leipzig l^^.
B) Smakt: The Lancet 1861.
4) Maktik : Etüde nur U Prostitution en Chine. Qasette hebdomadaire de m^decine,
l'aris 1872, p. 802.
180 Max Bartels:
Erkrankungen verursacht, während jeder Weisse, der sich bei ihnen inficirt,
von den allerschwersten Formen befallen wird. Es heisst bei MARTIN:
„II nous ä ete prouve que le sujet chinois ayaut donne la syphilis ä un
sujet europeen ue presentait pas de signes exterieurs bien serieux, tandis
que le sujet contamine voyait son aifection parcourir toutes ses phases, et
que ces accidents eussent revetu uu caractere grave sans Fintervention
d'une medication appropriee. — La race jaune possede une aptitude
moindre ä la syphilis que la race blanche."*
Auch LiVINGSTONE behauptet, unter seinen afrikanischen Völkern
niemals schwere Formen von Syphilis gesehen zu haben. Dieses gilt aber
nur für die Leute von reiner Rasse. Sobald es sich um Mischlinge mit
Weissen handelte, so fanden sich auch die ernsten Symptome, mid zwar
um so stärker, je mehr weisses Blut in den Adern des Patienten floss.
In hohem Grade beachtenswerth ist das Verhalten der verschiedenen
Rassen gegen die ursächlichen Keime der acuten Exantheme: der Blat-
tern, des Scharlachs und der Masern. Während nehmlich ein Rassen-
unterschied in der Ertragungsfähigkeit der Blattern sich nicht constatireu
lässt, während diese fürchterliche Krankheit die gleichen Verwüstungen
im Innern von Afrika, in Indien, in dem malayischen Archipel
u. s. w. anrichtet, wie sie dieses vor der Einführung der Impfung in
Europa gethan hat, so lässt sich wiederum für den Scharlach eine
deutliche Differenz zu Ungunsten der weissen Rasse keineswegs ver-
kennen. Was für die letztere der Scharlach für eine Geissei bildet, dürfte
wohl in hinreichender Weise bekannt sein. AUGUST IllKSCH*) äussert sich
hierüber folgendermaassen: „Dem bei weitem grössten Verbreitungsgebiete
von Scharlach begegnen wir auf europäischem Boden. In Deutsch-
land, Frankreich, den Niederlanden, England und den skandina-
vischen Reichen bildet die Krankheit einen Hauptfactor in der Mor-
biditäts- und Mortalitätsstatistik; ebenso scheint Scharlach in Russland
ziemlich allgemein verbreitet zu herrschen, und dafür, dass auch die nörd-
lichsten und südlichsten Landstriche dieses Erdtheiles sich keiner wesent-
lichen Immunität von der Seuche erfreuen, sprechen die Berichte von
SCHLEIöNEK aus Island einerseits, von MENIS und DE RENZI aus Ober-
und Ünter-Italien, von OPPENHEIM und RlGLER aus der Türkei, von
Olym1*IOS aus Griechenland, von MORlö aus der Insel Sardinien, von
ZULATl und JeNMEK aus den ionischen Inseln und Malta audererseits.""
Fast gänzlich unbekannt oder nur in milden Epidemien auftretend,
ist dagegen die Krankheit in Asien, in Afrika und in Oceanion. In
1) August Hirsch: Handbuch der historisch - geographischen Pathologie. Abthei-
lung I: Die allgemeinen acuten Infectionskrankheiten vom historisch - geographischen
Standpunkte und mit besonderer Berücksichtigung der Aetiologie. Zweite, vollständig
neae Bearbeitung, Stuttgart 1881.
Cnltarelle nnd Rasaennnienchiede in Benifr ftnf die Wnndkrankheiteii. 181
Amorika sind aber neuerdings schwere Epidemien sowohl im Norden, als
auch im Rüden beobachtet worden.
Bei den Masern gestaltet sich die Rache nun gerade umgekehrt: hier
habon di«» farbigen Rassen entschieden viel schwerer zu leiden, als die
Weissen. Den Beweis für diese Behauptung „bieten die Epidemien von
1749 unter den Eingebomen an den Ufeni des Amazonenstromes, wo
die Zahl «ier der Reuche Erlegenen auf 30 000 veranschlagt wird und ganze
Tribus hinweggerafft wurden, ferner 1829 in Astaria, wo fast die Hälfte
der Eingebornen zum Opfer fiel, ebenso 1846 unter den Indianern der
Hudsonbay-Länder. 1852 unter den Hottentotten im Caplande,
1854 und 1861 unter den Eingebomen von Tasmania und 1874 auf Mau-
ritius und auf (hm Fidschi-Inseln" (HlBSCH^)). Auch die Peuer-
1 ander sind nach IlYADES*) in den letzten Jahren durch eine Masera-
epidemie decimirt worden: „L'epidemie s'est etendue rapidement, aucun
des indigenes residant pr^s de la mission anglaise n'a ete epargnö."
Von den tuberculösen Prozessen behauptet TiFFANY'), dass sie
bei den Negern um Vieles schneller und bösartiger verlaufen, als bei den
Weissen.
Wenn nun auch nach meiner üeberzeugung für die grössere oder
geringere Ertragungsfahigkeit traumatischer Eingriffe oder, was dasselbe
sagen will, für die höhere oder geringere Immunitat gegen die pathogenen
Keime der accidentellen Wundkrankheiten in erster Linie nnd haupt-
sächlich die Rasse verantwortlich gemacht werden muss, so können
wir sie doch, wie ich glaube, nicht als die ausschliessliche Ursache für
diese Dinge betrachten. Denn auch innerhalb der weissen Rasse finden
wir ganz zweifellos sehr verschiedene Grade der Toleranz gegen Ver-
letzungen. Schon die vorher erwähnten Menschen der neolithischen Periode
sprecluMi dafür. Denn wir haben keinerlei Ursache, anzunehmen, dass sie
nicht der sogenannten kaukasischen Rasse angehört hätten. Auch die
in Russland so weit verbreitete Skopzensekte beweist es. Diese
wunderbaren Heiligen, über die wir durch VON PELIKAN*) amtliche
B(Tichte besitzen, schneiden sich bekanntlich den Hodensack oder den
P<»ni8, oder beides zugleich ab: auch excidiren sie di<» Weiber, ähnlich
wi«» die Nord-Afrikaner, und amputiren ihnen die Brüste. — alles zur
höheren Ehre Gottes. Ihre chirurgischen Instrumente sind schartige Messer,
Scherben oder Blechstücke, und doch hat man einen tödtliclien Ausgang
oder den Eintritt schwerer Erscheinungen nur in den seltensten Fällen
nachweisen können. Als ich kurz nach der polnischen Insurrection im
1) AuGCST Hirsch: Hist.-geogr. pathol. Abth. I. S. 120.
2) Hyades: I.e. p. 202.
3) TirrANY: I.e.
4) K. VON Pelikan: Gerichtlich roediciniHche Untersuchungon Qber das Skopzenthum
in Rnssluid. Uebersetit yod N. Iwanoff. Giessen und St Petersburg 1876.
182 Max Bartels:
Jahre 1864 einige Wochen in Masuren an der russischen Grenze zu-
brachte, waren die Leute, auch die Aerzte, noch voll von den colossalen
Verletzungen, welche einige Kosaken davongetragen hatten. Man hatte
sie für absolut verloren gehalten, und trotzdem waren sie in relativ kurzer
Zeit wieder hergestellt. Einige ähnliche staunenswerthe Fälle wurden von
Hans SCHMID') aus dem serbischen Feldzuge berichtet. Das üeber-
einstimmende in allen diesen Fällen können wir nun nur in dem einen
Umstände finden, dass es sich hierbei stets um solche Leute handelte,
welche, obgleich der kaukasischen Rasse angehörig, sich dennoch auf einer
sehr niedrigen Culturstufe befanden. Auch die bekaimten Erfahrungen
von PlROÖOFF^) finden zum Theil wohl hierdurch ihre Erklärung. Er
sagt: „Die glücklichsten Resultate meiner chirurgischen Praxis habe ich
auf dem Lande in Po doli en gewonnen. Nach ein paar Hundert bedeu-
tenden Operationen — habe ich nicht ein cnnziges Mal Erysipel und
purulente Diathese beobachtet, und habe nur einen meiner Operirten ver-
loren. Allen diesen Operirten folgte nur sehr selten eine sorgfaltige Nach-
behandlung. (Sie lagen in dem gemeinsamen Wohn- und Schlafraume mit
den Bauern zusammen.) Die Patienten gehörten keineswegs zu den Mit-
gliedern der Bauernfamilien. Sie waren grösstentheils fremde, von weit-
her gekommene Leute, die für Obdach und Kost zahlen mussten. Sie
behielten meistens wochenlang die mit Blut und Eiter beschmutzte Wäsche
und die aus leinenen Hosen und aus einem Rocke oder Schafpelze
bestehenden Kleidungsstucke auf dem Körper. Bedenke ich femer, dass
beinahe alle von mir auf dem Lande gemacliten Operationen zu solchen
gehörten, die selbst in sogenannten salnbren Hospitälern meist von Ery-
sipelen und Pyämie gefolgt werden, so kann ich diese Diiferenz der
Resultate mir nur einigermaassen dadurch erklären, dass meine Operirten
auf dem Lande nicht in einem Räume zusammen, sondern vereinzelt,
einer vom anderen vollkommen abgesondert lagen." Ich möchte hier wohl
noch hinzufügen: „und dass sie den niedersten und in einer Art von Halb-
cultur lebenden Schichten der russischen Bevölkerung angehört haben".
Das uns bis heute zu (lebote stehende Material liefert also den
uuumstösslichen Beweis, dass traumatische und chirurgische Eingriife, wohl
verstanden, olme die Cautelen der antiseptischen Wundbehandlung, nicht
von allen Menschen in gleicher Weise ertragen werden, und wenn wir
auch den eigentlichen Grund für diese Thatsache fürs erste nocli nicht
einzusehen vermögen, so können wir doch nicht umhin, dem höheren oder
geringeren Grade der Civilisation eine wichtige Rolle für dieses Verhalten
zuzusprechen. Vielleicht haben wir uns die Sache in cler Weise vor-
1) Hans Sciimid: Aus den serbischen Kriej^fslazarethon. Vortrag, gehalten am
3. März 1886 in der Berliner medicinischen Gesellschaft.
2) N. Pirügopf: Grundzfige der allgemeinen Kriegschiriu*gie. Nach Reminiscenzen
aus dem Kriege in der Krim und im Kaukasus und aus der Hospitalpraxis. Leipzig 1864.
Coltorelle und Rassenantenchiede in Beiug auf die Wondkrankheiten. 183
zustoUoiK da88 bei den unter primitiven Verhältnissen lebenden Menschen
durrh diejenige Umbildung in dem Haushalte des Organismus, welche wir
gemeinhin mit dem Namen der Abhilrtung zu bezeichnen pflegen, der
Stoffwechsel beschleunigt und gesteigert wird, und dass sie hierdurch die
Befähigung erlangen, Fäulnisserreger, welche in ihre Wunden eingedrungen
sind, mit grosser Geschwindigkeit wieder aus ihrem Körper auszusch(*iden
und dadurch natilrlich an ihrer schädigenden Weiterentwicklung zu ver-
hindern. Jedenfalls aber liaben wir die Berechtigung, über die Ertragungs-
fähigkeit, die Toleranz gegen die traumatischen und chirurgischen Eingriffe
den folgenden Satz für bewiesen zu halten: Je höher die Kasse, desto
geringer ist die Toleranz, und je niederer innerhalb der gleichen
Rasse der Culturzustand ist, desto grösser ist die Toleranz.
Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als der Civilisation eine
Steigerung in der Empfänglichkeit für die Mikroorganismen der Wund-
krankheiten zuzusprechen. Allerdings müssen wir dann die Frage auf-
werfen, ob die in <len obigen Auseinandersetzungen festgestellten Unter-
schiede als ächte Rassendifferenzen aufgefasst werden dürfen, d. h. als
solche Eigeuthümlichkeiten, welche immer und unter allen Umständen
der betreffenden Rasse anhaften, oder ob sie vielleicht nur scheinbare
sind, ob sie ebenfalls nur durch den Umstand hervorgerufen werden, dass
die betreffenden Farbigen noch in einem Zustande von relativer Wildheit
ihr Leben führen, und dass sie diese, sie vor dem weissen Manne aus-
zeichnende Eigenschaft verlieren würden, wenn es gelänge, sie in einen
Zustand hoher Culturentwicklung überzuführen. Leider vermögen wir
diese interessante Frage nicht zu entscheiden, denn es liegen, soweit mir
bekannt ist, hierfür keine beweiskräftigen Beobachtungen vor. Immerhin
ist es aber beachtenswerth, dass von den Japanern sowohl, als auch von
den Chinesen nicht berichtet wird, dass sie Verletzungen besser vertrügen,
als die Leute der weissen Rasse.
VI.
Eintheilung und Verbreitung der Berberbevölkerung
in Marokko.
Von
M. QUBDENPELDT.
(Hierzu Tafel VI.)
(Fortsetzung von Seite 160.)
Es ist selbstverständlich, dass die jederzeit kampfbereiten Breber sich
nie von ihren Waffen trennen. Ihre Geschickliehkeit in der Handhabung
derselben ist sehr bedeutend. Sie verstehen es, bei anscheinend friedlicher
Unterhaltung mit einer Person, die sie tödten wollen, ihr Gewehr mit der
Zehe abzudrücken oder den Dolch unbemerkt aus der Scheide zu ziehen ^ ).
Die HauptwaflFe bildet eine lange Flinte mit Peuersteinschloss und breitem
Kolben, von der Art, wie sie, als bei den Ruäfa gebräuchlich, auf S. 121
abgebildet ist und wie sie in dieser Form im ganzen Lande, ausser bei
den Schlöh, vorkommt. Nur die Ait Bu-Sid bedienen sich, wie die letz-
teren, der Flinte mit schmalem, stark verziertem Kolben; dieser Stamm
trägt auch durchgehends Säbel. Bei einigen Stämmen im Gebiete des
Muluja, an der algerischen Grenze, sind Doppelflinten französischen
Ursprungs mit Perkussionsschlössern nicht selten in Gebrauch. — Es sei
hier eingeschaltet, dass Feuerwaffen dieser Art von den Franzosen auch
im Senegalgebiete in grosser Menge importirt werden. Von da aus haben
sich dieselben durch die ganze westliche» Sahara bis ins Tekena- und
Nün-Gebiet verbreitet. Pistolen trägt der Berberi selten; für den Fern-
kampf scheinen sie ihm nicht geeignet, und für den Nahkainpf genügt ilim
sein Dolch. Die Gewehre werden mit der höchsten Sorgfalt beliandelt
und oftmals mit bunten Lederriemen, SilberbeschlägcMi u. s. w. verziert.
Dir Pulver, von sehr grobkörniger Beschaffenhc^it, bereiten die Breber
selbst aus im Lande gewonnenem Salpeter, aus der Kohle vom Holze des
Oleander und aus Schwefel, welcher von Händlern eingeführt wird. Der
1) Vergl. Erckmann a. a. 0. S. 119.
ltüi,hi:tEtiau,l BäXxm^
Eintheilang und Verbreitung der BerberbeTölkerung in Marokko. 185
Werth dio8(»8 wichtigen Artikels stiegt im ganzen Lande, sobald die Kunde
von einer schweren Erkrankung des Sultans oder von sonstigen Umständen
laut wird, die einen Thronwechsel mit seinen unvermeidlichen, kriegerischen
Wirren in nahe Aussicht stellen.
Zur Aufbewahrung ihrer Munition führen die östlich wohnenden Stamme,
wie ich im Lager des Sultans bei Ssaffi (1886) bei einem Aufgebot der
Ait Scherroschon zu sehen Gelegenheit hatte, sehr hübsch aus Leder oder
Thierfellen gearbeitete Kugelbeutel und Taschen, oftmals mit lang herab-
hängenden Lederfran8(Mi besetzt — ein Ajustement, welches unwillkürlich
an das der nordamerikanischen Indianer eriiniort. Fig. 1 (Taf. VI) stellt
nach einer Zeichnung von FOUCAULD (S. 24) eine solche Tasche, kräb, dar.
In den Oasen der Sahara, speciell in Tafilelt, Ferkla u. s. w., sind
sehr kunstvoll in Lederstickerei gearbeitete Taschen mit mehrfachen
Behältern in (lebrauch, welche den Namen kräb filali, d. h. aus Tafilelt,
führen; man bewahrt auch Tabak darin auf. Ich gebe (Fig. 2) die Ab-
bildung einer solchen, von mir mitgebrachten Tasche, welche sich jetzt
in der Sammlung des Königl. Museums für Völkerkunde in Berlin befindet >).
Die Pulverflaschen sind gleichfalls geschmackvoll gearbeitet, entweder
rund mit Holzschnitzerei (Fig. 3) oder — bei einigen im Norden des
(tebietes wohnenden Stammen — von einer Form, die sich bienenkorb-
artig wie ein kleiner Hügel auf einer Holzscheibe präsentirt (Fig. 4) und
die man auch im Djebel. zwischen Tetuan und Fäss, in Andjera u. s. w.
schon findet. Diese Pulverflaschen sind oftmals mit den blanken Messing-
köpfen hineingeschlagener Nägel bedeckt.
Einzelne Breber-Stämme im Südosten, z.B. die Ait 'Ali-u-Brahim,
tragen noch, wenn gleich sehr vereinzelt, neben ihren Gewehren kurze
Spiesse, eine Bewaffnungsart, welche im übrigen Marokko, wie bereits
erwähnt, nirgends mehr vorkommt. Die lange Lanze der Beduinen des
Orients ist auch in früheren Zeiten im ganzen Maurib nicht heimisch
gewesen.
Ausser tlem (Jewehr führen alle Brebor Säbel oder Dolche von ver-
schiedener Form. Meist sind tliese letzteren Stichwaffen lang; kurze,
m(»sserartige Dolche find(»t man seltener bei ihnen. Fig. 5 veranschaulicht
eine ssebüla, wie sie bei den nordwestlichen Tribus getragen wird: Holz-
griff, Scheide gleichfalls von Holz mit dünnem Messingblech belegt. Fig. 8
stellt einen ziemlich kurzen, leicht gekrümmten Dolch dar, der am oberen
Draa im Gebrauche ist und dem Namen ^'abad'* führt. Der Griff ist von
Hörn, die Scheide von Holz mit rothem Leder überzogen.
Die Dolche sowohl, als auch die Taschen für Munition variiren im
Allgemeinen in tler Form nicht sehr; intlessen haben die westlichen Stämme
1) Mit Aasnahme Ton Fig. l siDd alle hier abgebildeteD, ethnographischen Gegen-
stlnde nach den von mir mitgebrachten Originalien gezeichnet.
Z«iUcbriri für Ktbaolofie. Jahrg. IMi». • ^
Igf; M. QUfiDENFELDT:
doch andere Muster in Gebrauch, als die in den östlichen Theilen des
Gebietes wohnenden. In Fig. 7 ist eine Munitionstasche vom Pelle dos
Herpestes Ichneumon L. abgebildet, wie sie bei den Geruän vorkommt.
Die Leute von Tadla tragen an Stelle sonstiger Stichwaffen ein langes
Bajonnett an einer dicken, bunten oder einfarbig rothen Wollenschnur
(medjdul) von der rechten Schulter zur linken Hüfte. In gleicher Weise
wird in ganz Marokko SäbeL Dolch und Pulverhorn getragen. Ein Spicken
des Ijeibgurtes mit Stichwaffen, wie es bei den Arnauten, vielen klein-
asiatischen Mohammedanern u. s. w. die Regel ist, habe ich dort nie
bemerkt. Nur bei den Ruafa sali ich einige Mal Pistolen in clem um
den Leib gewundenen Shawl stecken.
FOUCAULD erwähnt (S. 45) das Vorkommen grosser, säbelartiger Holz-
stöcke bei der Kabila Siiian. Ich vermuthe, dass diese Holzsäbel identiscli
sind mit einer ähnliclu^i Waffe, die ich im ganzen Garb beobachtet habe
und die man dort „met-el-öt", d. h. „Tödteholz", nennt, woraus die Spa-
nier „mataluta" machen (Fig. 8). Mit di(»ser Waffe bringen sich die Land-
leute in Schlägereien oft schwere Verwundungen bei.
Die Bekleidung und die Haartracht der Breber wechselt in den ver-
schiedenen Gegenden nicht unc^rheblich. Im Norden, um Fäss und östlich
davon, ist der „chaidilss", ein Bernuss von schwarzer Wolle, gebräuchlich.
Die Semür und Sa'ian im WesttMi zeichnen sich nach FOUCAULD durch
ihre primitive Bekleidung aus. Selbst reiche Leute tragen dort weder
Unterhemd noch Hosen, sondern nur ein einfaches Oberhemd mit kurzen
Aerineln, „laradjia" oder „farasia", inid darüber den „beniüss*'. Die Armen
tragen überhaupt nur den letzteren; auf dem Marsche falten sie ihn zu-
sammen, leg(»n ihn über die Schnittern und gehen nackend. Reiche tragen
um «len Kopf einen Turban von weisser Baumwolle oder ein roth und
weisses Taschentuch; tlie Armen gehen barhäuptig.
Die Kleidung der Frauen ist \nn ihnen gl(»ichfall8 so (unfach wie
möglich. Sie besteht in einem rt^chtwinklig geschnittenen Stücke WolhMi-
oder auch Baumwollen zeug, «lesscMi beide Enden durch eine V(»rtikale Naht
verbunden sind. Sie trag(Mi es auf drei Arten: je nachdcmi sie ausgehen,
ausserhalb des Zeltes oder im Z(»lte selbst arbeiten. Im ersten Falle wird
das Gewand durch Spang(Mi von Silber (chellal) oder einfache Knoten
über jed(»r Schulter gehalt(»n. Wt^nn sie im Freien arbeiten, schürzen sie
es auf und lasscm die Arnn» und Schultern biz zum Busen frei. Im Innern
des Zeltes lassen sie den obenan Tlieil h(M*al)fallen, so dass d(»r Köq)er
bis zum (rürt(d nackt bleibt. Als (lürtel dicMit in allen drei Fällen ein
wollenes Band, welches das kurze, kaum über tue Knie herabreichende
Gewand oberhalb der Ilüft(»n zusammenhält.
l)i(»se Art der Bekleidung findet sich ausschliesslich bei den
genannten zwjm Stämnu^n. Schon die Frauen in (h^m benachbartcMi Gebiete
von Tadla tragen, wie fast durchgehentls im übrigen Marokko, eine längere,
Eint Heilung und Verbreitung der Berborl)ovftlkerung in Marokko. 187
bis zum Knöclu»! herabfallende Oewaiuhui«^, die stets, auch bei der Arbeit,
mit Fibeln oder Knoten Aber <len Schultern befestij^t ist. Die Form dos
Kleidunjj^stuekes ist die «ifleiehe, rechteckiLce, währentl <his Gewebe und
der Stoff vielfach wechseln. Die Hreber- Frauen verschleiern sich niemals;
nur bei einzelncMi Stämmen ist es Sitte, ein kleines, schleierartij^es Kopf-
oder Brusttuch zu tra«;en.
In der Oase Krtib kleiden sich, nach KoHLFS, die Weiber vorzujrs-
weise in (»inen dunkelblauen Haik. ans «grobem Kattun bestehend, der von
England aus, meist über 3fogador, ein<^efilhrt wird. Ihr Haar durchflechten
sie mit vielen Silber- und Kupferkc^tten, tra^^en aucli an den Armen, wie
um die Knöchel schwx^re Spanji^en von diesen Metallen. Die jungen, nn-
verheiratheten Manner der Ait Atta, wcdcher Stamm einen integrirenden
Bestandtheil der Bevölkerung der genannten Oase bildet, tragen im recliten
Ohre einen schw^eren silbernen King, der dasselbe oft bis zur Schulter
liinabzieht. Die Jünglinge der Ait Isdigg tragen einen Ring von Silber
im linken Ohre; die Kleidung besteht dort meist aus einem Bernüss von
weisser Wolle, mit bunter Seide gestickt.
Das Tättowiren (tischerat) ist bei «len Weibern der meisten Breber-
Stamme üblich; die Frauen der Beni Mellal, der Ait Atta Umalu und
einiger anderer Kabilen im Tadla zeichnen sich durcli einen übermässigen
tiebrauch des Ilenna-Mehles aus.
Fingerringe sind bei beiden Geschl(»chtern überall sehr beliebt; den
Weibern ist überhaupt jede Art von Schmuck, deren sie nur habhaft werden
können, willkommen: Halsketten (taselacht), Armbänder (imkiassen), Ohr-
ringe (letrak) u. s. w.
In Rabat beschäftigte Hafenarbeiter vom Stamme der Geruän sah ich
mit einer kaschäba (kurzes ärmelloses Hemd) von weisser Wolle mit ein-
gewebten rothen Längsstreifen und kurzen Leinwandhosen bekleidet. Ein
in der Form dieser kaschäba sehr ähnelndes, aber längeres Kleidungs-
stück aus blauem Baumwollenzeug (chent) wird von den südatlantischen
Breber wenig, hingegen von den Schlöh in den westlichen Oasen viel
getragen.
Die Ait Jahia und Ait Ssedrat in Mesgita') tragen den Bernüss ent-
weder von einfarbig brauner oder von grauer Ziegenwolle; im letzteren
Falb» ist er mit feinen weissen oder schwarzen Längsstreifen versehen.
Der Kopf wird bloss getragen oder mit einem kleinen Tuche turbanartig
umwunden.
Im (lebiete von Datles'-') tragen die Mäimer lange Bernüss von
1) Mesgita hat eine stark«», «^eniischte Bevölkeninjj von BrOber (Ait Ssedrät), Schlöh
Haratin und Arabern (Schürfa\ weshalb Kleidung, Hewalfnunp u. s. w. viele Ueberj^änj^e
aufweisen. Einzelne weitere Mitth(»iliinf>:en über die Oasen mit gemischter Bevölkerung
werde ich im näch^iten Abschnitte bringen.
2) Ein»* der arabischen Ausspraclit» sehr gut augepasste. indessen incorrecte
Igg M. Quedenfeldt:
schwarzem oder dunkelblauem Wolleiistoif. In Todra sind dieselben meist
in „Haik's" oder Berniiss von weisser Wolle gekleidet. Noch weiter öst-
lich, im Muluja-Thale, macht sich schon die algerische Sitte bemerkbar,
eine Schnur von Kameelwolle, welche den weissen Haik so über dem
Kopfe zusammenhält, dass der Nacken geschützt ist, um die Stirn gewunden
zu tragen.
Bei vielen Breber sieht man, ähnlich wie bei den Arabern in den
Ebenen des Westens, eine einfache Schnur von brauner Wolle um den
glatt rasirten Schädel gewunden. Dies Rasiren des Kopfes ist überall die
Regel; bei verschiedenen Stämmen tragen besonders die jüngeren Leute
an einer Seite des Hinterkopfes einen Zopf-
Die Semilr und Saian haben die Sitte, sich eine lange Locke ober-
halb des Ohres stehen zu lassen, die Saian nur über einem, die ersteren
über beiden Ohren. Diese Locke, die den „nuäder" ^) der marokkanischen
Juden oder den „Peies" der polnischen entspricht, bildet für die jungen
Stutzer einen Gegenstand der peinlichsten Sorgfalt. Man kämmt sie, ölt
sie ein und flicht sie breit auseinander. Der Gebrauch des Loekentragens
besteht auch bei einigen, an diese Breber grenzenden Stämmen in Schauija;
ebenso gefallen sich viele Muchasenia (Lehnsreiter, Gensdarmen u. s. w.)
in dieser Haartracht. Vermuthlich bezieht sich auf diese Sitte die auch
von ROHLFS (Beiträge u. s. w. S. 92) citirte Stelle aus STRABON, lib. XVH:
„sie kräuseln sich sorgfaltig ihr Haupthaar und ihren Bart, und selten
wird man, wenn sie miteinander spazieren gehen, bemerken, dass einer
dem anderen zu nahe kommt, aus Furcht, die Frisur desselben zu ver-
derben."
Die heutigen Breber schneiden den Bart kurz und rasiren in ähnlicher
Weise, wie die Araber, nur einzelne Partieen desselben. Der Bartwuchs
ist im allgemeinen stärk(»r, als bei den Arabern. Die ilbrigen behaarten
Körpertheile werden nach allgemeiner mohammedanischer Sitte rasirt.
Die Frau(»n rasiren nicht, sondern entfernen die Haare durch Auflegen
einer Paste, dertMi Hau|)tbestandt1ieil ungelöschter Kalk ist.
Die Hanrfarbe der Breber ist schwarz od€»r ein dunkles Braun; blonde
Individuen finden sich sehr vereinzelt darunter. Nur die Bevölkerung «1er
im Gebiete der Beni Mtir liegenden Kassba Agurai ist vorwiegend blond.
Dieser Umstand wird von den umwohnenden Berbern und Arabern als
(»twas ganz l^xceptionelles betrachtet und dadurch erklärt, dass sie sagen,
die L(»ute von A^urfii seien Nachkommen euro)>äisch(»r Renegaten.
Schreil)weiso dieses Wortes, >I)alx~, liinlot sich in dvn von Henoi: j). h\\)) witMl<'rg»x^»ln'n<*n,
im Jahre 1788 von Vknti:re gesammelten Notizen über die Lander zwiKchj'n dem Tad
Draa und dem Atlantischen Ocean.
1) «Niiader- sind dicke Haarsträhnen, welche die marokkanischen Jud<Mi ul>er jedem
Ohre länjJTs <len Wang^en herabhängen lassen und welche bis zum Kinn oder bis auf die
Schulter reichen.
Etntheilung und Verbreitung der Berberbevölkerung in Marokko. Ig9
Die von DE8PINE (Psychologie imturoUo I. p. 103) und nach diesem
Autor auch von HARTMANN in seinem vortn»fflichen Werke: Die Nigritier * ),
Th. I. S. 262, erwähnten blonden Bewohner von Fass sind, wie ich mich
selbst durch den Augenschein in vielen Fällen überzeugen konnte, häufig
Albinos. Der Albinismus scheint in dieser Stadt mehr als anderwärts in
Marokko (er tritt dort überall nur sehr vereinzelt auf) vertreten zusein.
Einen besonders ausgeprägten Typ sah ich in der Kassba der Uled Harris
(Kassba Ben er -Raschid) in Schauija, einen Fässi, der dort von dem sehr
reichen Käid als Agent in allerlei zweifelhaften Geschäften benutzt wurde.
Daneben spielte dieser Mensch die Rolle eines Hofnarren und wurde wegen
seines Aussehens und komischen Wesens fortwährend gehänselt. Neben
allen sonstigen charakteristischen Merkmalen der Albinos hatte er auch
den eigenthümlich lichtscheuen Blick derselben. Unter den vielfach sehr
derben Scherzen, welche mit dem Manne getrieben wurden, war ein regel-
mässig wiederkehrender der, ihn als Europäer und Christen zu bezeichnen;
ich wurde in seiner Gegenwart scherzweise gefragt, ob ich ihn in Europa
nicht schon irgendwo gesehen habe u. s. w. Auch aus diesem Beispiele
erhellt wiederum, wie die Eingeborenen selbst geneigt sind, jedes Auf-
treten von Hellhaarigkeit unter Ihresgleichen a priori als ein Zeichen
europäischer Abstammung zu betrachten.
üebrigens ist die Thatsache, dass gerade» unter den Bewohnern von
Fäss sich relativ häufig Individuen mit auffallend weisser Hautfarbe
befinden, aus zweierlei Ursachen herzuleiten. Einmal sind unter den
besseren Klassen der Bevölkerung zahlreiche Nachkommen der aus Spanien
(Beled el-Andaluss) vertriebenen „Mauren", -- um mich dieser sehr vagen
Bezeichnung hier, wo sie nocli am ersten am Platze ist, einmal zu bedienen,
— in deren Adern entschieden christliclies Blut rollt. Neben Fäss sind
es in* Marokko noch vornehmlich die Städte Rabat und Ssela und ganz
besonders Tetuan, wohin sicli jene Auswanderer oder Flüchtlinge wandten.
Diese maurischen Familien sintl meist schon an ihren Namen kenntlich.
Während der Marokkaner sonst keinen Familiennamen führt, sondern sich
nur mit seinem Vornamen und dem Zusätze „Sohn des und des**, allenfalls
noch unter Hinzufügung seines Stamm- oder Sippennamens-) bezeichnet,
1) Die Nifn^tier. Von R. Hartmann. Berlin 187(1. — Leider konnte dieses vortreff-
liche Werk hei der Torliegenden Arbeit nur in sehr geiiiigem Umfange als Quelle benatzt
werdea, da der Herr Verfasser die Magribiner aus Autopsie nur wenig kennt und sich in
Besog auf dieselben meist selbst auf franzosische Autoren stutzt. Einige Fragen, welche
hier, als mittelbar zum Thema gehörig, nur gestreift werden konnten, z. B. die der blonden
Berber, des prähistorischen Tamhu- Volkes u. s. w., sind von dem trefllichen Anthropologen
sehr eingehend behandelt, und ich erlaube mir daher, zur Ergänzung des in der vor-
liegenden Arbeit darüber Gesagten, auf Cap. IX des Werkes hinzuweisen. Im folgenden
Abschnitte komme ich selbst noch einmal auf dasselbe zurück.
2) Z. B. Meludi Ben Mohammed Siaidi Talbi, Meludi, der Sohn des Mohammed, von
der Kabila Siaida und der Sippe der Ulcd Taleb.
190 M!. Quedenpeldt:
tragen die Abkömmlinge der spanischen Mauren constante Familiennamen,
wie z. B. Torres, Garcia, ßalmia, denen der mohammedanische Rufname
vorangestellt wird, beispielsweise 'Abd el-Kerim Ralmia.
Der zweite Gnmd für die weisse Hautfarbe vieler Fäss- Leute liegt
in der Bauart dieser Stadt. Fäss ist der einzige Ort im ganzen Sultanate,
welcher Häuser von drei bis vier Stockwerken in solcher Anzald besitzt,
dass sie ganze Strassen bilden; dabei sind diese letzteren so schmal, dass
niemals ein Sonnenstrahl hineindringt. Viele Einwohner bringen also, bei
der Abneigung der marokkanischen Stadtbewohner, sich durch Spazier-
gänge u. dergl. Bewegung im Freien zu verschfiffen, fast ihr ganzes lioben
im Schatten der Häuser zu. Abgesehen vielleicht von einer nothwendigen
Geschäftsreise oder dem Aufenthalte gegen Abend in einem schattigen
Garten nahe? der Stadt, kommen viele Städter thatsächlich niclit ins Freie.
Dieser Umstand scheint also sehr wohl geeignet, die fast krankhaft zu
nennende Weisse in der Färbung mancher Fässiin zu erklären.
Der unvermisohte Breber- Typus weicht von dem der Schlöh beträcht-
lich ab und weist auch DifTerenzen mit dem der Ruäfa auf, obschon er
dem Typ der dunklen Rif- Herber entschieden sehr nahe steht. Die
Breber nördlich vom Atlas und in diesem Gebirge selbst sin«! (obschon
natürlich durch den stetigen Aufenthalt im Freien gebräunt) von weisser
Hautfarbe; ihre Statur übersteigt häufig die Mittelgrösse; sie sind von
schlankem Bau und ungemein muskulös. Die Form ihres Gesichtes ist
eine mehr längliche, und der Schnitt desselben ist allenfalls dem der
romanischen Völker vergleichbar. Die typischen Unterschiede von den
Schlöh werde ich bei Besprechung der letzteren hervorheben. Die südlich
vom Atlas wohnenden Breber haben durchschnittlich eine viel dunklere
Hautfarbe, als ihre nördlich dieses Gebirges lebenden Stammesgenossen,
ohne aber da, wo sie nicht mit nigritischen Elementen durchsetzt sind,
ihren Grundtypus wesentlich zu verändern.
Wemi ROHLF8 („Mein erster Aufenthalt in Marokko" u. s. w., S. ()4)
Siigt, dass gar keine oder nur ganz geringe Unterschi(»de im Tyj)us zwischen
den in Marokko lebenden Berbern (als Collectivname gebraucht) und den
dortigen Aralx'ru beständen, so verhält sich dies nach meinen Beobachtungen
und Informationen an(h'rs. Ich möchte allein unter <len Berbern zum
mindesten sieben von einander «leutlich verschie<lene Haupttypen f(»sthalten,
unter denen es alhu'dings Ue!)ergänge und Vermischungen der mannich-
faltigsten Art giebt. Ueherhnupt kann nicht oft genug constatirt werden,
dass eine strenge Scli(»idung drr verschiedeium, mohfimmedanischen Ele-
mente in Marokko nach Typus, Sitten, Sprache u. s. w. nur «lami zulässig
und durchführbar ist, wenn man von den UebergängcMi in den Grenz-
gebieten absieht. Die eben erwähnten sieben Haupttypen wären etwa, wie
folgt, zu gruppiren: 1. blonde, 2. dunkle Rif- Berber; »5. nordatlantische
Breber; 4. Breber im Südosten des Gebietes; 5. Schlöh in der Provinz
Eintheilong and Verbreitung der Berberbevölkerung in Marokko. 191
Halia und im Atlas; 6. Schlöli zwischen Atlas und Antiatlas (Ssüss u. s. w.);
7. llaratin oder Draua, Mischlinge zwischen Berbern und Negern.
In ihrem Wesen haben die Breber etwas viel Roheres, Ungeschlach-
teres als die Schlöli. Die Letzteren sind allgemein zurückhaltender und
weniger grob, dafür aber auch weniger aufrichtig. Der Schlöli hat ein
herrorragend kaufmännisches Talent, was dem Berlx^ri vollständig mangelt.
Hin«» Kigenschaft, welche die Breber entschicvlen vor den Schlöli voraus-
haben, ist ihre grosse Gastfreiheit, während die Letzteren durchgängig
zum (teiz neigen. Die Breber sind jähzorniger, aber auch vicd freimuthiger
und weniger fanatisch in religiöser Beziehung als die Schlöli und vor allen
Dingen die Araber. Ihr Jlass gilt nicht so sehr dem Christen als solchem,
als vielmehr dem Fremden überhaupt.
Ihre Gleichgültigkeit in allen religiösen DingcMi ist gross. Sie halten
die Satzungen des Islam, die Waschungen, die Gebetszeiten u. s. w., nur
in sehr laxer Weise inne, was alle Reisentlen, die» mit ihnen in Berührung
gekommen sind, bestätigen, vor allem der treffliche Kenner der marok-
kanischen Berber, GERHARD ROHLFS. Hingegen ist es wundi^rbar, welches
Ansehen bei ihnen einzelne Schürfa odcT llerabidin geniessen, die im Rufe
der Heiligkeit stehen. Der Kinfluss dieser L(»ute ist ein derartig grosser,
tlass die Breber sich bedingungslos jed(»r Anordnung eines solchen Hei-
ligen fügen, Fehd(»n gegen benachbarte Stämme auf seinen Befehl ab-
brechen oder beginnen, auch von diesen Schürfa empfohlene Personen
auf's Ausgezeichnetste behandeln. Ja, dieser Personencultus wird so weit
getrieben, dass selbst unbedeutende Gegenstände, wie z. B. (ROHLFS, Reise
durch Marokko S. 28) die seidene Tragschnur von ROHLFS' Revolver,
welche die Breber als dem Scherif von Uasän zugehörig erkannten, von
ihnen als eine Art Talisman verehrt werden. Sie baten den Reisenden
fortwährend, <lie Schnur mit den Händen oder Lippen berühren zu dürfen.
Ausser dem erwähnten Mulai 'Abd ess-Ssaläm el-Uasani und Ssidi
Mohammed el- Arbi Derkaui, sowie dem Scherif von Tamegrut am l'ad
Draa wird von den Salan ein sehr ])ed(»utender Scherif, Mulai cd-Fetlil,
hochverehrt. Bei den Breber um Fäss steht ein Scherif aus der Familie
der Edrissiten, Namens Ssidi er-Rami, in grossem Ansehen, sowie Schürfa
aus der Descendenz des Ssidi 'Abd ess-Ssalam Ben Meschisch. Die Ait
Messat haben einen in der Sauja Ahanssal lebenden, religiösen Chef, den
sehr einflussreichen Ssi<li Ilamnied-u-Hammed, dessen 'Anäia von allen
Fremden sehr begehrt ist. Als Beleg für den b(Ml<»utenden Einfluss des
genannten Ssidi Mohammed Derkaui scm erwähnt, dass dieser Fanatiker
im Jahre 1881 die Ait Atta un<l Ait lafelman zum „heiligcMi Kriege"" gegen
die benachbarten Franzosen in der I^rovinz Oran aufrufen konnte; später
gab er allerdings aus ])ersönlichen Gründen Gegenbefehl. Gerüchten
zufolge, welche vor kurzem im nördlichen Marokko circulirten, beabsich-
tigte der Scheeh der Derkaua sogar in diesem Jahre, den Sultan, dessen.
192 M. QlTEDENFELDT:
freundliches Verhalten den Europäern gegenüber ihm schon lange ein Dom
im Auge ist, mit Krieg zu überziehen.')
Mit Ausnahme der ervvälmten Derkaua haben die religiösen und halb-
religiösen Bruderschaften bei den Breber, im Gegensatze zu den Arabern
und besonders zu den Schlöh, im Allgemeinen keinen Boden gefunden.
Diese Derkaua stehen dagegen dort in solchem Ausehen, dass sie ohne
'Anäia im ganzen Gebiete sich frei und ungehindert bewegen können, was
für Andere unmöglieli wäre. Wenn Jemand keine *Anäia besitzt, so muss
er auf den abgelegensten Wegen und unter dem Schutze der Nacht reisen.
Im Gebiete der Beni Mgill befindet sich eine heilige Quelle, welcher
auch FOÜCAULD und SCHAUDT Erwähnung thun, *Ain el-Luh. Sie soll
zwei Tagemärsclio südwestlich von Ssefrii liegen. Wahrscheinlich ist der
Name corrumpirt aus Ain helua, „süsse Quelle".*) —
Ebenso wie von den Ruafa behaupten einzelne Schriftsteller (u. a.
ROHLFS) auch von den Breber, dass verschiedene ihrer Tribus die
Beschueidung nicht übten. Nach meinen Informationen ist die Mittheilung
in dieser Passung niclit zutreffend. Es kommt bei der religiösen Indifferenz
der Breber allerdings vor, dass in einzelnen Fällen die Beschneidung des
Knaben bis zum Eintritt der Pubertät vergessen wird. In sehr vereinzelten
Fällen mag sie wohl auch ganz unterbleiben ; jedenfalls ist dies aber nicht
als Regel bei bestimmten Stämmen aufzufassen.
Genügsamkeit und Einfachheit der Sitten zeichnen die Breber aus.
Das Rauchen von Kif oder Tabak ist bei den nordatlantischen Triben
streng verpönt. Ein noch ärgeres Vergehen in den Augen dieser Leut^
ist der Genuss des Branntweins, el-mahia'). Es könnte sich unter Um-
ständen leicht ereignen, dass ein Berauschter von seinen Familien- oder
Stammesangehörigen in der Wuth über dieses Vergehen getödtet würde.
Von grosser ürsprünglichkoit der Sitten zeugt auch die Mittheilung
von ROHLFS (Reise durch Marokko S. 31), welcher im Gebiete der Beni
1) Es wurde diese Mittheilung mit dem erwähnten grossen Aufstande der Beni Mgill,
dessen der Sultan gegenwärtig durchaus noch nicht Herr geworden ist, in Verbindung
gebracht. In der mir vorliegenden, zuletzt hierher gelangten Nummer des in Tanger
erscheinenden „Koveil du Maroc" (vom 11. Juli d. J.) wird die Lage des Sultans sogar
als recht kritisch geschildert. Danach hätten am 24. und 25. Juni die Heni Mgill in
der Stärke von etwa 1*2 000 Mann (?) die Regierungstrui)i)en angegriffen und diesel!)en
geschlagen. Officiell wird dies natürlich, wie immer, von marokkanischer Seite abgeleugnet;
der Sult-an hat sogar zum Zeichen seines Sieges einige abgeschnittene Köpfe der «Kebellen"
nach Fäss und Miknäss gesandt, welche dort an den Thoren und öffentlichen Plätzen auf-
gehängt werden sollen. Der in diesem Jahre projectirte Besuch des Sultans in Tanger —
es ist das erste Mal seit seinem Regierungsantritte, dass er diese Stadt zu besuchen
beabsichtigt — dürfte sich in Folge dieser ernsten Ereignisse sehr verzögern.
2) Nach ScHAUDT (1. c. S. 409) ist mit dieser C^uelle ein kleiner Flecken verbunden,
der sich durch verschiedene, dort etablirte Verkaufsbu<len gebildet hat. Es liudet hier,
ebenso wie in Asm, ein bedeutender Markt statt.
*x\) el-mahia entspricht genau dem Wortlaute des französischen eau-de-vie.
Eintheilung und Verbreituiig der BerberbevGlkerung Id Marokko. 193
Mgill Spiele von Knaben und jungen Männern beobaelitete, wobei dieselben
nackt um die Wette luvten und die Weiber zusahen, ohne Anstoss daran
zu nehmen. Wie ROHLFS bemerkt, ist dies nicht Schamlosigkeit, sondern
vielmehr ein roher Naturzustand. Unzucht, Ehebruch u. s. w. sollen selten
bei ihnen vorkommen.
Als eine gute Eigenschaft ist noch bei <len Breber eine verhältniss-
niAssig grosse Zuverlässigkeit zu rühmen, wie sie sich bei den Arabern
meist nicht findet. Treue dem gegebenen Wort halten sie, wenn man von
ihrem Verhalten gegen die verachteten Juden absieht, in den meisten Fällen.
Im Beled ess-ssiba ist es nichts seltenes, dass der Freund für den Freund,
der Hausherr für seinen Gast selbst das Leben in die Schanze schlägt.
Bei den seit Jahrhunderten unter dem barbarischen Drucke ihrer Käids
schmachtenden Stämmen des Beled el-machsin wird eine solche edle
Kegung nur sehr vereinzelt zu finden sein.
Fast gänzlich unbekannt ist bei den Breber der von der mohamme-
danischen Religion sanctionirte Brauch, gleichzeitig mehrere Frauen in
rechtmässiger Ehe zu haben. Trotzdem ist die Stellung der Frau im All-
gemeinen nur wenig angesehener als bei den Arabern. Der grössere
Theil der Arbeitslast fällt auch hier, wie bei allen Mohammedanern, der
Frau zu. Die Behandlung mag, wie uns ROHLPS und andere Autoren
versichern, eine nicht so erniedrigende sein wie bei jenen; führt ROHLPS
doch sogar einige Fälle an, wo Frauen, Gattinnen von Schechs oder
Stammeshäuptern, in der Verwaltung des Stammes ein entscheidendes
Wort mitzusprechen hatten. Dieser Reisende fan<l, dass die Sauia Karsass,
eine ^religiöse Corporation und geistliche Ober-Behörde" für den ganzen
Uad (iir (Ger), nicht von dem allerdings vorhandenen geistlichen Chef
Ssidi Mohammed Ben 'Ali befehligt wurde, sondern dass seine Frau, eine
gewisse Lella Djehleda (?), die religiösen Angelegenheiten besorgte*).
Etwas derartiges wäre allerdings bei den Arabern undenkbar.
Nach <lemsolben Autor ist die Berberfrau durchschnittlich von grösserer
Statur als die des Arabers.
Trotzdem die mohammedanische Ehe mit grosser Leichtigkeit getrennt
wird, und schon aus diesem Grunde ein inniges Verstehen und Zusammen-
wirken von Mann und Frau nicht in der Weise denkbar ist, wie bei christ-
lichen Völkern, so ist doch die Liebe der Väter' zu den Kindern eine
grosse, namentlich zu denen männlichen Geschlechts. Während die geschie-
dene Frau zu ihren Angehörigen zurückkelurt, verbleiben die Kinder sämmt-
lich bei dem Manne.
Sicher ist aber die Frau des Berbers, ebenso wie die des Arabers,
ToUständig dem guten Willen ihres Gatten anheimgegeben: er folgt auch
iu dieser Beziehung, wie in seinem ganzen Privatleben, lediglich s(»inem
1) Rubins : Mein <*rstf>r Aufeiitbah iu Mar(»kko u. 8. v. 8. G7.
194 M. QüEDBNPEijyr:
eigenen Gutdünken. Der Marokkaner hat hierfür den sehr bezeichnenden
Aus(h'uek: „Käid"* oder „Ssultan er-rässo'', d. i. wörtlich: „Herr seines
Kopfes« 0-
Ueber das häusliclie Leben der Breber ist so gut wie nichts bekannt;
es ist indessen wahrscheinlich, dass dasselbe grosse Analogien mit dem
ihrer Stammverwandten in Algerien aufweist. Hierüber besitzen wir aller-
dings von französischen Autoren eingehende Berichte. G. ROHLFS muss
wohl bei seiner Durchquerung des Breber- Gebietes manche Ueberein-
stimmung mit den Gebräuchen der Kabylie haben coustatiren können; denn
er führt in einem, „Beitrag zur Kenntniss der Sitten der Berber in
Marokko" betitelten, kurzen Aufsatze*) verschiedene sehr eigenartige
Hochzeitsbräuche als dort vorkommend an, welche uns F^RAUD ') nur von
den algerischen Kabylen überliefert.
Die Kabylen haben nach der Ada oder Sitte ihrer Vorfahren zwei
verschiedene Arten der Verheirathung, erstens die suadj el-djedi und
zweitens die suadj el-ma tia. Die erstere, „Gaislein-Heirath", hat folgendes
Ceremoniell: Man schlachtet ein Zicklein gleichsam zur Besiegelung des
Paktes, den die Familien geschlossen haben. (Hier finden wir wiederum
den schon mohrfach bei den Breber erwähnten Brauch des Opfenis.
Derselbe reicht wahrscheinlich bis in die ältesten heidnischen Zeiten, viel-
leicht in die numidischen oder phönizischen, zurück.) Der Mann ver-
pflichtet sich, dem Vater seiner Braut eine Summe, welche zwischen 175
und 225 Francs variirt, zu erlegen. Meist hat er das Geld nicht; er ver-
lässt sich aber dann auf die Hilfe seiner Freunde. Am Hochzeitstage
stellen sich diese auch pünktlich ein und steuern. Jeder nach seinen Kräften,
bei, bis die vereinbarte Summe zusammengekommen ist. Es wird Musik
gemacht, Tänze und Spiele werden veranstaltet, und man verschwendet
Unmengen von Pulver im lab el-barüd. Oftmals bauen die Freunde des
l^räutigams sogar ein Häuschen für das junge Paar. Der Eine bringt
1) Früher war dicso Bezeichnung sogar ein ofücieller Titel am Hofe des SuUads für
gewisse, bei ihm schmarotzende Verwandten, denen er kein Ami und keinen anderen Titel
verleihen wollte.
2) In dem Buche:' Beiträge zur Entdeckung und Erforschung AfrikavS. Leipzig 1876.
3) Revue africaine, T. VI. Alger 1862, in dem Aufsatze : Moeurs et coutumes kabiles,
p. 280 u. f. — Feraul), früher Interi)retc militjiire in Algerien, gilt als ein ausgezeichneter
Kenner nordafrikanischer Verhältnisse und des magribinischen Arabisch; gegenwärtig
bekleidet Hr. Feraud den Posten eines französischen Ministenesidenten in Marokko, und
ich lernte ihn in Tanger im Jahre 188() im Hause unseres damaligen diplomatischen Ver-
treters daselbst, des Hrn. Testa, kennen. — Die Revue africaine, die Zeitschrift der
algerischen historischen Gesellschaft, behandelt nicht ausschliesslich die Verhältnisse dieser
französischen Kolonie, sondeni greift auch auf die Nachbargebiete, Marokko, Timis, ja
selbst Tripolis, hinüber. Eine Schöpfung des beriihmten A. Berbrugüer, ist sie eine wahre
Fundgrube der interessinit<'sten Mittheilungen nicht nur für den Hist«>nker und Archäo-
logen, sondern auch luv den Ethnograph<*n. und ist für das Studium der magribinischen
Xünder unentbehrlich.
Eintheiliing und Verbreitung der BerberbeYolkerung in Marokko. 195
Holz, der Andere Mörtel, der Dritte vielleicht „diss" (Macrochloa tenaeissinm
Ktli*)), eine Seliilfart zum Bedecken des Hauses, herbei. Durch die
(vaislein-Heiratli winl die Frau nicht allein vollstilndig Eigenthum des
Mannes, sondern bildet auch nach dessen Tode einen Theil der Erbschaft.
War der Mann aus irgend einem (Jrunde unzufrieden mit seiner Frau,
war sie vielleicht frühz(»itig alt und hässlich geworden, — bei der furcht-
baren Arbeit sind die ma?iribinischen Weiber meist schon vor dem 30. .lahre
vollkommen abgenutzt, - kurz hatte sie von ihrem ursprünglichen Werfln»
eingebilsst oder durch Unfruchtbarkeit die in sie g(»setzten Erwartungen
nicht erfüllt, so war der (Jatte berechtigt, sie zu ihrer Familie zurück-
zuschicken und die volle von ihm bezahlte Summe zurückzufor<h»rn. Der
Mann behalt nuch die eventuell vorhandenen Kinder.
Die andere Art der Heir.ith, die ^Heirath der gegebenen Frau'', ver-
lief in folg(»nder Weise: War in einem Stamme ein Mord begang(»n untl
der Mörder von «ler Djemma z. H. zu 1000 Francs Oehlbusse vt^rurtheilt
wortlen, ohne das (udtl zahlen zu können, so half er sich dadurch, djiss
er ein MadcJHMi aus seiner Familie und noch einen geringen Theil tler
Busse, genannt hak el-kefen, ^Preis des Leichentuches'', einem Mitgliede
der geschadigten Partei gab. IM dieser Heirath wfir naturgemäss «lie
jds Blutpreis verschacherte Tochter der Familie noch mehr Sklavin ihres
.Mannes, als bei d(»m vorher erwähnten Modus der Verheirathung.
Wenn beim Tode» des Mannes die Angehörigen desselben die Erb-
sehaft antraten, so tiel die Wittwe demjenigen imter seinen mannlich(*n
Verwandt(»n zu. tler zuerst seineu Ilaik über ihr ILiupt warf.
War ein von den Eltern eines jungen Mädchens abgewiesener Lieb-
haber im Stande, sich unbemerkt an das Haus seiner Erwählten schleichen
und auf der Schwelle desselben ein Zicklein schlachten zu können, so war
sie seine (»rklärte Braut, und kein anderer Jüngling des Stammes konnte
um sie werben, ohne die Rache des aufgedrungen<»n Bräutigams fürchten
zu müssen. Solche Zwistigkeiten gaben oft Veranlassung zu Erbfehden
mit Parteibildung (ssof). Je (Miiflussreicher um! mächtiger ein Mann in
seiner Kabila ist. desto zahlreicher ist natürlich auch sein Aidiang.
Auf dem Wege nach der Wohnung ihres zukünftigen Gatten winl die
Braut v(»n jenem gell(»nden Trillern der andenMi Frauen b<»gl<»itet. welches
den Weibern in (dnem grossen Theile der mohammedanischen Welt eigen-
thümlich iht. Interwe^rs winl ihr aus allen Behausuniren eine» kleine
r»
Gabe an Lebensmitttdn zugetragen, etwa ein Korb voll Feigen, Bohnen,
I l>»'r li«'kaiint»T»^ araliische Name dii*sor Pflanz«' ist halfa. Wie mir Herr Professor
A?»Ciii:i:v)N L'iitii.'st inündlirh inittheilt, versteht man aber «liirchaiis nicht in allen (fejr«'n<ien
N*or<IaI'rika- *['u- '»iM-nj^r-nannte Sp^'cies unter «len erwähnten «•inheimisrht'n Naiiu'n, «iomlem
auch i-inz^-In»- ;in<i«r»* Art«*n. Man kann daher sajren. «las'* tWo Worte .<liss- nn«l -halfa"
in den verjichi»«l<*nt*n Gegenden mehr als CuUectivnamen an^fweudet werden, etwa wie
bei uns die Bezeichnungen , Schilf* oder ^Schilfgras*.
196 M. QuEDENFEuyr:
Gerste u. dergl. Die Braut nimmt von allen Sachen eine Hand voll, küsst sie
und wirft das Ergriffene dann wieder in das Gefass zurück. Hinterdrein
schreitet eine ältere Verwandte, welche alle diese Gaben zur Aussteuer
für die Vermählten sammelt. Sobald der Zug sich der Wohnung des
Gatten nähert, wird die Braut von den anderen Frauen umringt. Sie
reichen ihr einen Topf mit flüssiger Butter, in die sie die Hände tauchen
muss, zum Zeichen des steten Ueberflusses im Haushalte, und femer ein
Ei, welches sie zwischen den Ohren ihres Maulthieres zerschlägt, um da-
durch Zaubereien unschädlich zu machen. An der Schwelle des Hauses
präsentirt man der Frau einen Trunk Buttermilch, und sie selbst ergreift
eine Hand voll Korn und Salz, um dasselbe, ebenfalls als Symbol des
Reichthums und Segens, nach rechts und links auszustreuen. Jetzt ergreift
der Mann Besitz von seiner Braut, und zur Bekräftigung schiesst er in
unmittelbarer Nähe vor ihren Füssen sein Gewehr ab. Er fasst sie an
der Hand und zieht sie ins Innere der Wohnung, während die Hochzeits-
gäste und Verwandten draussen ihre Belustigungen fortsetzen. Ein zweiter
Schuss innerhalb der Behausung ertönt als Zeichen, dass die Heirath voll-
zogen ist. Zum Beweise, dass die Braut als Jungfrau befunden wurde,
reicht der Gatte einer älteren Verwandten, die inzwischen schon vor der
Thür gewartet hat, ein blutbeflecktes Tuch heraus, welches dann unter
der weiblichen Hochzeitsgesellschaft die Runde macht. Stellt sich heraus,
dass die Braut nicht mehr Jungfrau war, so hat der Mann das Recht, sie
sofort zu ihrer Familie zurückzusenden; bei den marokkanischen Berbern
kommt es vor, dass eine derart Zurückgewiesene von ihren Verwandten
getödtet wird, wenn nicht schon der betrogene Gatte ihr in der ersten
Wuth den Garaus macht. Bei den Arabern wird diese Angelegenheit in
den meisten Fällen mit Geld arrangirt.
Es ereignet sich öfter, dass zwei Männer einen Tausch mit ihren
Frauen auf friedliche Weise vornehmen. Derjenige, der das in Beider
Augen hässlichere oder weniger werthvolle Weib besitzt, d. h. ein solches,
welches weniger jung und fett als das andere ist muss einiges Geld
daraufzahlen.
Hat Jemand seine Tochter einem jungen Manne versprochen und lässt
sich nachher durch Habgier bewegen, sie einem Reicheren zu geben, so
entsteht Krieg. Der ganze Stamm nimmt alsdann des Zurückgesetzten
Partei und sucht mit Gewalt dessen Ansprüche geltend zu machen. —
Neben ihren vielen häuslichen Arbeiten finden die Breber- Frauen
mancher Stämme noch Zeit, sich mit der Anfertigung recht hübscher Hand-
arbeiten zu befassen. Dies ist wohl der einzige Anklang an eine gewisse
Kunstfertigkeit, der bei den Breber vorhanden ist; sonst produciren die-
selben,^ im Gegensatz zu den Schlöh, die eine relativ sehr hoch entwickelte
Industrie haben, so gut wie nichts, was in dieses Gebiet schlägt. Die
Frauen der Seniur-Scliilh weben Umhängemäntel mit Kapuzen aus Ziegen-
Eintheihin^ und Verhreitunp der BerberliovölkorunK in Marokko. 197
iiiul Krtinei»! wolle (bermws), 8owi<» luiiitt» Deckrn in verHcIntMleiuMi MiiHtern
(tarlmlt), und flerhton luivh Matt<MU tlin mit bunter Wolle gestickt wenlen.
Diene letzteren, sowie die tarhait siml eine SpecialiUit <ler Soinur, der
Salan und der Heni Mgill.
Auch die «^osainnite Kleidunji; beider (lesehleehter, von der nur einige
wenige Bestandtheile (baumwollene Hemden u. s. w.) aus Kuropa duroh
Zwischenlulndler bis ins Breber- Gebiet importirt wenlen, verfertigen die
Frauen selbst.
Die wenigen Thonwaaren, die sie im Hausbalte brauchen, Schüsseln,
Krüge u. s. w., werd(»n meist aus den benachbarten Distrikten des Beled
el-machsin eingeführt, und nur an wxniigen Orten befassen sich die Breber
selbst mit der Töpferei. Es werden nur ganz primitive, irdene Geschirre
ohne (flasur hergestellt; glasirte Geschirre werden überhaupt in ganz
Marokko nur an wenigen Orten fabricirt, speciell in Rabat, in Fäss, woher
auch die kostbaren Majolika -GefäsHe kommen, in Ssafß, in Demnät bei
Marrakesch und an einigen andercMi Plätzen.
Die kleine Stadt Ssefrii, südlich von Fäss, hart an der Grenze des
Breber -Gebietes oder eigentlich schon in demselben gelegen, treibt bedeu-
tenden Handel mit den umwohnenden Stämmen, namentlich den Ait Inssi.
Im Gebiete dieser letzteren, wie auch in dem der Beni Mgill befinden sich
noch riesige, urwaldartige Bestände von Cedern (Cedrus atlanticus Man.)
und Eichen, welche im zukünftigen Handel Marokkos einst eine bedeutende
Rolle spielen werden.
Südlich vom Atlas ist ein(»r der bedeutendsten Marktplätze der Breber
der von Abuam in der Oase Tafilelt, wo u. a. mit aus England importirtem,
grünem Thee «»in beträchtlicher Handel getrieben wird.
Im Gebi<»te der unabhängigen Breb(»r - ebenso wie auch im Beled
el-Machsin — wenlen an gewissen Tagten (h»r Woche Märkte abg(dialten,
welche nach dem betreff(»nden Tilge genainit \verd(»n, an dem sie statt-
finden. So beisst z. B. der am Sonntage abgehaltene Markt Ssok el-had,
der Montagsmarkt Ssok el-tnin u. s. w. Man stösst in ganz Marokko beim
Reisen oftmals auf unbewohnte Stellen, in deren Nähe sich nicht einmal
eine einzelne Hütte befind(»t, die aber durch Reste von Kohlenfeuern,
zusammengetragene Steini» u. «lergl. den Anschein von kürzlich verlassenen
Bivouacplätzen tlarbieten. Dies sind Localitäten. wo mir an eint^m Tage
iler Woche tue Bevfdkerung dt»r ganzen rmgeg(»nd auf meilenweite Ent-
fernung zusammenströmt, um dort Markt abzuhalten. Dieser Markt wird
<tann nach dem Stamme, in dessen (lebiet i»r sich befin<let, benannt; wenn
man z. B. v(nn lÜni der Semür spricht, so ist <larunter <ler Mittwochsmarkt
zu verstehen, welcher bei <liesem Stamme stattfindet.
In «len im Breber -fiebiete liegenden Städten, wie Debdu, Kssabi esch-
Srhurfa'), Taniegrut am oberen Drjui n. s. w., findet Handel und Wandel
1; WörÜich: KasteUe der Schezife. Kss&bi = Plunü von Kanb&i
198 ^- Qüedenpeldt:
*i;anz in der gU'iehon Weise statt, wie in den <j;rÖss€M'en Orten des Beled
el-Machsin. —
Die Breber sind tlieils Nomaden, tlieils sind sie sesshaft. Nur das
Zelt bewohnende Stämme sind: Geruan, Seiinlr, Sa'ian, Heni Mtir u. s. w.;
ausschliesslich in festen Wohnsitzen leben die Ait b Uulli, Ait Isdig«;!;, Ait
*Aiad. Die Ischkeni haben eine Kassba (Chanifra), welche ihnen lanj^^e
Zeit von den Saian streitig gemacht wurde. Die meisten der grossen
Tribus aber vereinig(Mi beiden licbensweisen, indem sie tlieils in Zelten
wohnen, tlieils feste Niederlassungen besitzen. Es sind dies: Ait Sseri,
Beni Mgill, Ait lussi, Ait Atta mit ihren zahlreichen Practioneu, Ait Atta
ümalu (mit der Ortschaft Uauisert), Ait'Aiasch (Praction der Ait lafelman),
Ait Ssedrat, Ait lahia, Ait Mepjrad, Imiiran, Ait Messat (von diesen die Ait
Ishak in Dörfern, die übrigen in Zelten), Ait Scherroschen ^) und die Ait
Hadidu (vorwiegend Nomaden).
Im Gebiete von Tadla sind die bedeutendsten Kassba's die bei den
Beni ^[ellal befindliche, auch Kassba Bcd- Kusch genannt,*-) mit etwa
1000 Einwohnern (nach ERCKMANN: FOCOAULD giebt .d<»r(»n 8000 an.
1) Die Ait Scherroscheii sind vollständig den Merahidin von Kncdssa erproben, die in
ihrem Gebiete mehrere Sauiat haben und mit denen die prrossen Familien des Stammes
verwandt zu sein angeben. (Mittheilunjj: von Mr. Pilard, ehemalijrem militärischem Dol-
metscher, an FouCAULD. Siehe Letzteren S. 383.) Wie ich auf S. 130 des vorij^^en Ab-
schnittes erwähnte, heissen die Ait Scherroschen auch Uled Mulai'Ah Ben'Amer. nennen
sich wenigstens selbst mit Vorli«d»e so. Die Letzteren und die Merabidin von Kncdssa
haben eine gemeinsame Abstamumng. Ein Bewohner der Oase Kncdssa wird in Marokko
«Kandüssi*^ genannt.
2) Diese auf die nigritische Abstammung des Erbauers oder der früheren Bewohner
der Kassba deutende Bezeichnung, welche im Osten (Aegypten) sich öfter findet, scheint
im Magrib sehr selten vorzukommen. Leo Afuicanus (,S.9) sagt in einem „Vom Ursprünge
der Afrikaner** handelnden Abschnitte: «Ueber den Ursprung der Afrikaner herrschet bey
unseren Geschiclitschreibern krine geringe Uneinigkeit. Einige sagen, sie stammten von
den Philistern [Pälästinern | her, dio vor Zeiten von den Assyreru [aus ihrem Vaterlande]
vertrieben und nach Afrika geflohen wären, wo sie dann, weil das Land gut und frucht-
bar war, sich niedergelassen hätten. Andere meinen, die Sabäer, ein Volk, das, ehe es
(wie gesagt) von den Assyrom oder Acthiopiem vertrieben wurdf*, im glücklichen Arabien
wohnte, seyen ihre Vorfahren. Wieder Andere behaupten, ihre Stammväter hätten in
anderen Gegenden Asiens gewohnt, und erzählen, was folget: (iewisse Feinde bekriegten
sie, und zwangen sie, sich nach Griechenland, das damals unbewobnt war, zu llfichten:
auch da folgten ihnen ihre Feinde nach, und sie waren genöthiget, über das Meer von
Morea nach Afrika zu gehen: hier blieben sie, und ilire Feinde in Griechenland. - Das
bisher (iesagte ist aber nur von deni Ursprünge der weissen Afrikaner oder von denen,
die in der Barbarey und in Xumidien wohnen, zu verstehen. Die in Nigritien [die Negern]
liaben ihren Ursprung von (.'usch. einem Sohne des (^hams und Enkel Noachs zu ver-
danken. Folglich komnii'n alle Afrikaner, der Unterschied zwischen den Weissen und
Schwarzen [Negern] mag so gross seyn als er will, so zu reden, von <»inem Stanmie her.
Denn, wenn sie von den Philistern herstammen, so gehönai di(»se zum (ies<'hlechte des
Mizraim, eines Sohnes des Cus< li. oder, wenn sie von den Sabäeni herkommen, so war
ja Saba ein Sohn des lihama und ein Enkel des Cusch. — Es giebt noch vieb' andere
Meinungen über diesen Geg<'nstand, deren Aufzählung ich, weil Wh sie für unnöthig halte,
übergehen will.-
Eintlicilung und Verbreitung der Bcrberbevölkening in Marokko. 109
darunter 80() Israoliton), welolie au dmn nach iUt Kabila selbst benannten
Djebel B(»ni Mellal liegt, fern(»r die Kassba der Ait Rba mit gegen 1500
Kinwohnern, darunter (»twa 100 Juden, liei den Beni Millal unterhält der
Sultan zwei Kaids, die aber ebensowenig etwas zu sagen liaben, wie die
bei den Saian und anderwärts im Breber-(jr(»biete.
Gegeiu'iber der Kassba Beni Millal befindet sieh ein Detile, welcht»s
dureh dn»i kh^ne, den Ait Sseri g(diürige Kast(dle vertheidigt wird.
Ilauptort der Beni Mgill ist Asril, ein Platz von nudir als 200 Häusern.
Die ländlichen Ortschaften werden in nmnchen I)istrikt(Mi nördlich vom
Atlas Tschar (l)schar), sinllich desselbc»n, in d(Mi Oasen u. s. w. Kssar
(Kssor) geiumnt. Sie sind meist an Berghdinen in dominirender Lage oder
in Flussthälern etal)lirt.
Das in der alg(»rischen Kabylie üblich(» System, die Kui)|)en aller nie-
deren und mittleren B(»rge mit Xieclerlassungen zu besetzen, wcdches auch
in (»inigcMi von Schlöh bewohnten Distrikten (u. a. in der Provinz Haha)
sich findet, ist bei den Breber unbekannt. —
Die Zelte der wohlhabenchm Nomadenstämme unter den Breber, wie
der Ketäia, der Semür u. s. w., sind gross, geräumig und aus chiuerhaften
Stoffen, meist Ziegenwolle, gewebt. Aehnlich wie bei den Arabern winl
das Zelt entweder durch (»inen Vorh«ing der Länge nach getheilt oder durch
nbendnander gestelltes llausgeräth, wohl auch Kisten, in zwei Theile
geschieden. Eine dieser Abtheilungen dient den männlichen, <lie andere
den weiblichen Mitgliedern der Familie uinl den kleinertMi Kindern als
Schlaf- und Wohnraum. Der allgemeinen marokkanischen Sittt» folgend,
schlaf(»n die Breber stets in ihren Kleidern; Männer wie Frauen sind
überhaupt wenig reinlich. Bei andc»r(»n Stämmen (nach KOHLFS z. B. bei
den Beni Mtir) sind die Zelte weder so geräumig noch so gut gearbeitet
wie bei den Araberstämmen an der algerischen Grenze, beis])ielsweise bei
den Uled Ssidi esch-Schech; *) als Stoff <li(»nt der Bast von Retama-Arten,
wähnend <las algerische Zelt aus dem Haare von Ziegen oder Kameelen
besteht. In den Ebenen an der Westküste findet man neben wollenen
Zelten vorwiegend solche aus dem Baste der Chamaorops humilis L., welche
im limern des Breber- (lebietes nicht mehr fortkommt weil dies durch-
gehends Ilochgebirgslandschaft ist.-)
1) Kinij^«' «lieser iioinadiHirouden Araberkabileu an der iiiarokkanisrhen Oat^frenze
pfl«*«;en ibre Z<'lte über dem Kin*»'aDg'e mit einem iiösehel Straussenfedern zu sehmücken.
Ks sind dies meist religiöse Tribus, Schürfa oder Meral»i<lin.
'2) In ^anz Marokko kommen überhaupt nur drei Zeltformen vor: 1. das kaitün oder
;^aitün (j:itün; j^enannte Zelt, 2. die ehaima und 3. die diosanu. Nr. 1 ist ein kleines Zelt,
welfhe.s nur - o Personen Kaum zum Schlafen p'wahrt, \nn dachförmiger (iestalt, aus
fest«T (imj)ortirter^ Leinwand oder aus einheimischer Ziegen . Schaf- oder Kameelwolle
^oferti^'t. Vorn olTeii. hinten p'srhlossen. mit kleinen H<dzpf1öcken in der Erde befestij^t.
Oben im First läuft ein Brett, welches tlas i^anze Zelt hält und vorn und hinten durch
eine vertikale Stange getragen wird. Diese Form des Zelten wird ausschlicbslich auf
200 M. Qüedenfbldt;
Im Gebiete von Tadla limlet man anch Hütten (agurbi), welche
bienenkorbartig geformt und aus Schilf oder Astwerk hergestellt sind.
In den Oasen, beispielsweise am oberen Draa, findet man Hütten aus
Palmzweigen.
Die Construction der Häuser ist sehr einfach und, von gewissen Aus-
nahmen abgesehen, ziemlich überall die gleiche. Das Material ist gestampfter
Lehm, mit Häcksel und kleinen Steinen vermischt, tabia*), also ein sehr
wenig dauerhaftes. Daher kommt es, dass man so viele Ortschaften in
jenen Gegenden in Ruinen liegen sieht. Fenster fehlen gänzlich; die
meist niedrige Thür gestattet dem Rauche Abzug und dient gleichzeitig zur
Erhellung des Raumes.
Reisen, von Verkäufern auf den Märkten, umherziehenden Quacksalbern u. s. w. benutzt.
In der Oeffiaung sitzt der Eigenthümer, hinter ihm hegt sein schuari (Doppeltragekorb
der Maulthiere und Esel ans dem Geflechte der Zwergpalme), welcher seine Waaren birgt
Nr. 2 ist das in den Duars gebräuchliche Zelt. Stoff meist Wolle von einheimischen
Thieren oder Palmettobast, selten importirtes Segeltuch. Form etwas flacher als die des
gitün; sehr beträchtlich grösser als dieses; der Stoff reicht nicht, wie bei letzterem, bis
zur Erde und ist dort angepflöckt, sondern er ist so hoch über dem Erdboden gespannt,
dass dazwischen (in der warmen Jahreszeit) noch eine mehrere Fuss hohe Lage von
Knüppel- oder Strauchholz Platz findet. Gnmd hierfür ist einmal der, stets der frischen
Luft den Durchgang zu gestatten; zweitens aber, dass die Enden des Stoffes nicht leicht
faulen. Die Rückwand ist in gleicherweise befestigt; vom ist die chaima offen. Getragen
wird sie, ebenso wie das gitün, durch ein oben in der Längsrichtung laufendes Brett^
welches zwei senkrecht eingerammte Stangen halten. Das Zelt ist in gleicher Weise, wie
oben erwähnt, abgetheilt; alle Worthgegenstände der Familie werden in einem Xetze,
welches zwischen den vertikalen Pfählen befestigt ist, geborgen. Ein Zelt in jedem Duar
dient als „Djemma***, Kirche oder Schule. Hier schläft auch der „fkä** (faki), der
Lehrer der Dorf kinder, falls er unverheirathet ist. Auch Reisende, die das Zeltdorf pas-
sireu, nächtigen dort; ebenso erwachsene Jünglinge, welche noch keine Frau und keine
eigene chaima haben. Nr. 3 ist das ausschliesslich von den Soldaten benutzte Zelt.
Der Stoff ist stets Leinwand, meist blau und weiss gestreift, niemals einheimische Wolle.
Die Form ist conisch oder cylindro- conisch. Diese chosäna wird durch einen einzigen
in der Mitte aufgerichteten Pfahl, der oben eine runde Holzscheibe trägt, gehalten. Sie
reicht ebenfalls nicht ganz bis zur Erde und ist angepflöckt, wird auch ausserdem durch
6 — 8 in der mittleren Höhe befestigte Schnüre gehalten. Die chosaln (Plur. von chosina)
variiren sehr in der Grösse und führen dementsprechend auch verscliiedene Bezeichnungen.
Die von conischer Form für die Soldaten ('asskeri) und niederen ('bargen (sähet, mläsiui,
käid el-mia) bestimmten heissen: bukera. terahia, resana. Die den hohen Oflicieren
(käid er-rha, aga) und Hofbeamten reservirten cylindro- conischen Zelte heissen: kubba
oder, wenn sie von oblonger Gestalt: Tutäkka. Der Zeltcomplex des Sultans führt den
Namen aferrek; neben den zahlreichen Räumen, die dem Sultan selbst, den Frauen, der
Dienerschaft u. s. w. als Wohnräume dienen, sind hierbei ein Betzelt und ein solches,
worin der Sultan Audienzen erthoilt (ssiuän\ vorhanden. Die Zelte der höheren Würden-
träger tragen an der Spitze eine grosse Messingkugel, das des Sultans eine vergoldete.
Für Lüftung dieser Zelt<^ ist gleichfalls gesorgt, bei denen von conischor Form durch eine
thürartige • Oeffnung, die Nachts mit einem vorgehängton Stück Leinwand verschlossen
wird: bei den cylindro -conischen lässt sich der durch Stäbe von etwa 1 m Höhe getragene
cylindrische Theil nach Belieben zurück- und aufschlagen, um der frischen Luft Zugang
zu verschaffen.
1) Proben dieses, auch im ganzen südlichen Beled el-machsin üblichen Baumaterials
habe ich mitgebracht; sie befinden sich in der Sammlung des Königl. Musjmuiis für Völker-
kunde zu Berlin.
£iiitheiluDg und Verbreitung der Berberbevölkemng in Marokko. 201
In den grösseren Orten, Kassba Beni Millal, Bedjäd, Kassba Tadia
u. 8. w., finden sich meist einstöckige Häuser von Pise, auf dem platten
Lande dagegen zerfällt das ganze Haus, ähnlich wie in der algerischen
Kabylie, oft nur in zwei ungleich grosse Räume, die durch eine kleine,
etwa ^ m hohe» Mauer getrennt sind. Der grössere Raum dient der Familie
zum Aufenthalte, in dem kleineren ist das Vieh untergebracht; der Proviant
und die Küchenvorräthe sind auf der Zwischenmauer in Säcken und Kisten
aufgestapelt.
Die Ortschaften sind meist offen, seltener von einer Vertheidigungs-
mauer umgeben, welche alsdann aus dem gleichen Material wie die Häuser
besteht. Die Kassba's haben, wie überall, einige Wartthürme.
Namentlich im Tadla- Gebiete, aber auch an einzelnen anderen Orten,
findet man, theils isolirt, theils in den Dörfern, doch stets erhöht angelegt,
eine grosse Anzahl von Bauten, welche kleinen Kassba's ähnlich sehen.
Man nennt dieselben „tigrematin** (sing.: tigremt). Ihre gewöhnliche Form
ist ein Viereck mit einem Thurm in jeder Ecke; die Mauern sind aus
tabia und 10 — 12 m hoch (Fig. 9a und b). Diese befestigten Gebäude
dienen für Getreide und andere Vorräthe als Aufbewahrungsort. Jedes
Dorf, jede Fraetion hat ein oder mehrere solcher tigremt's, und jeder ein-
zelne Bewohner bringt dort auch in einem besonderen Räume, zu dem er
allein den Schlüssel besitzt, die werthvolle Habe seiner Familie unter.
Wächter, die von der Gemeinschaft bezahlt werden, hüten jedes dieser
Magazine.
Diese Einrichtung der tijiromt's findet sich nur in der Gegend des
Atlas, welche von Kssäbi esch-Schürfa und dem Gebiete der Ait lussi
et\^a bis zum Glauadistrikte reicht, femer in den Territorien am oberen
Draa und am Uäd Sis. Im Südwesten, im Schlöh- Gebiete, wird diese
Einrichtung durch eine andere, die der „igudar** (si^ig-- agadir) ersetzt, auf
welche ich noch zurückkomme.
Die Häuser der AitBu-Sid haben zwar, wie die anderwärts, auch nur
ein Geschoss, aber sie sind nicht aus tabia hergestellt, sondern aus un-
b(»hauenen Steinen gemauert. Bei diesem Stamme sind auch die Wege
überall mit Steinfassungen versehen; manchmal findet man dieselben auch
in den Fels eingehauen, Holzstützen tragen sie, und über die Spalten sind
Brücken gelegt. Die AitBu-Sid haben auch einen eigenartigen Gebrauch,
«ler sich unter allen marokkanischen Berbern nur noch bei den Schlöh von
Haha, zwischen Mogador und Agadir -Ijier, findet. Sie siedeln sich nehmlich
nicht gemeinsam in Dörfern an, sondern verlegen ihre Behausungen ein-
zeln in die Mitte ihrer Culturen. In ihrem Gebiete sieht man nur solche
isolirte Wohnhäuser ohne Ordnung auf den Abhängen der Berge verstreut.
Am oberen Draa (Mesgita mit der Hauptstadt Tamnugalt) zeichnen
sich die Kssar's durch eine eigenthümliche und geschmackvolle Bauart
aus. Die Mauern sind alle mit Gesimsen und Arabesken verziert und
Z«itoehrlfl für Ettanologl«. Jahrg. 1888. X4
202 M. Quedenfeldt:
haben geweisste Zinuen. Selbst die ärmlichsten Häuser sind mit Thilrmchen,
Arkaden, Geländern u. s. w. geschmückt. Die Kssar's am Uäd Dadrs ähneln,
was Eleganz der Bauart betrifft, denen am oberen Draa sehr; statt aber,
wie dort, ein compactes Ganzes zu bilden, sind sie hier in mehreren
kleinen Wohngruppen zusammengebaut, die durch ausgedehnte Anpflanzungen
von einander getrennt liegen. Jede dieser Gruppen umfasst etwa 8 — 10
Häuser; die Mehrzahl ist befestigt, und jede mit einem tiiiremt versehen.
Da diese Gruppen in einer Entfernung von 100 — 300 m von einander
liegen, so kann man sich denken, welches Terrain ein einziger Kssar ein-
nimmt. Die Wohnungen liegen, wie meist auch sonst, am Rande der
Felder und nicht in der Mitte derselben. In dieser Gegend sind üeber-
schwemmungen häufig und sehr zu furchten.
Am Uad Dades trifft man häufig eine wunderliche Art von Bauwerken,
die bei den Ait Ssedrät auch anderwärts vorkommen. Die Bezeichnung hier-
für ist „agedim**, Plural: „igedman** ^). Dieselben scheinen eine Specialität
des Uäd Dades, von Todra, Ferkla und gewisser Distrikte des Draa zu
sein. Es sind einzeln stehende Thürme von 10 — 12 m Höhe, aus Luft-
ziegeln, von quadratischem Grundriss, mit Schiessscharten und Zinnen ver-
sehen. Besonders zahlreich sind sie an den Grenzlinien zwischen den ver-
schiedenen Gemeindegebieten etablirt. Gewöhnlich stehen sich zwei solcher
Thürme gegenüber. Sobald nun ein Streit zwischen zwei Kssar's aus-
bricht, was fast täglich vorkommt, besetzt jede Partei ihre Thürme mit
Bewaffneten, welche den Auftrag haben, Felder und Kanäle zu schützen
und auf jeden Mann, der sich auf gegnerischer Seite zeigt, zu feuern. Es
findet auf diese Weise ein ausgiebiges V<?rknallen von Pulver statt, welches
aber nach einigen Tagen schon nachlässt; die Verluste an Menschenleben
sind selten nennenswerth. Solche Streitigkeiten drehen sich nach FOÃœCAULD,
dem wir die vorstehenden Mittheilungen verdanken, meist um die Wasser-
verhältnisse.
Es scheint nach diesen Angaben am Uäd Draa, sowie im Gebiete von
Dades eine höhere Cultur zu herrschen, als in den meisten anderen Breber-
Gebieten. Eine Specialität der Einwohner von Dades ist auch ihre Eigen-
schaft als gute Augenärzte, ganz besonders als Staaropera teure. Sie haben
als solche einen Ruf in ganz Marokko und durchziehen das Land nach
allen Richtungen hin, um ihre Kmist auszuüben*^).
An verschiedenen Stellen des Atlasgebirges, so bei der Ortschaft
Uauisert, bei den Ait Sa id u. s. w., erwähnt FOUCAULD das sehr bemerkens-
werthe Vorkommen von höhlenartigen Bauten, über dt»r(»n Ursprung nichts
1) Dieser Pbiral ist unregebnässig; es niüsste nach dor gewöhnlichen Bildung „igudam'*
heissen.
2) Augenkrankheiten sind bei der Bevölkerung, namentlich südlich vom Atlas, etwas
sehr Verbreitetes. Das in Marokko so häufig als Kosmetikum benutzte Köhol (pulverisirtes
Antimon oder Bleiglanz) wird vielfach für ein Präservativ gegen dieselben gehalten.
Eintheilan^ und VerbreituDg dor Berberbovölkerung in Marokko. 203
Sicheres ermittolt werden konnte. Der genannte Autor sagt darüber (S. 61 f.).
„Es giebt deren zwei Arten: die einen offiien sieh oline bestimmte Ord-
nung nach der Thalfront des Felsens; das Auge unterscheidet nichts als
m<»hrc»rc» schwarze» Löcher, welche ganz willkürlich und ohne Zusammen-
hang unter einander angelegt sind (Fig. 10). Die anderen sind im Gegen-
satze dazu in gleichem Niveau au8g(»höhlt; vor den Oeffnungen sieht man
hlngs der Fcdswand eine Gallerie ausgehauen, welche die Höhlen mit
einander in Verbindung setzt (Fig. 11). Dieser Gang ist oftmals an der
Aussenseite mit einer gemauerten Brustwehr versehen. Sind Spalten vor-
handen, welche den Weg durchschneiden, so sind die Ränder derselben
durch kleine, steinerne Brücken verbund(»n. Oft sind zwei oder drei solcher
Ilöhlenreihon über einander in die nehmliche Felswand eingehauen. Die-
selben ziehen sich an den Thalwänden oft lange Strecken weit hin. [Vergl.
das Thal von Uauisert: Fig. 12.*)] Einige dieser Höhlen, welche zugäng-
lich sind, dienen zur Aufbewahrung von Getreide oder zum Schutze der
Heerden bei ungünstiger Witterung. Ich habe mehrere derselben besucht,
welche mich durch ihre beträchtliche* Ausdehnung nach Länge und Höhe
überraschten. Weitaus die meisten aber sind unzugänglich.
Natürlich circuliren höchst phantastische Sagen über ihren Ursprung;
und da diese merkwürdigen Behausungen als ebenso seltsame Gegenstände
wie etvra Dampfschiffe und Eisenbahnen erscheinen, so schreibt man sie
denselben Urhebern zu: den Christen (der alten Zeit), welche von den
Muselmanen bei ihrer Eroberung des Landes verjagt wurden. Man nennt
sogar die Namen von Königen und besonders von Königinnen, welchen
diese luftigen Festungen gehörten. Bei der Flucht Hessen sie ihre Schätze
zurück; es zweifelt auch kein Eingeborener daran, dass die Höhlen mit
solchen angefüllt seien. Hi(»r ist es ein Meräbid, dort ein Jude, welcher,
zwischen den Steinen emporklimmend und in die tiefen Grotten eindringend,
Haufen schimmernden (Joldes erblickt hat; aber Niemand hat daran nihren
können. Denn bald werden die Schätze von Geistern bewacht, bald hütete
sie ein steinernes Kameel, das fürchterlich mit den Augen rollte; ander-
wärts sah man dieselben in einer Felsspalte glänzen, welche sich hinter
dem habgierigen Eindringling schloss. Man nannte mir einen Ort Amsru
am Uad Draa, wo die Anwohner durch derartige Berichte so überzeugt
von der Existenz unermesslicher Schätze in den benachbarten Höhlen sind,
dass sie eigene Wächter daselbst aufgestellt haben, um ein Fortschleppen
jener zu verhüten.**
Wahrscheinlich bezieht sich diese letztere Information POUCAULD's
auf <len von ROHLFS (Mein erster Aufenthalt in Marokko, S. 445) beschrie-
benen Djebel Sagora, südlich von Tanssetta am oberen Draafluss '). Dieser
1) Die Fig. 9 - 12 sind dem Werke von Foucaüld entnommen.
2) Der ganze östliche Theil des Kleinen Atlas wird Djebel Sagro genannt
14*
204 M. Quedenfeldt:
Berg enthält Höhlen, in welchen in der Vorzeit Christen einen Schatz ver-
borgen haben sollen, den bis jetzt noch Niemand gehoben hat.
Die Anschauung, welche die Berber von dem Ursprünge dieser Höhlen
haben, ist selbstverständlich eine unrichtige. Die Bauart derselben weist
viel Analoges mit den auf den kanarischen Inseln sich zahlreich findenden
Felsgrotten auf, welche den Guanches als Wohnung dienten. Wie man
weiss, bildeten diese das westlichste Glied der grossen Berberrasse, die
ehedem allein Nordafrika bevölkerte. Es ist daher anzunehmen, dass die
eben besprochenen Höhlenwohnimgen im Atlas Reste einer vorgeschicht-
lichen, autochthonen Einrichtung sind. Die Berber des Djebel Ourian
in Tripolitanien leben noch heute in ähnlichen Höhlen.
Uebrigens sieht der Marokkaner, wie ich aus eigener Erfahmng weiss,
nicht nur das, was ihm seltsam vorkommt, sondern überhaupt Alles, dessen
Ursprung er nicht kennt, als Werk der Europäer (rumin) an; z. B. wird
der Bau jedes alten Gemäuers, über dessen Entstehung eine Ueberlieferung
nicht vorhanden ist, den Christen zugeschrieben. Meist weiss man über
die Geschichte solcher Ruinen absolut nichts, und es ist merkwürdig, dass
in einem Lande, dessen Bewohner gerade sonst so zähe an den alther-
gebrachten Sitten und Gebräuchen festhalten, über den Ursprung von Bau-
werken sich nur so geringe Traditionen erhalten haben. Ich sah Bauten,
welche ihre Abstammung aus der Blüthezeit altmaurischer Architectur
unzweifelhaft erkennen Hessen, die aber bei der Landbevölkerung dennoch
für Ruinen aus der Römerzeit galten. —
Entsprechend ihrer von einander abweichenden Art zu wohnen ist
auch die Lebensweise der nomadisirenden und der ansässigen Breber eine
verschiedene. Die Zeltbewohner befassen sich vorwiegend mit Viehzucht,
während die Sesshaften in erster Linie Ackerbau treiben.
Die Zeit, während welcher ein Duar auf ein und demselben Platze
verweilt, ist nach der Grösse und Ergiebigkeit der umliegenden Weide-
gründe sehr wechselnd. Ist die Gegend abgeweidet, so bricht der Nomade
seine luftige Behausung ab, und in ganz bestimmter, auf sofortige Verthei-
digung berechneter Formation bewegt sich der Zug nach dem zunächst
in Aussicht genommenen Weideplatze. In der Mitte des Zuges werden die
mit den Zelten und sonstiger Bagage beladenen Ochsen und Maulthiere
in langer Reihe von den Frauen getrieben. Kranke und Schwache reiten
auch wohl auf Maulthieren oder Eseln. Hinter den Frauen gehen ihre
Kinder; die kleinsten derselben werden nach allgemeiner marokkanischer
Sitte von den Müttern rittlings auf dem Rücken getragen, und zwar werden
sie mit einem Haik, der ihnen gleichzeitig als Hülle dient, festgebunden').
An einer Seite werden die Viehheerden, Ziegen, Schafe u. s. w., von einigen
Hirten getrieben; die Männer des Stammes, sämmtlich beritten, bilden
1) Man schreibt wohl nicht mit Unrecht dieser allgemein üblichen Tragweise die
Erscheinung zu, dass viele Marokkaner Säbelbeine haben.
Eintheilong und Verbreitung der Berberbevölkerung in Marokko. 205
eine süirke Vor- und Nachhut und schützen den ganzen Zug auch in den
Phmken. In den Ebenen der Westküste wird ein Duar-Wechsel von den
Arabern in ganz ähnlicher, nur nicht so kriegsbereiter Formation vollzogen.
Hier findet man auch vielfach Kameele als Lastthiere benutzt; bisweilen
sieht man auch Männer oder sogar Frauen auf Kameelen reiten, was im
Allgemeinen in Marokko nördlich vom Atlas nicht gebräuchlich ist.
Der Wechsel der Weideplätze ist übrigens nicht, wie man in Europa
vielfach glaubt, ein unbeschränkter, sond(»m er bewegt sich nur innerhalb
der Oebietsgn»nzen des betreffenden Stammes. Ein blutiger Angriff würde
die Folgt? sein, wenn eine Kabila einen fremden Duar auf ihrem Terrain
umherziehend fände. Vielfach ist auch ein ganz bestimmter Turnus in der
Benutzung der Weidegründe eingeführt.
Der Heerdenreichthum ist bei manchen Nomadenstämmen ein sehr
bedeutender und macht die Wohlhabenheit derselben aus. Das Rindvieh
gehört durchgehends einem kleineren Schlage an als das unsrige, selbst
bei den Saian, welche in dem Rufe stehen, das meiste und beste Horn-
vieh in Marokko zu besitzen. Von dieser Tribus werden zahlreiche, für
den Export bestimmte Ochsen nach Tanger verkauft, desgleichen auch
Häute. Der Stamm der Saian verfügt auch über zahlreiche Ziegen- und
Schaf heerden, sowie über viele Kameele, die sonst in den Gebirgsgegenden,
welche die nordatlantischen Breber bewohnen, selten sind; femer haben
sie viele Pferde.
Die Pferde der Beni Mgill und Beni Mtir sind nach ROHLPS von
grösserem Körperbau, als die in den westlichen Ebenen, und von aus-
gezeichneten Eigc^nschaften. Naturgemäss stellen diejenigen Stämme, welche
viele Pferde besitzen, weit mehr berittene Krieger als solche zu Fuss auf.
Auch das Pulverspiel (fab el-barüd), welches bei den Ruäfa und Djebela,
sowie bei den ausschliesslich die Gebirge bewohnenden Breber zu Fusse
geübt wird, wird von ihnen in ähnlicher Weise, wie bei den Arabern der
Ebenen, zu Pferde ausgeführt. Es heisst alsdann lab el-chail, Pferde-
spiel, und ist unter der ihm von den Europäern gegebenen Bezeichnung
„fantasia^ oft genug von den Reisenden beschrieben worden*).
Die Ait Sseri haben wenig Pferde, weil es ihrem Gebiete an guten
Weideplätzen für solche mangelt. Aehnlich ist es bei den Ait Atta Umalu,
welche dagegen viele Maultlüere besitzen. Im Allgemeinen bilden die
Letzteren keint» reiche Kabila; sie vernachlässigen Ackerbau und Viehzucht,
besitzen überhaupt nur wenig Vieh von mittel massiger Qualität. Der
grösstc Theil dieser Leute lebt nur von Raub und Diebstählen aller Art,
sowie vom Ertrage der „setata"^.
1) Bei den Ait Bu-Sid z.B. wird dieser Sport ganz regelrecht, wie fast überall im
Beled-el-machsin, betrieben. Foücauu) erzählt, dass jeder berittene Krieger dieses
Staiiuues, der sich nicht am Sonntagsmarkte zum ^Pf erdespiel *" einfindet, 10 Francs Strafe
zahlen niuss.
206 M. Qdedenfeldt:
Stiere zu verstümmeln, ist nicht die allgemeine Regel; wenn es
geschieht, so wird das Thier nicht geschnitten, sondern die Hoden werden
ihm zwischen zwei harten Hölzern zerquetscht^).
Maulthiere und Esel sind bei den meisten Stämmen in grosser Anzahl
vorhanden, ebenso Schafe. Dieselben sind von guter und kräftiger Kasse,
obschon ihre Wolle nicht so fein ist wie die aus manchen Gegenden des
westlichen ftarb (z. B. Umgegend von Laraisch) stammende. Nach GEA-
BERG (a. a. 0. S. 85) producirten die Breber nicht einmal die zu ihrer
Bekleidung nöthigo Wolle, was indessen nach meinen Informationen nicht
zutrifft.
Die Ziegen bilden den zahlreichsten Bestand an kleinerem Vieh bei
den Breber. Man findet eigenartige, von den europäischen sehr abweichende
Spielarten unter ihnen. Diese Unzahl von Ziegen im ganzen Lande ist
für den jungen Waldnachwuchs in hohem Grade schädlich, und nur in den
an uralten Waldungen reichen Gebietstheilen des Innern können sie ver-
hältnissmässig wenig Schaden anrichten. Die Qualität des Ziegenleders
in Marokko ist von anerkannter Vortrefflichkeit; das beste kommt von
Tafilelt.
Von einer subtilen Pflege aller dieser nützlichen Thiere, wie in den
Culturländern, ist natürlich in Marokko nicht die Rede; dennoch gedeihen
dieselben vortrefflich.
Einen wichtigen Factor bei der Bewachung aller Duar's bilden die
Hunde. Zu jedem solchen gehört eine grosse Meute dieser Thiere, die
keinen speciellen Besitzer haben, nicht regelmässig gefüttert oder getränkt
werden und nur auf die fortgeworfenen Ueberreste und darauf angewiesen
sind, was sie sich seibat in Feld und Wald erjfigen. Trotzdem haben die
Hunde eine grosse Anhänglichkeit an ihr Dorf, verlassen es nie und sind
die treuesten und mibestechlichsten Wäcliter desselben bei Tag und bei
Nacht. Sobald sich etwas Fremdes dem Duar nähert, alarmiren sie die
Bewohnerschaft durch ihr Gebell, und der Roisende ist oftmals kaum in.
der Lage, sicli die 80 oder 40 auf ilin eindringenden Köter durch einige
wohlgezielte Steinwürfe vom' Leibe zu halten. Kine bestimmte Rasse ist
unter den Duar -Hunden nicht wohl erkennbar; am nächsten stehen sie
etwa unseren Schäferspitzen. Die im ganzen Maiirib und in Marokko
namentlich bei den Arabern im Südwesten des Beled el-machsin ver-
breitete Rasse der langhaarigen Windhunde (ssliigi) kommt bei den Breber
1) Dftr Afohammodanor hat aus religiösen Gründen überhaupt eine Abneigung gegen
Amputationen jeder Art. Auch die Castration der Eunuchen ('abid ed-där) findet in
Maroicko nicht durch Schneidung statt, sondern durcli Brennen der betreffenden Theile
mit einem glühenden Eisen. Diese Operation wird an den dazu Bestimmten in frühester
Jugend vorgenommen, und es geht selbstverstÄndlicli ein sehr beträchtlicher Procentsats
dabei zu Grunde.
Eintheilung und Verbreitung der Berberbevölkerong in Marokko. 207
nicht vor. Von den Arabern werden dieselben oft bei der Jagd mit Edel-
falken verwendet ' ).
Die Tollwuth ist in Marokko nach Angabe der meisten Schrift-
steller (u. a. (iKABERG, IloHLFö) bisher noch nicht beobachtet worden.
Mir ist indessen im Lande selbst mitgetheilt worden, dass in neuerer Zeit
Falle von wuthähnlicher Krankheit vorgekommen seien.
Das Breber-Land bietet vermöge ausgezeichneter BodenbeschaflFen-
heit an vielen Stellen auch vortreffliche Gelegenheit zum Ackerbau,
wcdche mehr oder minder von den sesshaften Tribus, und in geringem
Maasse auch von den noniadisirenden, ausgenutzt wird. Das Gebiet der
Somur wird wegen seiner ausgezeichneten Fruchtbarkeit das ^Dukkala
des (Jarb" genannt*^). In <l(»r Gegend von Tadla bewohnt der mächtige
Stamm der Ketaia ein Territorium mit ebenfalls ausserordentlich ent-
wickelter Feldcultur. Dieselbe wird durch «las ebene Terrain und den
guten Ackerboden begünstigt und sehr gefördert durch ein treffliches
System von Bewässerungsanlagen (ssegia).
Die schönsten und fruchtbarsten Länder des grossen Atlas haben die
Beni Mgill inne, welche besonders Gerste cultiviren. Das Klima in diesen
Gegenden ist schon ein ziemlich kühles. Südöstlich von ihnen wohnen
die Ait Isdigg, welche ausser der Gerste auch viel Weizen bauen. Die
Oasen Medagra. Ertib, Ferkla, der obere Draa u. s. w. bringen namentlich
da, wo Ueberfluss an \Va88(»r vorhanden ist, neben den genannten Cerealien
noch Mais und viele Obstsorten, Datteln, Granaten, auch Wein und Oliven
in d(»r reichsten Fülle hervor. Die Bewässerung geschic^ht in diesen Oasen
meist nach einem sehr ausgedehnten und kün8tlich(»n System, wobei jeder
Tropfen ausgenutzt wird. Die Heuschreckenplage trifft gerade diese
fruchtbaren, heissen Gegenden in manchen Jahren besonders verheerend.
Kigenthümlich ist die ErscluMnung, dass in diesen Oasen seit neuerer
und neuester Zeit ein üeberhandnehmen des berberischen Elementes und
ein successives Zurückdrängen des arabischen stiittfindt^t, und, wie ROHLFS
bemerkt, scheint es, als ob heutzutiige die B(»rber einen (legenstoss gegen
das frühere Eindringen der Araber auszuführen begännen. —
Ich möchte gelegentlich der vorstehemlen kurzen Mittheilungen über
den Ackerbau bei den Breber einen abergläubischt^n Brauch nicht uner-
wähnt lassen, d(»r sich in den gebirgigen Gegenden <les (;arb noch erhalten
1) In Marokko werden hauptsächlich drei Species (Falco Feldeggi Schleg., F. pere-
grinns Tunst. und F. barbarus L.) zur Jagd abgerichtet. Die Ausrüstung des J&gers
(Handschuh, Armschutz, die Kappe des Falken u. s. w.) ist den auch anderwärts zu
gleichem Zwecke gebrauchten GegenstSnden sehr ähnlich, nur ans einheimischen Stoffen
gefertigt.
2) Die Provinz Dukkala liegt im südlichen Marokko und bildet das ebene Hinterland
der Küstenstadt Masagan. Sie wetteifert an reichem Bodenertrage mit den sie nördlich
Uexw. südlich begrenzenden Provinzen Schauija und 'Abda, den „Kornkammern " de
marokkanischen Reiches.
208 ^* QUEDENFELDT:
hat und von welchem uns auch DruMMOND HAY wie folgt berichtet'):
Wenn die Getreideschösslinge aus der Erde hervorkommen, was gegen
die Mitte des Februar der Fall ist, so machen die Dorfbewohner eine
grosse Puppe, in Form eines Weibes, die sie mit allerlei Zierrathen aus-
schmücken und ihr eine hohe, spitze Mütze aufsetzen. Dann führen sie
dieselbe unter Geschrei und unter dem Gesänge einer bestinmiten Melodie
in den Feldern herum. Das Weib, welches an der Spitze geht, trägt diese
Puppe, muss sie jedoch an diejenige ihrer Gefährtinnen abtreten, die sie
einholt, was zu mancherlei vScherzen und Wettläufen Veranlassung giebt.
Die Männer führen gleichfalls dieselbe Ceremonie, jedoch zu Pferde, aus.
Dieser Brauch, welcher in directem Widerspruch mit dem Glauben des
Islam steht, soll eine gesegnete Ernte zur Folge haben. Hay meint, hier
die Spuren eines altgriechischen oder -römischen Brauches vor sich zu
haben und unterstützt diese Ansicht mit den Worten: „Sokrates räth
in den „Oeconomien Xenophons" dem Ischomachus, er solle, um eine
doppelte Ernte zu erhalten, sein Getreide auf dem Halme abmähen und es
leicht unterpflügen. PliNIUS, welcher mit <1en Vorschriften genie Erzäh-
lungen verbindet, berichtet, dass ehemals die Sallucier und Verceller,
welche mit den Thalbewohnern von Ostia Krieg führten, die Felder ihrer
Feinde zertraten, um sie zu vernichten. Da sie die noch grünen Früchte
nicht verbrennen konnten, so pflügten sie sie mit Ochsen unter den Boden,
und schmeichelten sich auf diese Art, den Feind auszuhungern. Allein
das Resultat war ein ganz anderes. Es bildeten sich neue Schösslinge
und wuchsen zu schönen Halmen mit vollen Aehren empor. Dies Ereigiiiss
gab den Anstoss zu einem in Italien heute noch üblichen Verfahren. Da
man in Afrika die alte Art, die Früelite abzuspitzen, und die alterthüm-
liche Verehrung der Tenne wiederfindet, so scheint mir die Vermuthung
natürlich, dass die Sitte, das grüne Getreide mit Füssen zu treten, noch
von den Römern herstammt. Die Berberenstämme, die ältesten Bewohner
dieser Gegend, welcher sie auch den Namen B(»rberei gt^geben haben,
halten allein an diesem Gebrauche fest, worin die Araber und Stadt-
bewohner einen Ueberbleibsel von Abgötterei erblicken."
In der algerischen Kabylie begeht man, wie uns HaNOTEAU und
LeTOURNEUX (1. c. T. I. p. 409) mittheilen, beim Beginne der Feld-
1) Marokko und seine Nomadenstämme, S. 29 und 30. Stuttjj'art 184G. Nach dem
englischen: Western Barbary, its wild tribes and savage aninials, by JoiiN H. Drummoni>
Hay, iiondou 1844. Eine Jugendarbeit des bekannten langjährigen, englischen Vertreters
in Marokko, welche neben vielen Räuber- und Jagdgeschichten, die dem Ganzen ein
romanhaftes Gepräge geben, mancherlei interessante Angaben über Land und Leute ent-
hält. Der Verfasser, welcher erst vor zwei Jahren hoclibetagt aus dem englischen Staats-
dienste geschieden ist, darf unstreitig als einer der besten, lobenden Kenner marokkanischer
Verhältnisse gelten. Im Lande selbst geboren, wo sein Vater bereits als englischer Konsul
fungirte, beherrschte Sir John Hay das magribinische Arabisch vollständig. — Die deutsche
Bearbeitung enih^i leider eine grosse Anzahl sinnentstellender Druckfehler.
Eintheüimg und Yerbreitang der Berberbevölkerang in Marokko. 209
bestellung einige gleichfalls sonderbare, aberghlubische Bräuche. Am frühen
Morgen pflügt man mit einem Joch Ochsen vier harte Eier, vier Granat-
ftpfel und vier Nüsse in das Feld ein, welche man den Tag über in der
Erde lässt und (»rst am Abend den Kindern giebt. Bevor der Kabyle zum
Urbarmachen seines Feldes aufbricht, bringt er am Kopfe, an den Hörnern
und am Halse seiner Ochsen Brote, Kuchen u. s. w. für die Armen und
die Kin<ler des Dorfes an. Alsdann reibt er die Hönier imd den Hals
der Ochsen mit Oel ein, als Präservativ gegen alle Krankheiten, die im
Laufe des Jahres ihn, seine Familie und sein Vieh etwa treffen könnten.
Auf dem Acker angekommen, beginnt (»r damit, (^ine Hand voll gemischter
Sämereien, flerste, Weizen, Bohnen, Erbsen, auszustreuen; dann nimmt er
eine abermalige Vertheilung von Lebensmittel an die Umstehenden vor;
endlich recitirt er gemeiniglich <lie Fatha, den mohammedanischen Segen,
und beginnt mit der Arbeit. —
Von allen sesshaften Breber wird auch die Bien(»nzucht in ausgedehntem
Maasse betrieben. Der gewonnene Honig, sowie das Wachs sind von vor-
züglicher Beschaffenheit. Die Einrichtungen für diesen Zweck sind durch-
aus primitiv. Meist werden ausgehöhlte Baumstämme oder alte Kisten
als Stöcke benutzt; vielfach wird auch die Rinde der Korkeiche zur Her-
stellung von Bienenkörben verwendet. In Rabat an der Westküste hin-
gegen sah ich einen solchen in eigenthümlicher Form aus Thon, mit sieb-
artigen Löchern, hergestellt. Es war mir leider nicht möglich, denselben
zu erwerben, da der Besitzer sich weigerte, ihn zu verkaufen.
Es ist kaum nothwendig, hervorzuheben, dass die Breb(?r leidenschaft-
liche und sehr geübte Jäger sind. Vielfach in Gebrauch ist auch die
Jagd vermittelst Fallen; nach GRABERG (S. *.>3) verfolgen sie kleineres
Wild, z. B. Kaninchen, mit Hilfe des Ichneumons, also in ähnlicher \Veise,
wie wir zuweilen das Frettchen zur Kaninchenjagd abricht(*n.
Trotzdem ist die Nahrung der Breber, wi(» überall auf dem platten
Lande in Marokko, eine vorwiegend vegetabilische. Der Kusskussu (ssekssu)
aus verschiedenen Arten geperlten Mehls (t am) bereitet, von Gerste, Mais,
Durra, Eicheln, bildet auch hier die Basis der Ernährung. Gemüse:
Bohnen, Artischokken, Kürbis u. s. w., femer Früchte, sowie Milch, Butter-
milch, fladenartige, weiche Brote werden vielfach genossen. Fleisch meist
nur bei besonderen Gelegenheiten.
Den Fischfang können sie nur in sehr geringem Maasse betreiben,
da ihr (lebiet nicht an das Me(»r stösst und die nonlafrikanischen Flüsse
bekanntlich arm an Süsswasserflschen (im Gegensatz zu den das brackige
Wasser liebenden und weit in die Flussmündungen hinaufgehenden See-
fischen) sind. Ob die von RoHLFS erwähnte Däia (Binnensee) Ssidi *Ali-
u-Mohammed, welche mitten im (Jebirge im Gebiete der Beni Mgill liegt
und etwa 3 Stunden Länge und .J Stunde Breite hat, fischreich ist sagt
210 M. QuEDEKFEiiDT: Berberbevölkerun^ in Marokko.
der Reisende nicht ^). Wahrscheinlich ist dieser See identisch mit der Ton
FOUCAULD (p. 383) erwähnten Daia von Ifr a, welche an der Koute von
Kssabi esch-Schürfa nach Fäss (über Ssefrü) liegt. Dagegen berichtet
ReNOU (p. 180), gestützt auf die Autorität von DelAPORTE, von der vom
mittleren Laufe des Uad Draa gebildeten „Deb'aia", dass sie ein grosser
Süsswassersee sei, dessen Fischreichthum von den umwohnenden Ein-
geborenen ausgebeutet werde. Wie indessen bereits ROHLFS (Mein erster
Aufenthalt in Marokko, S. 47, 48 und 439) vermuthet und wie neuerdings
FouCAULD bestätigt, existirt ein solcher See nicht. Die Deb'aia ist nur
eine vom Bette des Uad Draa durchschnittene, sandige Niederung, welche
alljährlich im Herbste von den Umwohnern, theils Breber (Ait'Aluan,
Fraction der Ait Atta), theils Arabern (Merabidin), aufgesucht wird, um
die zu dieser Zeit höchstens ein paar Tage lang im Draa strömenden
Wassermengen zum Anbau auszunutzen. Hierzu ist ein Kanalsystom an-
gelegt; doch ist in trockenen Jahren eine Ernte überhaupt nicht zu erwarten.
Von dieser Deb'aia zu unterscheiden sind die M ader, sumpfige Niede-
rungen, welche von den Nebenflüssen des Uad Draa bei der Einmündimg
in dessen Bett gebildet werden und deren Bebauung gleichfalls einmal
jährlich stattfindet. FOÜCAULD zählt deren sechs in jener Gegend auf. —
Bezüglich des Namens „Breber" möchte ich hier am Schlüsse meiner
Mittheilmigen über diese Grui)pe noch bemerken, dass die im Osten (Syrien,
Aegypten) übliche Bezeichnung „Barabra" oder „Berabra" für „Berber"
im Magrib ganz ungebräuchlich ist 2).
1) Der obengenannte See düifte der einzige süsswasserhaltige in Marokko sein;
die wenigen anderen bekannten führen ausnahmslos Salzwasser. Es sind dies im Osten
der von der algerischen Grenze diirchschnittene Schott el-Garbi, südwestlich davon ein
anderer grosser Salzsee oder -sumpf (Ssebcha Tigi auf Petermann\s Karte bei Kohlfs:
Reise durch Marokko u. s. w.), femer der grosse Salzsumpf von Gurara im Norden von
Tuat, die Däia ed-Daura im südlichen Tafilelt, und endlich in der Provinz 'Abda der
kleine Salzsee Sima, welcher mit dem von Leo Africanls (S. 136) erwähnten See am
Djebel achdar, „Grünen Berg**, identisch sein muss, obwohl er die von jenem Autor ihm
zugeschriebene Grösse des Sees von Bolsena heute bei weitem nicht mehr hat. (Vergl.
über denselben meine Mittheilungen in den Verhandl. d Gesellsch. f. Erdkunde lb86, S. 451.)
2) Während des Druckes dieses Abschnittes der vorliegenden Arbeit erhielt ich Nach-
richten aus Marokko, nach denen der Sultan, durch den Verrath eines Schech der den
Beni Mgill verbündeten Safan, Namens Mustafa, jenen Stamm zur Unterwerfung gebracht
hat. Doch ist die aufständische J^ewegung der Jireber damit noch nicht gedämpft. Aus
Tanger wird unter dem 15. August gemeldet, dass ein Verwandter des SultÄUS mit 200
Reitern von einem benachbarten Stamme, dessen Name bis jetzt nicht genau ennittelt ist,
in einen Hinterhalt gelockt und niedergemetzelt wurde. Mulai Hassan schickt sich gegen-
wärtig zu einem Rachezuge gegen diese Tribus an.
VII.
Zur Matriarchatsfrage,
Von
KARL FRIEDRICHS.
Der llerodoteische Bericht über die Lyker') hat bei aller seiner
Dürftigkeit doch das grosse Interesse für die ethnologische Rechtswissen-
schaft, dass in ihm das ältestbekannte und fast typische Beispiel des
Matriarchats enthalten ist. Dadurch wird in uns auch das Interesse erweckt
für eine Angabe Homers über die erbrechtlichen Verhältnisse im Lykischen
Königshause, welche gemeiniglich für eine Bestätigung des Herodoteischen
Zeugnisses gehalten wird*-^).
Der König Bellerophontes von Lykien schickt in den trojanischen
Krieg zwei „seiner Enkel als Heerführer, den Tochtersohn Sarpedon als
Führer des Kontingents, den Sohnessohn Glaukos als untergeordneten
Offizier", — „eine Begünstigung der Tochter vor dem Sohne, die nach
Eustath') den hellenischen Anschauungen durchaus widerspricht".
Diese Thatsache wird von MAC LeNNAN und BACHOFEN an den an-
geführten Stellen für eine Bestätigung des Lykischen Matriarchats und des
Herodoteischen Berichts gehalten. Obwohl nun die beiden Entdecker der
Matriarchatsperiode darin entschuldigt werden müssen, wenn sie zu einer
Zeit, wo noch sehr wenige Beispiele matriarchalen Familienlebens bekannt
waren und wo es in erster Linie darauf ankam, die theoretischen Behaup-
tungen mit einem möglichst zahlreichen und mannichfachen Thatsachen-
material zu unterstützen, auch zweifelhafte und unsichere Fälle als Beweis-
mittel herangezogen haben, und obwohl es daher angemessen erscheinen
könnte, verunglückte Beweisführungen den beiden verdienstvollen Männern
nicht vorzuwerfen, sondern mit Stillschweigen zu übergehen, so bedarf dieser
1) Herodot, 1.173. Vergleiche dazu: Peschel, Völkerkunde. 6. Aufl. von A.Kirch-
hof. Leipzig 1885. S. 243; Mac Lennan, Studies in ancient historj. London 1876.
p. 291, 253; LuBBOCK, Die Entstehung der Civilisation. Deutsch von Passow. Jena 1875.
S. 124: Bastian, Die Völker des östlichen Asiens. Leipzig uud Jena 1866 — 1871.
3. 8.111 Note*).
2) Homer, Dias. 6. 150 ff.
3) Bachofen, Das Mutterrecht Stuttgart 1861. Vorrede S. 7A.
212 Karl Friedrichs:
Beweisversuch dennoch einer ausführlichen Widerlegung um der Folgen
willen, die er gehabt hat. Nehmlich ERMAN^ hat in einer ganz ähnlichen
Beweisführung auch die Aegypter zu den matriarchalen Völkern rechnen
wollen; und es ist zu befürchten, dass auch andere Forscher, welche die
Entwickelung der Familie nicht zu ihrem besonderen Studium gemacht
haben, dieses Beispiel nachahmen und so die Lehre vom Matriarchat über-
haupt in Misskredit bringen '-).
Wir wollen daher nicht weiter ausführen, dass es nicht sehr poetisch
wäre, in einem volksthümlichen Heldengedichte rechtsvergleichende An-
spielungen zu machen, noch dass diese Anspielungen von den Griechen,
welche erst durcli Herodot von den Familienverhältnissen der Lyker Kunde
bekommen haben, gar nicht verstanden werden konnten, sondern uns
darauf beschränken, darzuthun, dass auch HOMER die Lyker für ein
patriarchalisches Volk gehalten hat.
Sarpedon ist ein Sohn der Laodameia und des Zeus, also nicht im
Hause seines Vaters, sondern in dem seines mütterlichen Grossvaters
geboren worden. Seine Stellung ist daher nach der Stellung der unehe-
lichen Kinder im älteren Patriarchat zu beurtheilen ^).
Robertson Smith ^) macht bereits darauf aufmerksam, dass das Ver-
langen der Treue von Seiten der Ehefrau in der Geschichte des Patriarchats
älter ist, als das der Keuschheit von Seiten der Unverehelichten. Dieser
Satz ist durch vielfache Beispiele belegt und an sich fast selbstverständlich,
bedarf daher keiner weiteren Ausführmig. Wir sind daher nicht genöthigt,
dem Sarpedon aus seiner unehelichen Geburt einen Vorwurf zu machen,
umsoweniger, als im HoMER kein Beispiel vorkommt, dass Uneheliche
verachtet wären, vielmehr die Gött(»rkinder überall mit dem höchsten An-
sehen bekleidet werden.
Die familienreclitliche Stellung der Unehelichen im älteren Patriarchat
ist aber folgende:
Es ist für die geschlossen -einseitige Familie-') wesentlich, dass der
Vortheil, den der Stamm und das Haus von dem Zuwachs einer Arbeits-
1) Erman, Aegypton und ägyptisches Leben im Alterthuni. Tübingen, s. a. Bd. 1. S. 224.
2) Schon jetzt hört man in den Vorlesungen von Revillout und seinem Schuler
Paturet an der Ecole du Louvre in Paris heftige Ausfälle gegen die Lehre vom Matri-
archat, die ^von der deutschen und englischen Schule aufgestellt, aber keineswegs bewiesen
sei**, und das zweifellos nur wegen des einen ERMAN'stben Satzes.
8) In Klbist's Erzählung ..Der Findling*", Meyek's Volksbücher Nr. 73/74, S. 93, wird
der Findling als „Gottes Sohn** bezeichnet, und ähnliche Bedeutung hat auch der Passus
in der Marquise von 0. (S. 25 «lesselben Heftes): „das junge Wesen, dessen Ursprung, eben
weil er geheinmissvoller war, auch göttlicher zu sein schien.**
4) Smith, Kinship and marriage in earl}^ Arabia. Cambridge 1885. p. 14L
5) Das Wort „einseitige Familie** möge dienen als zusammenfassen<ler Name für Ma-
triarchat und Patriarchat, im Gegensatz zu der vomiatriarchalen, losen, und zu der nacli-
patriarchalen, gelockerten, zweiseitigen Familie.
Zur Matriarchatsfrag^o. 213
und Vertheidigimgskraft g(»winnt grösser ist, als <lio Ltist, <lie «lurch die
Äufziehung (»ines Kindes verursacht winl ').
Wir köuneii daher schon a ])riori annehnuMi, (hiss <ler Hausvater die
Kinder, welche» ihm seine unverheiratliete Tochter g(»biert, mit Freude auf-
nehmen und ihneli dieselben Rechte und Pflichten zuweisen wird, wie den
Kindeni seiner Gattin und sc^iner Schwiegertochter. Diese Vermuthung
wird zur Gewisslieit, wenn wir sehen, dass wenigstens bei einem Volke
ein derartiges Verfahren bezeugt ist, und dass sich bei mehreren, besonders
arischen Völkern Spuren finden, w<»lche auf früheres Vorkommen «lieser
Sitte hinweisen. So lesen wir von dem hamitischen Volke d<»r Afar, dass,
wenn ein Madchen, olnn» verheirathet oder prostituirt zu sein, mit einem
Kinde niederkommt, un<l KtMuer darauf Anspruch hat, der Urossvater das-
selbe mit der grössten Freude adoptirt und es Yelli-Bato (Gott hat es
gegeben) benennt-).
Bei den Hindu erwirbt nicht Jeder, aber der sohnloso Grossvater
nicht nur die väterliche Gewalt über den ersten Sohn der verheiratheten
Tochter, sondern er kann seine Tochter auch l)eauftragen, sich ausser-
ehelich für ihn einen Sohn von eincmi Dritten erzeugen zu hi8s<Mi (putrikä
putnl und kanina)^).
Auch bei den alten Eraniern hatte der sohnlose Mann Anspruch auf
den ältesten Tochtersohn*), und so finden wir bei JUSTI *) den Satz: „weil
Astyages, wenn er keine männlichen Erben hatte, den Thron naturgemäss
dem Sohne seiner Tochter hinterlassen musste."
Auch bei den Athenern findet sich das Recht des Grossvaters an dem
Tochtersohne*), ebenso bei den Chinesen^) und vielleicht bei den Juden *).
1) Dieser Satz ist in dieser Allgemeingültigkeit noch nicht aufgestellt und bewiesen
worden. Hellwald, Die menschliche Familie. Leipzig 1888. S. D; Haberland bei
Plobs, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. Berlin 1882. 2. S. 244; Puf-fen-
i>ORP, De jure natnrae ac gentium. Lund 1672. G. 1, 3, und BirDDErs in Ekscii und
Gbuber's Allgemeiner Encjclopädie. Leipzig 1838. Sect. L Bd. 31. S. 28i>, scheinen etwas
Derartiges überhaupt ableugnen zu wollen. Zur Unterstützung der vorgetragenen Ansicht
Tergleiche jedoch die sehr guten Ausführungen bei Michaelis, Mosaisches Recht. Frank-
furt 1775 — 1803. L S. 197, 2. S. 100; Kremer, Kulturgeschichte dos Orients unter den
Chalifen. Wien 1876. 2. S. 112 f. Es steht ausser<lem fest, dass alle wirklich patriarchalen
and matriarchalen Volker den Kinderreichthum für einen wahren Segen halten, sei es, dass
rie. wie die Bond o bei Ploss' Kind, 2. S. 395, die von den Kindern gebrachten materiellen
Vortheile offen anerkennen, sei es, dass, wie bei den Hindu, die Erfüllung religiöser
Pflichten nach dem Tode zum Vorwande genommen wird. Bastian, V. O. A. 6. S. 172
Note*); Hearn, Aryan household. London und Melbourne 1879. p. 71 und oft; Doblhofk,
Von den Pyramiden zum Niagara. Wien 18.'^1. S. 179.
2) Bastian, V. O. A. *i. S. 475 Note *).
8) Köhler, in der Zeitschr. iür vergl. Rechtswiss. 3. S. 396, 402; Bachofen, S.201 A.
4) BuDDEüß, in Ekscii und (iKUREr's Allgemeine F^ncyclopfidie. 1. 31. S. 386B.
6 JuSTi, Geschichte clcs alten Persiens : in Oncken, Allgemeine üeschichte in Einzel-
dantellnngen. Berlin 1879 fit. S. 16.
6) Hearn, A. H. p. 104.
7) Hart in Morgan, The sjstems of consanguinity and affinity in the human family.
Wathiiigton 1871. p. 424.
8) HiQHAELis, M. ,B. 2. S. 78,
214 Karl Friedrichs:
Was nun in nachweisbarer Zeit für den sohnlosen Hausvater gegolten
hat, wird früher zweifellos in jedem Falle gültig gewesen sein.
Wir gehen also wohl nicht aus der gebotenen Vorsicht hinaus, wenn
wir für das Homerische Zeitalter als Regel annehmen: den unehelichen
Kindern haftet durch ihre Geburt an sich ein Makel nicht an. Sie stehen
gegenüber dem Vater ihrer Muttor, in dessen Hause sie geboren sind, gleich
mit den anderen, in demselben Hause von freien Frauen geborenen Kin-
dern, also mit den Söhnen und Sohnessöhnen des Hausvaters.
Somit wird die Stellung Sarpedon's im Hause seines Muttervaters
leicht erklärlich, und <len Umstand, dass gerade diesem die Oberleitung
des Heeres anvertraut wird, können wir auf die einfachste Weise durch
die Ahnahme erklären, dass er älter, erfahrener, begabter gewesen ist,
als der treuherzige, jugendlich -leichtsinnige Glaukos, der Sohn des Hippo-
lochos.
Dass aber eine andere, matriarchale Erklärung des vorliegenden Ver-
hältnisses nicht zulässig ist, ersehen wir aus folgenden Erwägungen:
Mag man über das Matriarchat im Einzelnen denken, wie man will,
so ist es doch für diese Familienrechtsstufe begriflFswesentlich, dass recht-
liche Beziehungen zwischen dem Erzeuger und dem Erzeugten nicht an-
erkannt werden, und dass alle Familienerinnerungen, Stammbäume, reli-
giösen Familiengemeinschaften nur auf der weiblichen Seite fortgepflanzt
werden. Ein König, wie ein Gemeiner mag eine Frau in sein Haus
nehmen, er mag mit ihr Kinder erzeugen und dieselben grossziehen, er
mag sie sogar, obwohl Fremde, als seine Vertreter mit dem Heere ins
Feld schicken, aber es ist im Allgemeinen nicht möglich und widerspricht
im Besonderen den Herodoteischen Angaben über die Lyker, dass der
nach seiner Familie gefragte Glaukos nur seine agnatischen Verwandten
aufzählen, die uterinen aber gänzlich übergehen sollte. Das ist nicht nur
unmatriarchalisch, «las gehört sogar einem sehr schrofifen Patriarchate an.
Wir setzen also als zweites Ergebniss unserer Untersuchung fest:
Homer kennt nicht das lykische Matriarchat, er schildert auch hier die
ihm selbst bekannten altpatriarchalischen Zustände.
Nun hält freilich MaC LeNNAN, durch eine Entgegnung GLADSTONE's
gereizt, das ganze heroische Griechenland für matriarchaP ). Der Aufsatz,
in welchem dieser Satz bewiesen werden soll, ist einer der verunglücktesten,
die je geschrieben sind. Eine Widerlegung im Einzelnen ist weder noth-
wendig noch zweckmässig; wir weisen nur hin auf das in allen Königs-
häusern übliche patriarchale Thronfolgerecht, auf die Raubehe [Helena^),
Danaiden'), lo*)] und auf die Patriarchalität aller heroischen Stammbäume.
1) Mac Lennan, Kinship in ancient Grecce, der zweite Aufsatz in den Studies in
ancient history.
2) Dazu auch Lubbock, E. d. C. S. 97, 461—453.
8) Baohofen, S. 9dA, 94A.
4) JlanaQQriyonovkoi 7oTo^/a rov iXlfit^ixov i&fovg ixd, dtvj, Athen 1881. 1. p. 69,
Zur Matriarchat«fra^o. 215
Zum Sohluss noch eine Bomerkun|i: nhor das ^Matriarchat" bei den
alten Aegyptern. Wer das Matriarchat für eine nothwendige Vorstufe
des Patriarchats hält, wird auch nicht bezweifehu dass in Aegypten zu
irgend einer alten Z<»it einmal das Matriarchat gtdierrscht habe. Bezweifelt
soll hier aber werden, dass das Matriarchat zu der von Erman's Buche
amfassten Zeit noch bestanden habe. Vielmehr trägt das ägyptische
Familienleben in nachweisbarer Zeit einen allgemein patriarchalen Charakter.
Im Besonderen weist die» Entwicklung der industriellen Arbeitstheilung
und mit ihr des Obligationenrechts, die angesehene Stellung der Frauen,
die Gliederung des Volkes nach Provinz und Stadt, nicht nach Stämmen
und Familien, auf das spätere Patriarchat, im Uebergange zu der modernen,
zweiseitigen Familie^).
Nun findet ERMAN auf den Todtenstelen der späteren Zeit als herr-
schenden Gebrauch, die Herkunft des Todten nach seiner Mutter anzu-
geben, „nicht, wie es uns natürlich scheint, nach dem Vater" ^). Als zweiter
Grun<l des vermeintlichen Matriarchats gilt das Erbrecht der Töchter, bezw.
Töchtersöhne ^) gegenüber dem Vater.
Der erste Grund würde, wenn gar nichts Anderes von dem Volke
bekannt wäre, entschieden für ein Matriarchats -Kennzeichen gehalten werden.
Ab(»r schon der Umstand, dass diese Art von Metronymie nur in der spä-
terem Zeit vorkommt, zwingt uns, eine andere Ursache dafür zu suchen,
da wir nie davon gehört haben, dass das Patriarchat sich in allmählichem
Uebergange in Matriarchat verwandelt hätte*). Erklärt und erklärbar ist
diese Metronymie aus Höflichkeit noch nicht, es möge nur erwähnt werden,
dass eine gleiche Erscheinung bei dem entschieden patriarchalischen Volke
der Kanori (Bomu- Neger) vorkommt').
Der zweite Grund dient aber entschieden als Beweis für das Patri-
archat. Erbrecht zwischen Vater und Tochter besteht im Matriarchate
nicht, da ein solches dem Grundcharakter desselben, Nichtanerkennung
des Verhältnisses zwischen dem Erzeuger und dem Erzeugten, wider-
sprechen würde.
Aber nicht einmal für die hohe Stellung der Frauen giebt das Erb-
1) Ad dem Unterschiede zwischen dem Patriarchat und der modernen Familie ist
festzuhalten, trotz der entgegengesetzten Behauptung bei Tylor, Einleitung in das Stu-
dium der Anthropologie und Civilisation. Deutsch von ü. SrejiERT. Braunschweig 1883.
8. 485, und trotzdem bei den meisten ein solcher Unterschied nicht aufgestellt ist. Frei-
lich ist der Ueberganjj zwischen beiden durchaus allmählich, und eine scharfe Scheide-
linie nicht zu ziehen. Vergl. auch Uear>% 64.: Bastian, V. O. A G. S. 87 Note*}.
2) Erman, Aegypten. 1. S. 224.
8) Erman. Cap. 8.
4) In Starcke, •Die primitive Familie**. Leipzig 1888, wird jetzt ein solcher Ueber-
gang behauptet. Die Beweise sind aber nicht überzeugend.
6) Barth, Reisen und Entdeckungen in Nord- und Centralafrika. Gotha 1857/68.
2. & ÄlT.
216 Karl (^iedrighs: Zur Matriarchatsfrage.
recht der Töchter einen sonderlichen Beweis. Dass etwa die Töchter den
Söhnen vorgezogen würden, sagt ERMAN nirgends, und es scheint beinahe,
als wenn sich das Erbrecht der Töchter auf solche Fälle beschränkte, wo
Söhne nicht vorhanden sind. Es ist nun wahr, dass in vielen patri-
archalischen Rechtsgebieten die Töchter von der Erbfolge ausgeschlossen
sind, so bei den Armeniern'), den Mirditen*-), den ältesten Römern,
den Iren*), den Wallisern''), den Altslaven'), den Dänen*), den
Saliern'), den Altschleswigern*), den vormuslimischen Arabern*),
den Drusen^), den Käfirn®).
Aber bei anderen, gleichfalls patriarchalen Völkern fin<len sich Erb-
ansprüche der Töchter in Ermangelung von Brüdern und sogar neben
Brüdern. So bei den Athenern^) (allerdings in der Form der Epi-
klerenerbschaft), den Schweden*®) seit dem 13. Jahrhunderte, den
Schleswigern seit Svend Gabelbart**), den Arabern seit Muhammad**),
den Juden, sowohl im Alterthum * ') (unter einer dem athenischen Epi-
klerenrechte durchaus verwandten Modification), als auch heute**), den
Ovambo (Bantu)**), dön Ilijat (Eranischen Türken)**). Die letzt-
erwähnten Fälle gehören dabei nur zum Theil dem jüngeren Patriarchat
oder dem Uebergange zur modernen Familie an, so dass sich das ägyp-
tische Erbrecht der Töchter sehr wohl selbst mit dem älteren, strengeren
Patriarchat vertragen würde.
Wir glauben daher das Matriarchat für die späteren Altägypter ab-
lehnen zu dürfen, während den vorhistorischen Aegyptern ihr Anspruch
auf Matriarchalität unverkümmert erhalten bleiben soll.
1) Pr. nov. 21.
2) Hbllwald in Trewendt's Wörterbuch der Zoologie u. s. w. Breslau. 5. S. 429.
3) Hbarn, p. 149, 150.
4) Daulmank, Geschichte von Dänemark, in Heeren und Ukert, Geschichte der
europäischen Staaten. 1. S. 165.
5) Stemann, Geschichte des öffentlichen und Privatrechts des Herzogthums Schleswig.
Kopenhagen 1866ff. 1. S. 38.
6) Kremer, K. G. 1. S. 531.
7) Hellwald, in T. W. B. 2. S. 439.
8) Waitz, Anthropologie der Naturvölker. Leipzig 1859 flf. 2. S. 390.
9) Hearn, A. H. p. 95; Smith, Dictionary of Greek and Roman antiquities. Londpn
1882. p. 467B; Lysias, orationes. 26. 12; 15. 3.
10) Dahlmann. 1. S 165.
11) Stemann, a. a. 0.
12) Kremer, a. a. 0.
13) Miohaelis, M. R. !^ 78.
14) Mendelssohn, Ritualgesetze der .Juden. 4. Aufl. Berlin 1799. 1. 1, § 1, 3.
15) Waftz. 2. S. 418.
16) Hellwald, in T. W. B. 4. S. 271.
Besprechungen.
Grimm. Die Pharaonen in Ostafrika. Eine kolonialpolitische Stuilie.
Mit einigen Holzschnitten und Lichtdruckhildern. Karlsruhe, Macklot.
(1887.) 8. 184 S.
Das kleine Heft enthält eine Tendenzschrift im strengsten Sinne 4les Woi tes. Aus der
altA(^;jptischen Geschichte, namentlich ans der Geschichte der Expeditionen nach Punt
sollen die Waffen geschmiedet werden, um die Gegner und Zweifler für die deutsche
Kolonialpolitik in Ostafrika zu gewinnen. Ein sehr sonderbares Unternehmen! Offenbar
ist der Verfasser, der sich erst in Folge seiner entschiedenen Stellungnahme für die
Kolonialpolitik anch mit alt&gyptischen Dingen beschäftigt hat, in die Materie nicht tief
genug eingedrungen, um den gewaltigen unterschied zu erkennen, welcher zwischen der
auswärtigen Politik der Pharaonen und der Kolonialpolitik anderer Herrscher und Völker
des Alterthnms, z. B. der Phönicier. Griechen und Römer, bestand. Den Pharaonen
kam es wesentlich darauf an. Beute zu gewinnen und Reichthümer heimzubringen, um den
Göttern durch glänzende Opfer und den Priestern durch verschwenderische Geschenke
za gefallen. Was Tutmes IL und III. durch gewaltige Kriegszüge erstrebten, das ver-
suchte ihre Schwester und Mitregentin Hatasu oder Hatschepsu auf friedlichem Wege
dorrh Entsendung einer grossen Flotte nach dem Lande Punt, und sie erreichte ihr Ziel
in glänzender Weise. Das beschreibt der Verfasser nach bekannten Quellen sehr umständ-
lich, indem er zugleich Lichtdmckbilder giebt von den Statuen der Köuigin, welche sich im
Berliner Museum befinden, und welche leider viel stärker verletzt und daher auch viel um-
fangreicher restanrirt worden sind, als der Verfasser aunimmt. Dass aber jemals in Punt
eine ägyptische Kolonie gegründet oder auch nur dauernde Handelsfaktoreien errichtet wor-
den seien, davon ist nichts bekannt. Der ägyptische Admiral kolonisirte im Weihrauchlande
ebensowenig, als der römische Ritter, den Nero nach der Bemst<>inküste schickte. Am
sonderbarsten ist es, dass der Verfasser sich vorstellt, das ägyptische Volk sei durch diese
Kolonialpolitik so sehr in Enthusiasmus versetzt worden, dass es die monumentalen Bilder
in Deir-el-Bahri herstellen Hess (S. 5). «Die Skulpturen am Tempel von Der-el-Bahri zeigen,
dass das damalige ägyptische Volk die von seiner Fürstin ausgegangene friedliche Kolonie-
grundnng in Ostafrika für ein Ereigniss von gleich hohem Range ansah, wie die Kriegs-
thaten (von Ramses II und III.)." Das arme ägjrptische Volk war sehr passiv bei den
mbmredigen Monumenten seiner Herrscher, und diesen lag kein Gedanke femer, als der,
sich Monumente durch das Volk errichten zu lassen. Nur der Herrscher spricht in den
Inschriften der Monumente: er. der Sohn des grossen Gottes, lässt dieselben errichten,
er hat die Grossthaten ausgeführt und er verkündet sie dem Volke. Obwohl der Verfasser
mit seinen etwas mühselig errungenen Lesefrüchten den grössten Theil seines Werkes
füllt, ohne dass im Gnmde anch nur das Geringste dadurch für seinen Zweck gewonnen
wird, so steckt darin doch wenigstens ein gewisser Antheil von historischer Wahrheit.
Aber gänzlich unverdaut ist das, was den Schluss des Heftes bildet, der Excurs in die
ägyptische Prähistorie. Zunächst begeistert sich der Verfasser ganz überflüssigerweise
fOr den Gedanken, dass ui sprünglich ganz Africa von einem einzigen Urstamme bewohnt
worden sei. Dann lässt er von Asien her in prähistorischer Zeit die Hamiten mit einer
besonderen Sprache eindringen und sich in Aegypten zu höchster staatlicher Organisation
cntwiekeln. Daraus folgert er dann, dass eine eingewanderte Rasse vortrefflich sowohl
ZtHtebrin r&r Ethnologie. Jabr«. ISSS. 15
218 Besprechungen.
in Aejrypten, als in Ostafrika überhaupt (I) leben und fortbestehen könne, und da die üamitcn
zu der kaukasischen Kasse gehören (S. 188), so kann nach seiner Meinung auch „das
deutsche Volk mit seinen kolonisatorischen Plänen in Ostafrika sicher und unbeirrt vor-
wärts schreiten.*" Sollte der Verfasser wirklich glauben, dass ^kaukasische Rasse" and
^Ärier** oder „Indogermanen~ identische Begriffe sind? Und sollte er gar nichts von dem
traurigen Geschicke der armen Fellachen gehört haben, die man neuerlich zur Kolonisimiig
von Ostafrika gewonnen hatte? RuD. VmCHOW.
Henry O'Shea. La maison basque. Notes et impressions. Pau, Leon
Ribaut, 1887. gr. 8. 87 p. avec 22 illustratious hors texte et 4 dans
le texte par F. Correges.
Axel 0. Heikel. Ethnogi'apliische Forschungen auf dem Gebiete der
finnischen Völkerschaften. L Die Gebäude der Öeremisson, Mord-
winen, Esten und Finnen. Helsingfors 1888. gr. 8. 352 S. mit
311 Abbildungen im Text. (Suomalais-Ugrilaisen Seuran Aikakaus-
kirja. IV.)
Die beiden genannten Werke behandeln in ausführlicher Weise das Haus mit seinen
Anhängen, viie es sich in zwei abgelegenen Gegenden Europas bei den Eingebomen erhalten
hat. Aber so weit die Entfernung ist zwischen den Basken und den Finnen, so gross ist
auch der Untei-schied in der Methode der Auffassung und Schreibart zwischen den beiden
Autoren. Während Hr. O'Shea in begeisterter Stimmung, unter Heranziehung eines grossen,
alle Zeitalter umfassenden literarischen Mateiials, seiner Phantasie in Beziehung auf die
Vorzeit und die Entwickelungsgeschichte der Basken volle Freiheit lässt, so dass oh
oinigennaassen schwerfällt, aus der Fülle der episodisch an einander gereihten Gedanken
das thatsächliohe Bild des baskischen Hauses herauszuschälen, häuft Hr. Heikel in grösster
Sorgfalt, aber in fast zu nüchterner Genauigkeit eine grosse Anzahl detaillirter Schilde-
rungen, welche die Haushauten der finnischen Stämme von der Wolga und dem Ural bis
zum botnischen Meerbusen umfassen. Sonderbarerweise nimmt der erste Autor (p. 44, Note)
den Wunsch des Prinzen Lucien Bon aparte auf, der die Meinung ausdrückte, man
müsse .,bei den uralischen Völkern, von denen mehrere in Scandina\ien wohnten, sich
über Alles, was das ])askische Haus betrifft, unterrichten" (il faudrait chercher ä s'informer
de tout ce qui tient aux maisons basques), und siehe da. Hr. Heikel erfüllt in demselben
Augenblicke diesen Wunsch, aber, wir fürchten, nicht zur vollen Zufriedenheit der beiden
französischen Gelehrten. Dem Ref. war es wenigstens nicht möglich, in seiner Schrift
irgend einen Zusammenhang zwischen dem finnischen und dem baskischen Hause zu ent-
decken.
Hr. O'Shea hält die Basken für Tiu^anier, und v(m diesem Vordersatze aus hält er
sich auch für berechtigt, die ganze Religions- und Sagengeschichto d<T Turanier, zu denen
er auch die Aegypter und die Bewohner der untergegangenen Atlantis zählt, für die Basken
in Anspruch zu nehmen. Man kann nach seinen Ausführungen kaum Itestreiten, dass das
Haus ))ei den Basken noch bis in ganz späte Zeiten hinein in besonders ausgeprägter
Weise mit einem religiösen Charakter bekleidet gewesen sein muss, aber es dürfte wohl
übertrieben sein, wenn der Verf. annimmt, dass dieser Charakter auf einem streng
gepflegten Ahnencultus beruht hat und dass dieser Cultus durch die Sitte, die Todten im
Hause selbst zu begraben, lebendig erhalten sei. l'eber dem Grabe habe sich der Heerd
mit dem stets brennenden Feuer befunden, also ein Altar, und somit sei die Heerdstelle
als der Hauptplatz des Hauses anzusehen. C'est la cuisine, la belle et vaste cuisine
basque, qui est la piece principale de la maison. La cuisine? Oh! ne la dedaignez pas
Derriere ces voiles epais de pierre et de mortier, se cachait jadis, dans ce pays, un ante!
sacre, aux augustes mysteres, et aujourd^hui un autel non moins sacrc s'y ^leve, le foyer
domestique qui, depuis vingt siecles, porte la societe basque, la j)lus forte et la plus
saintemont constituee qui ait etc ici-bas (p. 15\ Dem entsprechend constniirt er das
Bepprechungen. 219
jirimitive baskiscbe Haus aus 3 Theilen (p. 48, Fig. 3): oiuer vollkonimen geschlossenen, ur-
spiünglich in Form eines heinisphärischen Thurmes errichteten Celia oder Absis mit dem
Heerde: einem länglichen Schiff mit offenem Hofe (eskaratza) und an den Seiten mit Woh-
nungen für die Familie, und endlich einer Vorhalle, wo sich die Fremden und Gäste auf-
hielten, denen es streng verboten war, das Innere des Hauses zu betreten. Recht an-
schauliche Zeichnungen des Hm. Correges veranschaulichen sowohl das städtische, als
das ländliche Haus der Basken, welches letztere, beiläufig gesagt, in mehrfacher Beziehung
an unser alemannisches oder Alpcnhaus erinnert.
Eine gänzlich verschiedene Anschauung, im Ganzen und im Einzelnen, gewährt das
von Hm. Heikel so genau geschilderte Haus der Tscheremissen, Mordwinen, Esten und
Finnen. Hier tritt nicht die mindeste Beziehung auf ein Grab oder auf einen Ahnen-
cultus, nicht einmal auf die Religion überhaupt hervor. Das primitive Haus der Wolga-
I-^nnen ist der natürliche Ausdmck des einfachsten Bedürfnisses, Schutz und Sicherheit
für Menschen und Hansthiere zu gewinnen. Die «Stangenriege'' der Mordwinen und
Tschuwassen basirt freilich auch auf einem Erdloche mit einem Feuerheerde, über welchem
sich ein kegelförmiger Aufbau aus Holzstangen erhebt (S. 2, Fig. 1), aber das Erdloch
ist nur die Winterwohnung der Leute. Erst indem sich der Heerd mehr entwickelt und
zu einem Ofen wird, der Oberbau sich nach und nach zu einem Gebäude entfaltet, nimmt
das Ganze allmählich den Habitus einer Wohnung in unserem Sinne an. Freilich betrachtet
auch Hr. Heikel (S. XXVIII) „die Feuerstätte ihrer Lage und ihrer Form nach als den
besten Ausgangspunkt, die verschiedenen, mit Feuerstätten versehenen Wohnungen und
Häuser seines Forschungsgebietes zu gmppiren und zu charakterisiren** : er findet „ein
System der Banfomien, welche alle in der Feuerstätte ihre Nota characteristica haben".
Zu demselben Ergebniss ist auch der Ref. bei seinen Studien über das altdeutsche Haus
gekommen. Wenn jedoch Hr. Heikel in gewissen estnischen Bauformen eine Erinnerung
an das sächsische Haus erblickt (S. I8n). so mag diess zugestanden werden in Bezug auf
das äussere Aussehen, aber es kann nicht wohl zugestanden werden in Bezug auf den
Gmndplan der inneren Einrichtung. Was bei dem estnischen Hause in seiner primitivsten
Gestalt, wo es nur auf Stube (kota) und Tenne reducirt ist, neben einander liegt, das ist
in dem altsäcbsischen Hause hinter einander gestellt: zuerst die Deel, dann das Flet.
Daraus folgt für die weitere Ent Wickelung des Hauses ein vollständiger Gegensatz, der
sich leicht begreift, wenn man die ganz verschiedenen Bedürfnisse der betreffenden Völker
^^egen einander st4>llt. Das sächsische Haus nimmt eben di<> gesammte Wirthschaft, ein-
s<hliesslich der Viehställe und der Vorrathsräume, in sich auf, so dass die Wohnung
immer nur einen kleinen Theil des Hauses ausmacht: bei den Finnen wird das
Hans, je grösser es anwächst, inmier mehr Wohnhaus und die Wirthschaftsräume werden
in besonderen Nebengebäuden untergebracht. Es mag sein, dass die, mit den deutschen
Ordensrittern gerade aus Niedersachsen und Westfalen heranziehende Einwandemng manche
Kigenthfimlichkeit der Heimath auch in den Ostseeprovinzen eingeführt hat, aber sie ist
nicht stark genug gewesen, auf dem Lande durchgreifende Aendenmgen der Gewohnheiten
zu erzeugen. Die eingehenden Schilderungen des Verf. sind daher höchst dankenswerthe
Vermehrangen unserer Kenntniss von der Art des häuslichen Lebens der finnischen Stämme,
aber sie lehren auch, wie unter ganz anderen wirthschaftlichen Verhältnissen sich eine
eigenartige Methode des Bauens und des Wohnens ausgebildet hat. Vielleicht am meisten
bt'rühren sich gewisse Nebeneinrichtungen, z. B. die gesonderten Speicher, auf deren Vor-
handensein in der Schweiz Ref. wiederholt hingewiesen hat. Auch zeigt sich unverkenn-
bar, wie der ausschliessliche Holzbau gewisse Aehnlichkeiten in der Construktion mit sich
bringt, die gewi^ auf keine unmittelbare Beeinflussung der einen Nation durch die andere
hinweisen. — Zu besonderem Danke sind wir übrigens dem Verf. verpflichtet, dass er
scinp Arbeit in deutscher Sprache veröffeutlicht hat. Man merkt es ihm an, dass unsere
Sprache ihm gewisse Schvrierigkeiten bereitet ; hier und da wird seine Darstellung dadurch
etwas undeutlich. Trotzdem wird er gewiss auf dankbare Leser und auf gebührende Auf-
merksamkeit bei uns rechnen dürfen. Die Fülle vortrefflicher Abbildungen und genauer
Grandrisse gewährt eine Belehmng, wie wir sie aus recht vielen Ländern wünschen müssen.
RUD. ViRClIOW.
220 BeBprecliuDgen.
China. Imperial maritime customs. IL Special Series No. 2. Medical
Reports for the half-year ended 30 th Sept. 1886. 32 nd Issue. Shanghai
1886. — The same for the half-year ended 31 th Mareh 1887. 33nd
Issue. Shanghai 1887. 4.
Die beiden Hefte sind eine Fortsetzung früherer Berichte (vergl. Zeitschr. f. Ethnol. 1887.
8.48), aber sie haben einen ungleich reicheren Inhalt, der, obwohl speciell medicinischer
Art, doch wegen der mannichfachen Uebersichten über die Geographie der Krankheiten
in verschiedenen Plätzen von China auch den Reisenden nahe angeht. Von besonderem
wissenschaftlichem Werthe ist in dem 32. Berichte eine Abhandlung des Mr. Mjers,
Surgeon to the ^David Manson Memorial* Hospital, über die Lebensgeschichte der Filaria
sanguinis hominis und ihr Nichtvorkommen in Süd-Formosa oder eigentlich in Formosa
überhaupt, welches um so auffallender ist, als in dem nahe gelegenen Amoy dieser Parasit
sehr häuüg gefunden wird und zahlreiche Berührungen mit diesem Hafenplatz stattfinden.
Mr. Myers sucht den Grund davon in dem Umstände, dass diejenige Art von Mosquitos,
welche Dr. Manson in Amoy als Träger der Embryonen der Filaria nachgewiesen hat,
in Formosa nicht vorkommt. Der Verf. giebt eine mit Abbildungen erläuterte Beschreibung
von 3 verschiedenen Arten von Mosquitos, welche in Formosa leben, und zeigt ihre Unter-
schiede von den Amoy- Mosquitos, welche die Filaria aufnehmen und übertragen. Seine
weiteren Ausführungen, weiche hauptsächlich die Lebensbedingungen der Filaria im mensch-
lichen Körper, speciell die Sauerstoffzufuhr und die Temperatur, betreffen, sind mehr theo-
retischer Natur; er bringt damit den Umstand in Zusammenhang, dass die Neigung der
Parasiten, während der Nacht auszuschwärmen, sowohl durch künstliche Umkehr von Nacht
und Tag, als auch durch die natürliche Verschiebung der Tages- und Nachtzeiten auf
längeren Reisen geändert wird. Im Anschluss daran behandelt er dann die Elephantiasis
in China und anderswo, von der er glaubt, dass man in causaler Beziehung zwei ver-
schiedene Arten unterscheiden müsse. Nur eine derselben sei „filarial*". —
Dr. H. N. Allen (33 nd Issue p. 38) erstattet einen kurzen Bericht über den Gesund-
heitszustand in Seul (Korea) während des Jahres 1886. In demselben wird als eine der
um meisten gefürchteten Krankheiten die Recurrens (yeni pyeng) aufgeführt Man hält
sie für bestimmt ansteckend, und der Verf., obwohl er anfangs diese Auffassung bekämpfte,
wurde schliesslich ebenfalls ein Anhänger derselben. Durch einmaliges Befallensein
steigert sich die Neigung für spätere Rückfälle. Chinin scheint bei Koreanern wirkungslos
zu sein. Seine Haupterfolge erzielte der Verf. mit Pilocari)in, welches um die Zeit der
Krise gereicht wurde. Es sollen auch Spirillen gefunden sein, indess lautet die Beschrei-
bung der angewendeten Methode etwas bedenklich.
Ein grosser Theil der Berichte, so auch der eben erwähnte, liefern Schilderungen
der letzten Cholera -Epidemie, welche sich über Ostasien verbreitete, sowie über die
verschiedenen Formen von Malaria -Krankheiten. Rud. Virchow.
Hugo Kleist und Alb. Freiherr v. Schrenck v. Notzing. Tunis un<l
seine Umgebung. Ethnogi-aphische Skizzen. Leipzig, Wilh. Friedrich.
1888. 8. 253 S.
Die vorliegende Schrift ist eine ganz anschauliche und unterrichtende Reisebeschreibung,
aber sit» trägt nicht ganz mit Hecht den Zusatz ..Ethnographische Skizzen". Natürlich
ist darin auch Ton den Eingebomen die Rede, aber sowohl die physische Beschreibung
derselben, als die Schilderung ihres Lebens und ihrer V()lksthümlichen Besonderheiten
erhebt sich nirgend über die Eindrücke des Touristen. Nur in den eingestreuten medi-
cinischen, botanischen und zoologischen Angaben zeigt sich eine speciellere Schulung
der Beobachter. Nichtsdestoweniger wird das Buch für gewöhnliche Reisende ein
erwünschtes Hülfsmittel der Orientirung sein. Es liest sich leicht und bietet eine üeber-
sicht des Erlebten in guter Anordnung. Rcd. Virchow.
VIII.
Die rossgestaltigen Hirtfmelsärzte bei Indern und
Griechen.
Von
Direktor W. SOHWARTZ in Berlin.
In den Sagen aller Völker spielen die Thiere eine grosse Rolle.
Ihre verschiedenen Eigenschaften und Beziehungen zu den Menschen
schienen ihnen einen bestimmten Charakter zu verleihen, demgemäss dann
die Phantasie ihr Spiel mit ihnen trieb. Die Thiersage ist uralt und Ober
den ganzen Erdkreis verbreitet, dürftiger, wo die vorhandene Thierwelt
weniger geeignete Exemplare dazu bot, reicher, wo eine grössere Fülle
derartiger vorhanden. Diese Sagen haben etwas internationales, nur dass
bei Uebertragungen von einem Volke zum anderen die Species oft wech-
selt, statt des Fuchses z. B. der Schakal eintritt u. dergl. m.
Unterschieden hiervon, wenn auch gelegentliche Uebergänge sich finden,
sind die mythischen Thiere, bezw. thierartige mythische Wesen. Diese
hängen mit Natur- und namentlich Himmelsanschauungen zusammen, die
sich zu ganzen Bildern entfalteten, aus welchen sich dann die sogenannten
Naturmythen entwickelten, und sie stehen parallel und in den mannich-
fachsten Bezie|)iungen zu den anderen überirdischen Wesen, die der
(Haube in jenen Bildern zu erblicken wähnte. Namentlich ist die indo-
germanische Mythologie, insofern sie sich der phantasievollen Auffassung
der Hiramelserscheinungen anschloss. reich an solchen Gestaltungen, und
besonders charakteristisch haben sich hier auch die verschiedenartigsten
Mischgestalten von Thier und Mensch entwickelt. Besonders sind es
die an die heulenden Stürme, die fliegenden Wolken, die sich
schlängelnden Blitze, sowie die brüllenden oder hallenden Donner
sich anschliessenden Bilder, die dabei zur Sprache kommen, indem sie
Wölfe, zauberhafte Vogel, Schlangen, Stiere und Rosse, — tonantes
equi, wie sie lloRAZ u. A. nennen, — in die Mythologie in den mannich-
fachsten Bezieliungen einführten, wie ich solche im „Ursprung der Mytho-
logie** des Eingehenderen in d<»n Localsagen der betreffenden Volker,
d. h. in ihrer niederen Mythologie, V(TfoIgt habe.
In allen möglichen Situationen erschienen dort oben am Himmel diese
thierartigen Wesen, zumal bald in gewaltiger Conception das Bild ein-
Z«itochrift für Bthnolofie. Jahrg. 1888. IG
212 Karl Friedrichs:
Beweisversuch dennoch einer ausführlichen Widerlegung um der Folgen
willen, die er gehabt hat. Nehmlich ERMAN*) hat in einer ganz ähnlichen
Beweisführung auch die Aegypter zu den matriarchalen Völkern rechnen
wollen; und es ist zu befürchten, dass auch andere Forscher, welche die
Entwickelung der Familie nicht zu ihrem besonderen Studium gemacht
haben, dieses Beispiel nachahmen und so die Lehre vom Matriarchat über-
haupt in Misskredit bringen-).
Wir wollen daher nicht weiter ausführen, dass es nicht sehr poetisch
wäre, in einem volksthümlichen Heldengedichte rechtsvergleichende An-
spielungen zu machen, noch dass diese Anspielungen von den Griechen,
welche erst durch Herodot von den Familienverhältnissen der Lyker Kunde
bekommen haben, gar nicht verstanden werden konnten, sondern luis
darauf beschränken, darzuthun, dass auch HOMER die Lyker für ein
patriarchalisches Volk gehalten hat.
Sarpedon ist ein Sohn der Laodameia und «les Zeus, also nicht im
Hause seines Vaters, sondern in dem seines mütterlichen Grossvaters
geboren worden. Seine Stellung ist daher nach der Stellung der unehe-
lichen Kinder im älteren Patriarchat zu beurtheilen ^).
Robertson Smith ^ ) macht bereits darauf aufmerksam, dass das Vor-
langen der Treue von Seiten der Ehefrau in der Geschichte des Patriarchats
älter ist, als das der Keuschheit von Seiten der Unverehelichten. Dieser
Satz ist durch vielfache Beispiele belegt und an sich fast selbstverständlich,
bedarf daher keiner weiteren Ausführung. Wir sind daher nicht genöthigt,
dem Sarpedon aus seiner unehelichen Geburt einen Vorwurf zu machen,
umsoweniger, als im HOMER kein Beispiel vorkommt, dass Uneheliche
verachtet wären, vielmehr die Götterkinder überall mit dem höchsten An-
sehen bekleidet werden.
Die familienrechtliche Stellung der Unehelichen im älteren Patriarchat
ist aber folgende:
Es ist für die geschlossen -einseitige Familie'') wesentlich, dass der
Vortheil, den der Stamm und das Haus von dem Zuwachs einer Arbeits-
1) Ermam, Aegypten und ägyptisches Leben im Altertliuni. Tubingen, s. a. Bd. 1. S. 2*24.
2) Schon jetzt hört man in den Vorlesungen von Revillout und seinem Schüler
Paturet an der Ecole du Louvre in Paris heftige Ausfälle gegen die Lehre vom Matri-
archat, die „von der deutschen und englischen Schule aufgestellt, aber keineswegs bewiesen
sei**, und das zweifellos nur wegen des einen ERMAN'sehen Satzes.
3) In Kleist's Erzählung «Der Findling-, Mever's Volksbücher Nr. 73/74, S. 93, wird
der Findling als „Gottes Sohn- bezeichnet, und ähnliche Bedeutimg hat auch der Passus
in der Marquise von 0. (S. 25 desselben Heftes) : „das junge Wesen, dessen Ursprung, eben
weil er geheimnissvoller war, auch göttlicher zu sein schien.**
4) Smith, Kinship and marriage in early Arabia. Cambridge 1885. p. 14L
5) Das Wort „einseitige Familie** möge dienen als zusammenfassender Name für Ma-
triarchat und Patriarchat, im Gegensatz zu der vormatriarchalen, losen, und zu der nach-
j>atriarchalen, gelockerten, zweiseitigen Familie.
Zur Matriarchatfifrajje. 213
und Vertheidigiingskraft gowinnt, grösser ist, als die Last, die durch die
Äufziehung eines Kindes verursacht wird ').
Wir können daher sclion a priori annehmen, dass der Hausvater die
Kinder, weicht» ihm seine unverheirathete Tocht(T gebiert, mit Freude auf-
nehmen und ihneli dieselben Rechte und Pflichten zuweisen wird, wi«» den
Kindeni seiner Gattin un<l s<»iner Schwiegertochter. Di<»8e Vermuthung
wird zur Gewissheit, wenn wir sehen, dass wenigstens bei einem Volke
ein derartiges Verfahren bezeugt ist, und dass sich bei mehreren, besonders
arischen Völkern SpunMi finden, welche auf frfduTes Vorkommen dieser
Sitte hinweisen. So lesen wir von d(Mn hamitischen Volke d(T Afar, dass,
wenn ein Madchen, ohne verheirathet oder prostituirt zu sein, mit einem
Kinde nie<lerkommt, und Keiner darauf Anspruch hat, der Grossvater das-
selbe mit d<T grössten Freude ado])tirt und es Yelli-Bato (Gott hat es
gf^geben) benennt*-).
Bei den Hindu erw^irbt nicht Jeder, aber der sohnlose Grossvater
niciit nur die vaterliche Gewalt über den ersten Sohn <ler verheiratheten
Tochter, sondeni er kann seine Tochter auch l)eauftragen, sich ausser-
ehelich für ihn einen Sohn von einem Dritten erzeugen zu lassen (putrikä
putni und kanina)^).
Auch bei den alten Eraniern hjitte der sohnlose Mann Anspruch auf
den ältesten Tochtersohn*), und so finden wir bei JüSTI*) den Satz: „weil
Astyages, wenn er keine männlichen Erben hatte, den Thron naturgemäss
dem Sohne seiner Tochter hinterlassen musste."
Auch bei den Athenern findet sich «las Recht des Grossvaters an dem
Tochtersohnc •), ebenso bei den Chinesen') und vielleicht bei den Juden *).
1) Dieser Satz ist io dieser AUgemeingültigkeit noch nicht aufgestreut und bewiesen
worden. Hellwald, Die menschliche Familie. Leipzig 1888. 8.9; Haberland bei
Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. Berlin 1882. 2. S. 244; Plffen-
DORF, De jure naturae ac gentium. Lund 1672. (5. 1, 3, und Buddel'8 in Eksch und
Grcber's Allgemeiner Encjrclopädie. Leipzig 1838. Sect. I. Bd. 31. S. 281>, scheinen etwas
Derartiges überhaupt ableugnen zu wollen. Zur Unterstützung der vorgetragenen Ansicht
Tergleiche jedoch die sehr guten Ausführungen bei MiniAELis, Mosaisches Recht. Frank-
furt 1775 — 1803. 1. S. 197, 2. S. 100: Kremer, Kulturgeschichte des Orients unter den
Chalifen. Wien 1876. 2. S. 112 f. Es steht ausserdem fest, dass alle wirklich patriarchalen
und matriarchalen Völker den Kinderreichthum für einen wahren Segen halten, sei es, dass
sie, wie die Bondo bei Floss' Kind, 2. S. 39.5, die von den Kindern gebrachten materiellen
Vortheile offen anerkennen, sei es, dass, wie bei den Hindu, die FIrfüllung religiöser
Pflichten nach dem Tode zum Vorwande genommen wird. Bastian, V. O. A. 6. S. 172
Note*); Hearn, Aryan household. London und M*»Ibourne 1879. ]>. 71 und oft; Doblhoff,
Von den Pyramiden zum Niagara. Wien 18^1. S. 179.
2) Bastian, V. 0. A. 6. S. 475 Not« *).
8) Kohler, in der Zeitschr. für vergl. Rechtswiss. 3. S. 3%, 402: Bachofen, S. 201 A.
4) BuDDEUß, in Ersch imd (ikuber's Allgemeine F^ncjclopfidie. 1. 31. S. B86B.
6 JuSTi, Geschichte des alten Persiens ; in Oncken, Allgemeine Geschichte in EinxeU
dATstellungen. Berlin 1879 ff. S. 16.
6) Hearn, A. H. p. 104.
7) Hart in Morgan, The sjstems of consangninity and affinity in the human family.
W^ashington 1871. p. 424.
5) MiOMABLiSy M.fi. 2. 8. 7a
214 Karl Friedrichs:
Was nun in nachweisbarer Zeit für den sohnlosen Hausvater gegolten
hat, wird früher zweifellos in jedem Falle gültig gewesen sein.
Wir gehen also wohl nicht aus der gebotenen Vorsicht hinaus, wenn
wir für das Homerische Zeitalter als Regel annehmen: den unehelichen
Kindern haftet durch ihre Geburt an sich ein Makel nicht an. Sie stehen
gegenüber dem Vater ihrer Muttor, in dessen Hause sie geboren sind, gleich
mit den anderen, in demselben Hause von freien Frauen geborenen Kin-
dern, also mit den Söhnen und Sohnessöhnen des Hausvaters.
Somit wird die Stellung Sarpedon's im Hause seines Muttervaters
leicht erklärlich, und den Umstand, dass gerade diesem die Oberleitung
des Heeres anvertraut wird, können wir auf die einfachste Weise durch
die Ahnahme erklären, dass er älter, erfahrener, begabter gewesen ist,
als der treuherzige, jugendlich -leichtsinnige Glaukos, der Sohn des Hippo-
lochos.
Dass aber eine andere, matriarchale Erklärung des vorliegenden Ver-
hältnisses nicht zulässig ist, ersehen wir aus folgenden Erwägungen:
Mag man über das Matriarchat im Einzelnen denken, wie man will,
so ist es doch für diese Familienrechtsstufe begriflFswesentlich, dass recht-
liche Beziehungen zwischtm dem Erzeuger und dem Erzeugten nicht an-
erkannt werden, und dass alle Familienerinnerungen, Stammbäume, reli-
giösen Familiengemeinschaften nur auf der weiblichen Seite fortgepflanzt
werden. Ein König, wie ein Gemeiner mag eine Frau in sein Haus
nehmen, er mag mit ihr Kinder erzeugen und dieselben grossziehen, er
mag sie sogar, obwohl Fremde, als seine Vertreter mit dem Heere ins
Feld schicken, aber es ist im Allgemeinen nicht möglich und widerspricht
im Besonderen den Herodoteischen Angaben über die Lyker, dass der
nach seiner Familie gefragte Glaukos nur seine agnatischen Verwandten
aufzählen, die uterinen aber gänzlich übergehen sollte. Das ist nicht nur
unmatriarchalisch, das gehört sogar einem sehr schrofifen Patriarchate an.
Wir setzen also als zweites Ergebniss unserer Untersuchung fest:
Homer kennt nicht das lykische Matriarchat, er schildert auch hier die
ihm selbst bekannten altpatriarchalischen Zustände.
Nun hält freilich MAC LennaN, durch eine Entgegnung GLADSTONE's
gereizt, das ganze heroische Griechenland für matriarchal ^). Der Aufsatz,
in welchem dieser Satz bewiesen werden soll, ist einer der verunglücktesten,
die je geschrieben sind. Eine Widerl(?gung im Einzelnen ist weder noth-
wendig noch zweckmässig; wir weisen nur hin auf das in allen Königs-
häusern übliche patriarchale Thronfolgerecht, auf die Raubehe [Helena-),
Danaiden'), lo*)] und auf die Patriarchalität aller heroischen Stammbäume.
1) Mac Lennan, Kinship in ancient Greece, der zweite Aufsatz in den Studies in
ancient history.
2) Dazu auch Lübbock, E. d. C. S. 97, 451—453.
8) Baohofen, 8. 98 A, 94 A.
Zur Matriarchatsfra^o. 215
Zum Schlu88 iio<*h oino Bomerkunj; üIxt das ^Matriarchat" hei den
alt<»ii Aofi:y|)teni. Wor das Matriarchat für eiiu» nothwondigo Vordtufo
des Patriarchats hält, wird auch uicht bezweifehi, dass in Aogypten zu
irgend einer altcMi Zeit einmal das Matriarchat «j^ehc^rrscht hal)e. Bezweifelt
soll hier aber werden, dass das Matriarchat zu der von EräIAN's Buche
umfassten Zeit noch bestanden habe. Vielmehr trägt das ägyptische
Familienleben in nachweisbarer Zeit einen allgemein patriarchalen Charakter.
Im Besonderen weist di<» Entwicklung der industriellen Arbeitstheilung
un<l mit ihr des Obligationenrechts, die angesehene Stellung der Frauen,
die liliederung des Volk<»s nach Provinz und Stadt, nicht nach Stämmen
und Familien, auf das spätere Patriarchat, im Uebergange zu der modernen,
zweiseitigen Familie').
Nun findet ERMAN auf den Todtenstelen der späteren Zeit als herr-
schenden Gebrauch, die Herkunft des Todten nach seiner Mutter anzu-
geben, „nicht wie es uns natürlich scheint, nach dem Vater" 2). Als zweiter
Grund des vermeintlichen Matriarchats gilt das Erbrocht der Töchter, bezw.
Töcht(»r8öhne ^) gegenüber dem Vater.
Der erste Grun<l würde, wenn gar nichts Anderes von dem Volke
bekannt wäre, entschieden für ein Matriarchats -Kenn zeichen gehalten werden.
Aber schon der Umstand, dass diese Art von Metronymie nur in der spä-
teren Zeit vorkommt, zwingt uns, eine andere Ursache dafür zu suchen,
da wir nie davon gehört haben, dass das Patriarchat sich in allmählichem
Uebergange in Matriarchat verwandelt hätte*). Erklärt und erklärbar ist
diese Metronymie aus Höflichkeit noch nicht, es möge nur erwähnt werden,
dass eine gleiche Erscheinung bei dem entschieden patriarchalischen Volke
der Kanori (Bomu-Neger) vorkommt').
Der zweite Grund dient aber entschieden als Beweis für das Patri-
archat. Erbrecht zwischen Vater und Tochter besteht im Matriarchate
nicht, da ein solches dem Grundcharakter desselben, Nichtanerkennung
des Verhältnisses zwischen dem Erzeuger und dem Erzeugten, wider-
sprechen würde.
Aber nicht einmal für die hohe Stellung der Frauen giebt das Erb-
1) An dein Unterschiede zwischen dem Patriarchat und der modernen Familie ist
festzuhalten, trotz der entgegengesetzten Behauptung bei Tylor. Einleitung in das Stu-
dium der Anthropologie und Civilisation. Deutsch von ü. Siebert. Braunschweig 1883.
S. 485, und trotzdem bei den meisten ein solcher Unterschied nicht aufgestellt ist. Frei-
lich ist der Uebergan«? zwischen beiden durchaus allmählich, und eine scharfe Scheide-
linie nicht zu ziehen. Vergl. auch Hear^, 64.; Bastian, V. O. A G. S. 87 Note*).
2) Erman, Aegypten. 1. S. 224.
8) Erman. Cap. 8.
4) In Starcke, «Die primitive Familie". Leipzig 1888, wird jetzt ein solcher Ueber-
gang behauptet. Die Beweise sind aber nicht überzeugend.
6) Barth, Reisen und Entdeckungen in Nord- und Centralafrika. Gotha 1857/68.
2. Sw 297.
216 Karl Friedrichs: Zur Matriarchatsfrage.
recht der Töchter einen sonderlichen Beweis. Dass etwa die Töchter den
Söhnen vorgezogen würden, sagt ERMAN nirgends, und es scheint beinahe,
als wenn sich das Erbrecht der Töchter auf solche Fälle beschränkte, wo
Söhne nicht vorhanden sind. Es ist nun wahr, dass in vielen patri-
archalischen Rechtsgebieten die Töchter von der Erbfolge ausgeschlossen
sind, so bei den Armeniern'), den Mirditen'-), den ältesten Römern,
den Iren*), den Wallisern''), den Altslaven'), den Dänen*), den
Saliern'), den Altschleswigern*), den vormuslimischen Arabern*),
den Drusen'), den Käfirn®).
Aber bei anderen, gleichfalls patriarchalen Völkern finden sich Erb-
ansprüche der Töchter in Ermangelung von Brüdern und sogar neben
Brüdern. So bei den Athenern^) (allerdings in der Form der Epi-
klerenerbschaft), den Schweden'®) seit dem 13. Jahrhunderte, den
Schleswigern seit Svend Gabelbarf ), den Arabern seit Muhammad**),
den Juden, sowohl im Alterthum ") (unter einer dem athenischen Epi-
klerenrechte durchaus verwandten Modification), als auch heute**), den
Ovambo (Bantu)'*), dön Ilijat (Eranischen Türken)'«). Die letzt-
erwähnten Fälle gehön^i dabei nur zum Theil dem jüngeren Patriarchat
oder dem Ueborgange zur modernen Familie an, so dass sich das ägyp-
tische Erbrecht der Töchter sehr wohl selbst mit dem älteren, strengeren
Patriarchat vertragen würde.
Wir glauben daher das Matriarchat für die späteren Altägypter ab-
lehnen zu dürfen, während den vorhistorischen Aegyptern ihr Anspruch
auf Matriarchalität unverkünmiert erhalten bleiben soll.
1) Pr. nov. 21.
2) Uellwald in Trewendt's Wörterbuch der Zoologie u. s. w. Breslau. 5. S. 429.
3) Hbarn, p. 149, 150.
4) Dahlmank, Geschichte von Dänemark, in Heeren und Ukert, Geschichte der
europäischen Staaten. 1. S. 165.
5) Stemann, Geschichte des öffentlichen und Privatrechts des Herzogthums Schleswig.
Kopenhagen 1866ff. 1. S. 38.
6) Kremer, K. G. 1. S. 531.
7) Hellwald, in T. W. B. 2. S. 439.
8) Waitz, Anthropologie der Naturvölker. Leipzig 1859 flf. 2. S. 390.
9) Hearn, A. H. p. 95; Smith, Dictionary of Greek and Roman antiquities. Londpn
1882. p. 467 B ; Lysias, orationes. 26. 12 ; 15. 3.
10) Dahlmann. 1. S 165.
11) Stemann, a. a. 0.
12) Kremer, a. a. 0.
13) MiOHAELis, M. R. § 78.
14) Mendelssohn, Ritualgesetzc der Juden. 4. Aufl. Berlin 1799. 1. 1, § 1, 3.
15) Waitz. 2. S. 418.
16) Hellwald, in T.W. B. 4. S. 271.
Besprechungen.
Grimm. Die Pharaonen in Ostafrika. Eine kolonialpolitische Studie.
Mit einigen Holzschnitten und Lichtdruekhildem. Karlsruhe, Maeklot.
(1887.) 8. 184 S.
Das kleine Heft enthält eine Tendenzschrift im strengsten Sinne <les Woites. Aus der
ultftgjptischen Geschichte, namentlich ans der Geschichte der Expeditionen nach Punt
sollen die Waffen geschmiedet werden, nm die Gegner und Zweifler für die deutsche
Kolonialpolitik in Ostafrika zu gewinnen. Ein sehr sonderbares Unternehmen! Offenbar
int der Verfasser, der sich erst in Folge seiner entschiedenen Stellungnahme für die
Kolonialpolitik auch mit alt&gjptischen Dingen beschäftigt hat, in die Materie nicht tief
^^enng eingedrungen, um den gewaltigen Unterschied zu erkennen, welcher zwischen der
answärtigen Politik der Pharaonen und der Kolonialpolitik anderer Herrscher und Völker
des Alterthums, z. B. der Phönicier, Griechen und Römer, bestand. Den Pharaonen
kam es wesentlich darauf an. Beute zu gewinnen und Reichthümer heimzubringen, um den
Göttern durch glänzende Opfer und den Priestern durch verschwenderische Geschenke
zu gefallen. Was Tutmes II. und III. durch gewaltige Kriegszüge erstrebten, das ver-
suchte ihre Schwester und Mitregentin Hatasu oder Hatschepsu auf friedlichem Wege
durch Entsendung einer grossen Flotte nach dem Lande Punt, und sie erreichte ihr Ziel
in glänzender Weise. Das beschreibt der Verfasser nach bekannten Quellen sehr umständ-
lich, indem er zugleich Lichtdmckbilder giebt von den Statuen der Königin, welche sich im
lierliner Museum befinden, und welche leider viel stärker verletzt und daher auch viel um-
fangreicher restaurirt worden sind, als der Verfasser annimmt. Dass aber jemals in Punt
eine ägyptische Kolonie gegründet oder auch nur dauernde Handelsfaktoreien errichtet wor-
den seien, davon ist nichts bekannt. Der ägyptische Admiral kolonisirte im Weihranchlande
ebensowenig, als der römische Ritter, den Nero nach der Bemsteinküste schickte. Am
sonderbarsten ist es, dass der Verfasser sich vorstellt, das ägyptische Volk sei durch dies»*
Kolonialpolitik so sehr in Enthusiasmus versetzt worden, dass es die monumentalen Bilder
in Deir-el-Bahri herstellen Hess iß, 5). ^Die Skulpturen am Tempel von Der-el-Bahri zeigen,
dass das damalige ägyptische Volk die von seiner Fürstin ausgegangene friedliche Kolonie-
gründnng in Ostafrika für ein Ereigniss von gleich hohem Range ansah, wie die Kriegs-
thaten (von Ramses II und III.)." Das arme ägyptische Volk war sehr passiv bei den
ruhmredigen Monumenten seiner Herrscher, und diesen lag kein Gedanke ferner, als der,
sich Monumente durch das Volk errichten zu lassen. Nur der Herrscher spricht in den
Inschriften <1«t Moimmente: er, der Sohn des grossen Gottes, lässt dieselben errichten,
er hat die Grossthaten ausgeführt und er verkündet sie dem Volke. Obwohl der Verfasser
mit seinen etwas mühselig errungenen Lesefrüchten den grussten Theil seines Werkes
füUt, ohne dass im Grunde auch nur das Geringste dadurch für seinen Zweck gewonnen
wird, so steckt darin doch wenigstens ein gewisser Antheil von historischer Wahrheit.
Aber gänzlich unverdaut ist das, was den Schlnss des Heftes bildet, der Excurs in die
ägyptische Prähistorie. Zunächst begeistert sich der Verfasser ganz überflüssigerweise
für den Gedanken, da^is ui sprünglich ganz Africa von einem einzigen Urstamme bewohnt
worden sei. Dann lässt er von Asien her in prähistorischer Zeit die Hamiten mit einer
betooderen Sprache eindringen und sich in Aegypten zu höchster staatlicher Organbation
entwickeln. Daraus folgert er dann, dass eine eingewanderte Rasse vortrefflich sowohl
Z«iuebrift für Ethnologie. Jahrg. 18SS. 15
218 Besprechungen.
in Aegjpten, als in Ostafrika überhaupt (!) leben und fortbestehen könue, und da Hie üamiten
zu der kaukasischen Rasse gehören (S. 188), so kann nach seiner Meinung auch „Aas
deutsche Volk mit seinen kolonisatorischen Plänen in Ostafrika sicher und unbeirrt vor-
wärts schreiten." Sollte der Verfasser wirklich glauben, dass ^kaukasische Rasse*' und
^ Arier** oder „Indogermanen** identische Begriffe sind? und sollte er gar nichts von dem
traurigen Geschicke der armen Fellachen gehört haben, die man neuerlich zur Kolonisining
von Ostafrika gewonnen hatte? RuD. Virchow.
Henry O'SHEA. La maison basque. Notes et impressions. Pau, Leon
Ribaut, 1887. gr. 8. 87 p. avec 22 illustratioiis liors texte et 4 dans
le texte par F. Correges.
Axel O. Heikel. Ethnographische Forschungen auf dem Gebiete der
finnischen Völkerschaften, l. Die Gebäude der Ceremissen, Mord-
winen, Esten und Finnen. Helsingfors 1888. gr. 8. 352 S. mit
311 Abbildungen im Text. (Suomalais - Ugrilaisen Seuran Aikakaus-
kirja. IV.)
Die beiden genannten Werke behandeln in ausfuhrlicher Weise das Haus mit seinen
Anhängen, wie es sich in zwei abgelegenen Gegenden Europas bei den Eingebomen erhalten
hat. Aber so weit die Entfernung ist zwischen den Basken und den Finnen, so gross ist
auch der Unterschied in der Methode der Auffassung und Schreibart zwischen den beiden
Autoren. Während Hr. O'Shea in begeisterter Stimmung, unter Heranziehung eines grossen,
alle Zeitalter umfassenden literarischen Materials, seiner Phantasie in Beziehung auf die
Vorzeit und die Entwickelungsgeschichte der Basken volle Freiheit lässt, so dass es
oinigemiaasseu schwerfällt, ans der Fülle der episodisch an einander gereihten Gedanken
das thatsächliche Bild des baskischen Hauses herauszuschälen, häuft Hr. Heikel in gr6sster
Sorgfalt, aber in fast zu nüchterner Genauigkeit eine grosse Anzahl detaillirter Schilde-
rungen, welche die Hausbauten der finnischen StÄmme von der Wolga und dem Ural bis
zum botnischen Meerbusen umfassen. Sonderbarerweise nimmt der erste Autor (p. 44, Note)
den Wunsch des Prinzen Lucien Bonaparte auf, der die Meinung ausdrückte, man
müsse „bei den uralischen Völkern, von denen mehrere in Scandinavien wohnten, sich
über Alles, was das liaskische Haus betrifft, unterrichten" (il faudrait chercher a s'informer
de tout ce qui tient aiu maisons basques), und siehe da, Hr. Heikel erfüllt in demselben
An;;enblicke diesen Wunsch, aber, wir fürchten, nicht zur vollen Zufriedenheit der beiden
französischen Gelehrten. Dem Ref. war es wenigstens nicht möglich, in seiner Schrift
irgend einen Zusammenhang zwischen dem finnischen und dem baskischen Hause zu ent-
decken.
Hr. O'Shea hält die Basken für Turanier, und von diesem Vordersatze aus hält er
sich auch für berechtigt, die ganze Religions- und Sagengeschichte der Turanier, zu denen
er auch die Aegypter und die Bewohner der untergegangenen Atlantis zählt, für die Basken
in Anspruch zu nehmen. Man kann nach seinen Ausführungen kaum bestreiten, dass das
Haus bei den Basken noch bis in ganz späte Zeiten hinein in besonders ausgeprägter
Weise mit einem religiösen Charakter bekleidet gewesen sein muss, aber es dürfte wohl
übertrieben sein, wenn der Verf. annimmt, dass dieser Charakter auf einem streng
j^epflogten Ahnencultus beruht hat und dass dieser Cultus durch die Sitte, die Todten im
Hause selbst zu begraben, lebendig erhalten sei. Ueber dem Grabe habe sich der Heerd
mit dem stets brennenden Feuer befunden, also ein Altar, und somit sei die Heerdst«lle
als der Hauptplatz des Hauses anzusehen. C'est la cuisine, la belle et vaste cuisine
basque, qui est la piece principale de la maison. La cuisine? Oh! ne la dedaignez pas
Derriere ces voiles ^pais de pierre et de mortier, se cachait jadis, dans ce pays, un antel
sacre, aui augustes mysteres, et aujourd^hui un autel non moins sacre s'y 61eve, le foyer
domestique qui, depuis vingt siecles, porte la sociöt^ basque, la plus forte et la plus
saintement constitu6e qui ait 6tc ici-bas (p. 15;. Dem entsprechend construirt er das
Besprechungen. 219
Iiriiiiitivc baskische Haus aus 8 Theilen (p. 48, Fig. 3): einer Yollkonimen geschlossenen, ur-
sprünglich in Form eines heinisphurischen Thurmes errichteten Cella oder Absis mit dem
Heerde : einem l&nglichen Schiff mit offenem Hofe (eskaratza) und an den Seiten mit Woh-
nungen ffir die Familie, und endlich einer Vorhalle, wo sich die Fremden und Oäste auf-
hielten, denen es streng verboten war, das Innere des Hauses zu betreten. Recht an-
schauliche Zeichnungen des Hm. Correges veranschaulichen sowohl das st&dtische, als
das Iftndliche Haus der Basken, welches letztere, beiläufig gesagt, in mehrfacher Beziehung
an unser alemannisches oder Alpenhaus erinnert.
Eine gänzlich verschiedene Anschauung, im Ganzen und im Einzelnen, gewährt das
von Hrn. Heikel so genau geschilderte Haus der Tscheremissen, Mordwinen, Esten und
Finnen. Hier tritt nicht die mindeste Beziehung auf ein Grab oder auf einen Ahnen-
coltus, nicht einmal auf die Religion überhaupt hervor. Das primitive Haus der Wolga-
Finnen ist der nat&rliche Ausdruck des einfachsten Bedürfnisses, Schutz und Sicherheit
für Menschen und Hausthiere zu gewinnen. Die ..Stangenriege" der Mordwinen und
Tschuwassen basirt freilich auch auf einem Erdloche mit einem Feuerheerde, über welchem
sich ein kegelfönuiger Aufliau aus Holzstangen erhebt (S. 2, Fig. 1), aber das Erdloch
ist nur die Winterwohnung der heute. Erst indem sich der Heerd mehr entwickelt und
zu einem Ofen wird, der Oberbau sich nach und nach zu einem Gebäude entfaltet, nimmt
das Ganze allmählich den Habitus einer Wohnung in unserem Sinne an. Freilich betrachtet
auch Hr. Heikel (S. XXVIII) „die Feuerstätte ihrer Lage und ihrer Form nach als den
besten Ausgangspunkt, die verschiedenen, mit Feuerstätten versehenen Wohnungen und
Häuser seines Forschungsgebietes zu gruppireu und zu charakterisiren*" : er findet „ein
System der Bauformen, welche alle in der Feuerstätte ihre Nota characteristica haben".
Zu demselben Ergebniss ist auch der lief, bei seinen Studien über das altdeut«che Haus
gekommen. Wenn jedoch Hr. Heikel in gewissen estnischen Bauformen eine Erinnerung
an das sächsische Haus erblickt (S. 18o). so mag diess zugestanden werden in Bezug auf
das äussere Aussehen, aber es kann nicht wohl zugestanden werden in Bezug auf den
Gnindplan der inneren Einrichtung. Was bei dem estnischen Hause in seiner primitivsten
Gestalt, wo es nur auf Stube (kota) und Tenne reducirt ist, neben einander liegt, das ist
in dem altsächsischeu Hause hinter einander gestellt: zuerst die Deel, dann das Flet.
Daraus folgt für die weitere Entwickelung des Hauses ein vollständiger Gegensatz, der
sich leicht begreift, wenn man die ganz verschiedenen Bedürfnisse der betreffenden Völker
gegen einander stellt. Das sächsische Haus nimmt eben die gesammte Wirthschaft, ein-
schliesslich der Viehställe imd der Vorrathsräume, ih sich auf, so dass die Wohnung
immer nur einen kleinen Theil des Hauses ausmacht: bei den Finnen wird das
Hans, je grösser es anwächst, immer mehr Wohnhaus und die Wirthschaftsräume werden
in besonderen Nebengebäuden untergebracht. Es mag sein, dass die, mit den deutschen
Ordensrittern gerade aus Niedersachsen und Westfalen heranziehende Einwanderung manche
Eigenthfimlichkeit der Heimath auch in den Ostseeprovinzen eingeführt hat, aber sie ist
nicht stark genug gewesen, auf dem Lande durchgreifende Aendenmgen der Gewohnheiten
zu erzeugen. Die eingehenden Schilderungen des Verf. sind daher höchst dankenswerthe
Vermehrungen unserer Kenntniss von der Art des häuslichen Lebens der finnischen Stämme,
aber sie lehren auch, wie unter ganz anderen wirthschaftlichen Verhältnissen sich eine
eigenartige Methode des Bauens und des Wohnens ausgebildet hat. Vielleicht am meisten
berühren sich gewisse Nebeneinrichtungen, z. B. die gesonderten Speicher, auf deren Vor-
handensein in der Schweiz Ref. wiederholt hingewiesen hat. Auch zeigt sich unverkenn-
bar, wie der ausschliessliche Holzbau gewisse Aehnlichkeiten in der Construktion mit sich
bringt, die gewi^ auf keine unmittelbare Beeinflussung der einen Nation durch die andere
hinweisen. — Zu besonderem Danke sind wir übrigens dem Verf. verpflichtet, dass er
seine Arbeit in deutscher Sprache veröffentlicht hat. Man merkt es ihm an, dass unsere
Sprache ihm gewisse Schwierigkeiten bereitet; hier und da wird seine Darstellung dadurch
etwas undeutlich. Trotzdem wird er gewiss auf dankbare Leser und auf gebührende Auf-
merksamkeit bei uns rechnen dürfen. Die Fülle vortrefflicher Abbildungen und genauer
Grundrisse gewährt eine Belehrung, wie wir sie aus recht vielen Ländern wünschen müssen.
Ri:d. Virchow.
220 BespreebuDgen.
China. Imperial maritime customs. 11. Special Series No. 2. Medicsl
Reports for the half-year ended 30th Sept. 1886. 32nd Issue. Shanghai
1886. — The same for the half-year ended 31 th Mareh 1887. 33nd
Issue. Shanghai 1887. 4.
Die beiden Hefte sind eine Fortsetzung früherer Berichte (vergl. Zeitscbr. f. Etbnol. 1887.
S. 48) , aber sie haben einen ungleich reicheren Inhalt, der, obwohl speciell medicinischer
Art, doch wegen der mannichfachen üebersichten über die Geographie der Krankheiten
in verschiedenen Plätzen von China auch den Reisenden nahe angeht. Von besonderem
wissenschaftlichem Werthe ist in dem 32. Berichte eine Abhandlung des Mr. Myers,
Surgeon to the .»David Manson Memorial* Hospital, über die Lebensgeschichte der Filaria
sanguinis hominis und ihr Nichtvorkommen in Süd-Formosa oder eigentlich in Formosa
überhaupt, welches um so auffallender ist, als in dem nahe gelegenen Amoy dieser Parasit
sehr häufig gefunden wird und zahlreiche Berührungen mit diesem Hafenplatz stattfinden.
Mr. Myers sucht den Grund davon in dem Umstände, dass diejenige Art von Mosquitos,
welche Dr. Manson in Amoy als Träger der Embryonen der Filaria nachgewiesen hat,
in Formosa nicht vorkommt. Der Verf. giebt eine mit Abbildungen erläuterte Beschreibung
von 3 verschiedenen Arten von Mosquitos, welche in Fonnosa leben, und zeigt ihre Unter-
schiede von den Amoy- Mosquitos, welche die Filaria aufnehmen und übertragen. Seine
weiteren Ausführungen, welche hauptsächlich die Lebensbedingungen der Filaria im mensch-
lichen Körper, speciell die Sauerstoflfzufuhr und die Temperatur, betreffen, sind mehr theo-
retischer Natur; er bringt damit den Umstand in Zusammenhang, dass die Neigung der
Parasiten, während der Nacht auszuschwärmen, sowohl durch künstliche Umkehr von Nacht
und Tag, als auch durch die natürliche Verschiebung der Tages- und Nachtzeiten auf
längeren Reisen geändert wird. Im Anschluss daran behandelt er dann die Elephantiasis
in China und anderswo, von der er glaubt, dass man in causaler Beziehung zwei ver-
schiedene Ari:en unterscheiden müsse. Nur eine derselben sei „filarial''. —
Dr. H. N. Allen (33 nd Issue p. 38) erstattet einen kurzen Bericht über den Gesund-
heitszustand in Seul (Korea) während des Jahres 188G. In demselben wird als eine der
am meisten gefürchteten Krankheiten die Recurrens (yem pyeng) aufgeführt Man hält
sie für bestimmt ansteckend, und der Verf., obwohl er anfangs diese Auffassung bekämpfte,
wurde schliesslich ebenfalls ein Anhänger derselben. Durch einmaliges Befallensein
steigert sich die Neigung für spätere Rückfälle. Chinin scheint bei Koreanern wirkungslos
zu sein. Seine Haupterfolge erzielte der Verf. mit Pilocarpin, welches um die Zeit der
Krise gereicht wurde. Es sollen auch Spirillen gefunden sein, indess lautet die Beschrei-
bung der angewendeten Methode etwas bedenklich.
Ein grosser Theil der Berichte, so auch der eben erwähnte, liefern Schilderungen
der letzten Cholera -Epidemie, welche sich über Ostasien verbreitete, sowie über die
verschiedenen Formen von Malaria-Krankheiten. Rl'D. Virchow.
Hugo Kleist und Alb. Freiherr V. SCHRENCK V. NOTZING. Tunis und
seine Umgebung. Ethnographische Skizzen. Leipzig, Wilh. Friedrich.
1888. 8. 253 8.
Die vorliegende Schrift ist eine ganz anschauliche und unterrichtende Reisebeschreibung,
aber sie trägt nicht ganz mit Recht den Zusatz ;, Ethnographische Skizzfn". Natürlicli
ist darin auch von den Eingebomen die Rede, aber sowohl die physische Beschreibung
derselben, als die Schildenmg ihres Lebens und ihrer volksthünilichen Besonderheiten
erhebt sich nirgend über die Eindrücke des Touristen. Nur in den eingestreuten medi-
cinischen, botanischen nnd zoologischen Angaben zeigt sich eine speciellere Schulung
der Beobachter. Nichtsdestoweniger wird das Buch für gewöhnliche Reisende ein
erwünschtes Hülfsmittel der Orientirung sein. Es liest sich leicht und bietet eine üeber-
^icht des Erlebten in guter Anordnung. Rro. Virchow.
VIII.
Die rossgestaltigen Hirtfmelsärzte bei Indern und
Griechen.
Von
Direktor W. SOHWARTZ in Berlin.
In den Sagen aller Völker spielen die Thiere eine grosse Rolle.
Ihre verschiedenen Eigenschaften und Beziehungen zu den Menschen
schienen ihnen einen bestimmten Charakter zu verleihen, demgemäss dann
die Phantasie ihr Spiel mit ihnen trieb. Die Thiersage ist uralt und über
den ganzen Erdkreis verbreitet, dürftiger, wo die vorhandene Thierwelt
weniger geeignete Exemplare dazu bot reicher, wo eine grössere Fülle
derartiger vorhanden. Diese Sagen haben etwas internationales, nur dass
bei Uebertragungen von einem Volke zum anderen die Species oft wech-
selt, statt des Fuchses z. B. der Schakal eintritt u. dergl. m.
Unterschieden hiervon, wenn auch gelegentliche Uebergänge sich finden,
sind die mythischen Thiere, bezw. thierartige mythische Wesen. Diese
hangen mit Natur- und namentlich Himmelsanschauungen zusammen, die
sich zu ganzen Bildern entfalteten, aus welchen sich dann die sogenannten
Naturmythen entwickelten, und sie stehen parallel und in den mannich-
fachsten Bezi^ungen zu den anderen überirdischen Wesen, die der
Ulanbe in jenen Bildern zu erblicken wähnte. Namentlich ist die indo-
germanische Mythologie, insofern sie sich der phantasievollen Auffassung
der Himmelserscheinungen anschloss, reich an solchen Gestaltungen, und
besonders charakteristisch haben sich hier auch die verschiedenartigstcMi
Mischgestalten von Thier und Mensch entwickelt. Besonders sind es
die an die heulenden Stürme, die fliegenden Wolken, die sich
schlängelnden Blitze, sowie die brüllenden oder hallenden Donner
sich anschliessenden Bilder, die dabei zur Sprache kommen, indem sie
Wölfe, zauberhafte Vögel, Schlangen, Stiere und Rosse, — tonantes
equi, wie sie HoRAZ u. A. nennen, — in die Mythologie in den mannich-
fachsten Beziehungen einführten, wie ich solche im „Ursprung der Mytho-
logie** des Eingellenderen in den Localsagen der betrefTeuilen Völker,
d. h. in ihrer niederen Mythologie, verfolgt habe.
In allen möglichen Situationen erschienen dort oben am Himmel diese»
thierartigen Wesen, zumal bald in gewaltiger Conception das Bild ein-
Z«ittefeiift fSr KUmologie. Jahrg. 1»88. 16
222 W. SCHWARTZ:
heitlicher gefasst wurde, bald in einer gewissen Zersplitterung die Vor-
stellung vieler derartiger Wesen sieh erzeugte, und man für beiderlei
Arten dann die verschiedenste Bestätigung in der sie umgebenden Natur fand.
Indem man z. B. in der Gewitternacht Alles in ein finsteres Chaos
versinkend wjihnte, aus dem sich dann aber wieder beim Sehwinden jener
eine neue Lichtwelt erhob, knüpften sich die Schöpfungssagen bei den
Persem an „einen" Urstier, der in den brüllenden Donnern in der Entwick-
lung des Gewitters aufgetreten zu sein schien, während bei den Nord-
germanen als Ausgangspunkt der Schöpfung „eine" Kuh auftritt, indem man
die herabhängenden und sich euterartig zuspitzenden Wolken als Zitzen
fasste mid so auf die Vorstellung des betreffenden weiblichen Thieres kam ^ ).
Beiderlei Species treten dann wieder in der kretischen Sage auf, indem
bald Zeus als Stier mit der Europa, bald die Sonnentochter Pasiphae als
Kuh mit einem aus den (himmlischen) Wassern angeblich hervorgekom-
menen Stier buhlt.
Diesen einheitlich gefassten Bildern gegenüber stehen dann Sagen von
den „vielen" himmlischen Wolkenkühen, um die Indra kämpft, die Hermes
dem Apoll raubt, die Herakles dem Geryoneus entführt oder die nach altem
Märchen, das Homer unter die Abenteuer des Odysseus aufgenommen, dieser
Held oder vielmehr, nach der Version des Gedichtes, seine Begleiter dem
Sonnengotte stehlen und im Gewitterfeuer braten, wobei höchst charakte-
ristisch, wie ich gelegentlich darauf hingewiesen habe, die angeblich noch
sich bewegend(»n und brüllenden Felle der geschlachteten Thiere an die
ursprüngliche Gewitterscenerie, nehmlich an die fort und fort brüllenden
Gewitterwolken, als die Häute der himmlischen Wolkenkühe, erinnern.
In anderer Weise galten dann die zischenden und sich schlängelnden
Blitze als die züngelnden Häupter „eines" geflügelten himmlischen Drachens,
welcher der Sonne (oder dem Monde) aus Gefrässigkeit oder Liebes-
verlang(»n nachzustellen schien, oder der einzelne Blitz unter dem Bilde
„einer" Schlange als „ein" solches himmlisches Uiithier, in welches sich der
die Sonnenjun^i^rau bedrängendf^ Sturmesgott (Zeus, Faunus, Odhin) oder
umgekehrt das bedrängte Wesen (z. B. Thetis) gewandelt habcMi sollte, nach-
dem dasseUxs was die Gewitters(!enerie b(»stätigt, vorher vergeblich, um
sich dem Btnlränger zu entziehen, zu Wasser oder FeucT geworden war.
Die „Vi(»lheit" tritt dem gegenüber hier wieder z. B. in dem Bilde auf,
wenn die griechischen schlangenfüssigen Giganten, die Gewitterdämonen,
welche am Horizont aufsteigen, den Himmel stürmen wollen oder wenn in
der bei Indern, Griechen, Römern, Deutschen, sowie Letten hervor-
tretenden S(}ilangenven»hrung noch deutlich die nrsprüngliche Beziehung auf
jene in den Wolken wohnenden Hinimelsschlangen im Hintergrunde steht*).
1) lieber derartige Wolkenp«staltuiifr«*n als Zitzen siehe die von Laistnkr in seinen
>Je])elsagen 1879 S. 297 ]>eijjebrachten Stellen.
2) (Ursprung der Mjtliolojpe S. 43 ff. cf. von Scuroeder, Indiens Literatur und
Die rossgestaltigen HinimelsÃ